2.

Kapitel

Fünfundvierzig Minuten später bin ich auf dem Rückweg von der Miller-Farm, wo Sadie mit ihren Eltern und vier Geschwistern lebt. Ich kann ganz gut die Gedanken von Leuten lesen und bin ziemlich sicher, dass sie dachten, ich hätte Sadie das blaue Auge verpasst. Gerechtfertigt oder nicht, habe ich das wohl meinem Ruf bei den Amischen zu verdanken.

Ich hatte mir Mühe gegeben, den Vorfall so objektiv wie möglich darzustellen. Esther und Roy Miller hörten aufmerksam zu, doch das Misstrauen – oder war es sogar Argwohn? – in ihren Augen war nicht zu übersehen. Es gab mehr Schweigen als Fragen. Als ich schließlich ging, hatte ich starke Zweifel, ob sie mir überhaupt etwas von meiner Schilderung geglaubt haben.

Wäre es keine amische Familie gewesen, hätte ich mir anhören müssen, wie die Eltern ihr Kind verteidigten oder mit billigen Angriffen auf mich und mein Polizeirevier den Vorfall zu relativieren versuchten. Doch nicht so die Amischen. Bei ihnen gibt es keine Schuldzuweisungen, absurde Rationalisierungen oder den Versuch, einem anderen etwas in die Schuhe zu schieben. Amische Eltern sind generell streng zu ihren Kindern; Gehorsam wird schon in jungen Jahren eingeschliffen und nötigenfalls mit »einer Tracht Prügel« durchgesetzt.

Sadie ist über das Alter hinaus, in dem Prügel noch etwas bewirken. Doch ich zweifele nicht daran, dass sie für ihren Ungehorsam bestraft wird und wahrscheinlich unangenehme Hausarbeiten verrichten muss. Ich frage mich, ob das genügt.

Müde und mit den Gedanken noch immer bei Sadie, bin ich auf dem Weg zum Polizeirevier, um meinen abschließenden Tagesbericht zu schreiben, als sich das Mobiltelefon meldet. Mein leichter Missmut verwandelt sich umgehend in Freude, als ich Tomasettis Name auf dem Display sehe, und ich setze das Headset auf. »Guten Morgen, Agent.«

»Ich hab vorhin schon mal angerufen und da war nur die Mailbox dran. Ist alles in Ordnung?«

»Tut mir leid, ich war bei einem Einsatz.«

»Kühe einfangen?«

»Schlimmer«, sage ich. »Teenager.«

»Das ist schlimmer.«

»Bei Kühen weiß man wenigstens, wo man dran ist.«

»Und sie machen weniger Mist.«

John Tomasetti ist Agent im Bureau of Criminal Identification and Investigation – BCI – in Cleveland, Ohio. Wir haben uns vor eineinhalb Jahren kennengelernt, als er uns bei den Ermittlungen der Schlächter-Morde unterstützte. Es war eine turbulente Zeit für uns beide, nicht nur beruflich, sondern auch privat. Seine Frau und zwei Kinder waren erst neun Monate zuvor ermordet worden, was ihn fast umbrachte. Er nahm starke Medikamente, und gleichzeitig trank er viel. Diese Form der Krisenbewältigung führte dazu, dass seine Karriere den Bach runterging und sein Leben außer Kontrolle geriet. Vermutlich spielten sich auch noch andere Dinge ab, aber darüber hat er nie etwas verlauten lassen. Nun ja, viele Menschen haben ihre Geheimnisse, die sie nie preisgeben würden.

Es war mein erster großer Fall als Polizeichefin gewesen, wobei sich die Ermittlungen wegen eines viele Jahre zurückliegenden persönlichen Erlebnisses als sehr stressig erwiesen. Zudem waren die Morde äußerst brutal und schockierend – Albtraumnahrung. Doch irgendwie wurden Tomasetti und ich inmitten all des Grauens und Blutvergießens zuerst Verbündete, dann Freunde – und später ein Liebespaar. Am Ende hatten wir den verdammten Fall gemeinsam geknackt.

»Hast du überhaupt geschlafen?« Er weiß, dass ich die Nachtschicht hatte.

»Ich schreibe jetzt noch meinen Bericht und fahre dann nach Hause.« Im Stillen frage ich mich, ob er vielleicht kommen will – ob er das Wochenende frei hat und es mit mir zu verbringen gedenkt. Es ist schon einen Monat her, dass wir uns gesehen haben, und die Vorstellung lässt mein Herz höher schlagen. Doch ich ziehe sofort die Bremse, habe noch immer Probleme, einem Gefühl zu trauen, das einen mit solcher Kraft packt und so leicht daherkommt.

»Ich hab gerade einen neuen Fall auf dem Tisch«, sagt er, »und mich gefragt, ob du Interesse hast, in beratender Funktion daran mitzuarbeiten.«

Einen Moment lang bin ich zu überrascht, um zu antworten. Diese Anfrage ist mehr als ungewöhnlich. Ich bin Polizeichefin einer kleinen Stadt und verbringe normalerweise meine Tage damit, häusliche Auseinandersetzungen zu schlichten, bei Schlägereien einzuschreiten und gelegentlich einen Einbruch zu untersuchen. Also Kleinstadtkriminalität. Warum sollte er mich brauchen, wo ihm beim BCI viele erfahrene Mitarbeiter zur Verfügung stehen? »Es geht aber nicht um Kühe, oder?«, frage ich.

Er lacht. »Zwei vermisste Personen, aber das scheint mir noch nicht das Ende.«

»Das ist nicht gerade mein Spezialgebiet.«

»Wenn es um Amische geht, schon.«

Das macht mich neugierig. »Ich bin ganz Ohr.«

»Zwei Teenager werden vermisst, aus zwei verschiedenen Städten in einem Radius von hundert Meilen. Wir stellen gerade die Fakten zusammen, und ich fahre so schnell es geht hin, um die Familien zu befragen. Ich dachte, du könntest mir vielleicht dabei helfen.«

Die Kluft zwischen den Amischen und den Englischen ist größer als man denkt, dessen bin ich mir bewusst. Eine Kluft, die noch tiefer wird, wenn Polizei oder eine übergeordnete Behörde wie das BCI involviert sind. Meine persönlichen Kenntnisse der Amischen sowie die Tatsache, dass ich fließend Pennsylvaniadeutsch spreche, können dazu beitragen, diese Gräben zu überbrücken und es ihnen leichter machen, offen zu sprechen.

Ich halte vor der Butterhorn Bakery an, um mich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren. »Wo genau sind die Mädchen verschwunden?«

»Die letzte Vermisstenanzeige kam aus Rocky Fork, einer kleinen Stadt zirka fünfzig Meilen von Cleveland entfernt.«

Ich atme tief durch, will mich nicht allzu geschmeichelt fühlen. »Macht mich neugierig.«

»Neugierig genug, um herzukommen?«

»Jetzt gleich?«

»Die Zeit läuft uns davon. Am besten wär’s, wenn wir uns in Richfield treffen und gleich den bürokratischen Kram erledigen. Ich stelle dich den Anzugträgern vor, es gibt ein kurzes formelles Briefing, du musst ein paar Formulare unterzeichnen und bekommst einen befristeten BCI-Ausweis. Was hältst du davon?«

Auf einmal bin ich ganz aufgeregt. »Ich muss hier noch schnell ein paar Sachen regeln. Wann ist das Briefing?«

»Sobald du hier bist. Ruf mich an.«

Ich will ihm gerade eine ungefähre Zeit nennen, da hat er schon aufgelegt. So sitze ich ein paar Sekunden einfach nur da, dümmlich lächelnd und mit frischer Energie dank der Aussicht, für so eine angesehene Behörde zu arbeiten. Doch in Wirklichkeit hat mein Gefühl mehr mit John Tomasetti zu tun als mit dem BCI. Ob das gut oder schlecht ist, weiß ich nicht, nur dass es ehrlich ist, und ich beschließe, es nicht weiter zu analysieren.

Stattdessen überlege ich, was vor meiner Abfahrt noch alles zu erledigen ist. Ich muss mit dem Bürgermeister reden, mein Team informieren und dafür sorgen, dass jemand meine Schichten übernimmt. Was nicht einfach wird, da wir in Painters Mill chronisch unterbesetzt sind. Aber Skid – für den ich letzte Nacht eingesprungen bin – kommt heute zurück, und ich hätte laut Plan das Wochenende frei. Es kann also funktionieren.

An Schlafen ist natürlich nicht zu denken, und so aktiviere ich das Funkgerät. Mona meldet sich mit einem munteren: »Painters Mill Polizeirevier!«

»Hallo, ich bin’s.«

»Was gibt’s, Chief?«

»Ich möchte, dass Sie unsere Herren zu einem kurzen Briefing einbestellen.«

»Heute Morgen? Ist was passiert?«

Ich erzähle ihr von meiner Unterhaltung mit Tomasetti. »Nach Möglichkeit sollten alle in der nächsten Stunde eintreffen. Ich fahre kurz nach Hause, dusche und packe ein paar Sachen.«

* * *

Ich brauche eine Stunde, um zu duschen und genug Kleidung für ein paar Tage einzupacken. Ich bin wirklich kein Modefreak, muss aber ziemlich lange überlegen, was ich mitnehmen soll. Normalerweise trage ich mein Standardoutfit: die gute alte Polizeiuniform in schlichtem Blau und ein ledernes Schulterholster. Ohne jeden Schnickschnack. Nach drei Jahren als Polizeichefin identifiziere ich mich damit, zumindest was den Stil betrifft. Doch dieser Beraterjob entfernt mich Lichtjahre von meiner heimischen Wohlfühlzone. Und nicht zu vergessen John Tomasetti. Auch wenn ich mit Mode nicht viel am Hut habe, bin ich doch eine Frau und trotz meiner amischen Herkunft ein wenig eitel.

Ich entscheide mich für ein legeres Businessoutfit: khakifarbene Hose, schwarze Hose und Jeans, zwei Blazer, zwei Jacken, eine Bluse und ein paar schöne T-Shirts. Ich ärgere mich über mich selbst, weil ich so lange gebraucht habe, wo ich doch noch hundert Meilen fahren muss, verzichte deshalb auf Schmuck, werfe meine Toilettenartikel in die Tasche und eile zur Tür.

Auf dem Weg zum Revier rufe ich Bürgermeister Auggie Brock an, um ihm die Neuigkeiten zu unterbreiten. Natürlich nicht ohne hervorzuheben, wie sehr unsere Beziehung zu einer wichtigen überregionalen Polizeibehörde davon profitieren wird.

»Wie lange sind Sie weg?«, lautet erwartungsgemäß seine erste Frage.

»Ich bin nicht sicher«, antworte ich. »Zwei, drei Tage.«

Der Laut am anderen Ende zeigt mir, dass er nicht begeistert ist. Aber ihm ist klar, dass er nicht nein sagen kann, denn seit drei Jahren habe ich keinen Urlaub genommen und in den meisten Wochen auf meinen freien Tag verzichtet. Im Notfall habe ich also ein paar gute Argumente, dass er mich gehen lässt.

»Das ist dann aber Ihre Privatsache«, sagt er. »Sie müssen Ihren Urlaub dafür verwenden. Und natürlich können wir Ihnen keine Reisekosten erstatten, unser Budget ist sehr begrenzt.«

»Das BCI zahlt ein Tagegeld und die Auslagen.«

»Das ist gut.« Ich kann fast hören, wie er das Für und Wider abwägt und sich ein Worst-Case-Szenario vorzustellen versucht.

Eine unbehagliche Stille tritt ein. Ich überlege gerade, wie ich das Gespräch elegant beenden kann, als er das eine Thema anspricht, das ich gern vermieden hätte. »Vor Ihrer Abreise«, sagt er schließlich, »also, ich wollte Sie schon die ganze Zeit wegen Bradford anrufen. Wegen der Anklage.«

»Auggie –«

»Er ist minderjährig … ein gutes Kind, das noch das ganze Leben vor sich hat.«

»Wir haben schon alles dem Bezirksstaatsanwalt übergeben, das wissen Sie doch.«

»Sie könnten … die Klage zurückziehen.«

»Die Klage zurückziehen?«, wiederhole ich ungläubig seine Worte. Ich bin einiges von Auggie gewöhnt, aber das ist echt unverschämt. »Wir haben ihn mit Drogenbesteck und dreißig Gramm Marihuana erwischt. Er hat auf einen meiner Officer eingeprügelt, T. J. musste genäht werden, Auggie. Das kann man nicht ungeschehen machen.«

»Aber Sie müssen doch mildernde Umstände gelten lassen. Bradford war völlig durcheinander wegen –«

Ich kenne Bradford Brock nicht persönlich, habe aber den Polizeibericht gelesen. Der sogenannte »gute Junge« hatte genug Marihuana dabei, um damit sämtliche Highschool-Kiffer einen Monat lang zu versorgen. Und laut Bluttest war er randvoll mit Methamphetamin.

»Stress wegen einer Highschoolprüfung ist kein mildernder Umstand«, sage ich ihm.

»Hören Sie, ich kann nur schwer glauben, dass mein Sohn dreißig Gramm Marihuana bei sich gehabt haben soll. Vielleicht hat T. J. … überreagiert. Vielleicht könnten Sie seinen Bericht … korrigieren. Zumindest hinsichtlich der Menge.«

Das Gespräch hat eine Richtung eingeschlagen, die mir äußerst unangenehm ist und die ich nicht weitergehen will. »Ich finde, wir sollten diese Unterhaltung jetzt beenden.«

»Das kann ich nicht. Er ist mein Sohn.« Auggie stößt einen Seufzer aus. »Kommen Sie, Kate. Seien Sie kooperativ.«

»Was genau erwarten Sie von mir?«

»Nichts, was nicht auch sonst tagtäglich passiert.« Er hält inne. »Berichte gehen verloren, Beweismittel verschwinden, das passiert doch ständig. Es würde mir und meiner Frau ungeheuer viel bedeuten, wenn sich die ganze Sache in Luft auflöst.«

»Sie verlangen von mir, eine Grenze zu überschreiten, Auggie.«

»Kate, ich bin verzweifelt. Die ganze Angelegenheit ist ein einziger Albtraum. Wenn Bradford nicht als Minderjähriger, sondern als Erwachsener angeklagt und verurteilt wird, ist sein ganzes Leben ruiniert. Er gilt dann als vorbestraft.«

In dem Moment wird mir klar, dass ich diese Auseinandersetzung nicht gewinnen kann. Auggie Brock ist, zumindest indirekt, mein Boss. Doch er ist auch ein Vater, und ich weiß, dass Blut schwerer wiegt als Gesetzestreue.

»Herrgott nochmal, Kate! Catherine ist am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Sie hätten mich anrufen sollen, anstatt ihn zu verhaften! Warum haben Sie die ganze Sache nicht mir überlassen?«

»Ihnen überlassen?« Ich atme tief durch, schließe kurz die Augen, um mir bewusst zu machen, dass Auggie ein guter Mensch ist, der von jemandem, den er liebt, in eine grässliche Situation gebracht wurde. »Ich werde so tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.«

Die Leitung ist tot, bevor ich fertig bin.

Kopfschüttelnd werfe ich das Handy in die Konsole. Ich fühle mit Auggie und seiner Frau, aber ich werde auf keinen Fall einen Polizeibericht fälschen oder Beweismittel »verlieren«, damit sein großmäuliger Sohn ungeschoren davonkommt. Meiner Meinung nach könnte ein kurzer Aufenthalt in der Jugendstrafanstalt genau der Tritt in den Hintern sein, den der Junge braucht, um wieder auf die rechte Bahn zu kommen.

Ein paar Minuten später parke ich auf meinem Platz vorm Polizeirevier, einem hundert Jahre alten Backsteingebäude mit zugigen Fenstern, hämmernden Rohrleitungen und einer Reihe unerklärlicher, meist unangenehmer Gerüche. Mona und Lois haben an strategisch ausgewählten Stellen Lufterfrischer platziert, doch der Eingangsbereich riecht immer nach alten Rigipsplatten, morschem Holz und wahrscheinlich ein oder zwei toten Mäusen. Die Einrichtung erinnert an eine der frühen TV-Krimiserien, und ich meine nicht im Sinne von retro-cool, sondern von potthässlich. Vor ein paar Monaten hatte der Stadtrat zwar einen neuen Schreibtisch und Computer für die Telefonzentrale bewilligt, aber nur, weil der alte Computer buchstäblich in Flammen aufgegangen war.

Beim Betreten des Reviers nagt das Gespräch mit Auggie noch an mir. Mona Kurtz sitzt am Schreibtisch mit der Telefonanlage und starrt auf den Bildschirm, auf dem Kopf das Headset mit zur Seite gedrehtem Mundstück. Mit einer Hand steckt sie sich Weintrauben aus einem Plastikbeutel in den Mund, mit der anderen schiebt sie die Computermaus herum. Wie immer ist ihr Radio ein bisschen zu laut aufgedreht, und ihr Fuß wippt im Takt eines funkigen Stücks von Linking Park.

Ich steuere geradewegs auf sie zu, als sie den Kopf hebt. Sie schenkt mir ein kurzes Lächeln, schaltet das Radio aus und holt ein Bündel rosa Telefonmessages aus meinem Nachrichtenfach. »Sie sind heute Morgen eine gefragte Frau, Chief.«

»Und es ist noch nicht einmal zehn Uhr.«

»Schon mal überlegt, sich klonen zu lassen?«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, die Welt braucht mich nicht in doppelter Ausführung«, erwidere ich.

Ein burgunderroter Streifen links vom Scheitel kontrastiert ihr – heute – rabenschwarzes Haar. Sie trägt hautenge schwarze Hosen, ein knappes T-Shirt und einen blauen Schal, der wie eine Schlinge um den Hals liegt. Ihre Schuhe kann ich von meinem Platz aus glücklicherweise nicht sehen.

Ich blättere die Telefonnachrichten durch. Eine von Tomasetti, zwei von Auggie, sechs von Kathleen McClanahan. Einen Moment lang kann ich nichts mit dem Namen anfangen, doch dann wird mir klar, dass sie bestimmt Angi McClanahans Mutter ist. »Hat sie gesagt, was sie will?«

»Sie meinen, außer dass Ihr Kopf rollen soll?«

Das entlockt mir ein Lächeln. »Da ist sie nicht die Einzige, die das will.«

»Ich schwör’s, Chief, die Frau kann vielleicht fluchen. Ich hab mich gefühlt wie bei einer Auktion.«

»Dann haben wir ja was, worauf wir uns freuen können.« Ich gehe rüber zur Kaffeetheke. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn alle da sind.«

»Roger.«

Ich nehme mir eine Tasse von der Ablage, fülle sie randvoll mit Kaffee und trinke die Hälfte auf dem Weg in mein Büro, wo ich das Licht anknipse und von Toner- und Papierstaubduft empfangen werde. Der Raum ist kaum größer als ein begehbarer Wandschrank und vollgestopft mit einem Metallschreibtisch, einem Aktenschrank, zwei Besucherstühlen, einer halbtoten Birkenfeige und einem Bücherregal, auf dem eine kaputte Kaffeemaschine steht – das Ganze schlecht beleuchtet und mit einem schmuddeligen Fenster zur Main Street hinaus. Doch ungeachtet aller Unzulänglichkeiten, ist dies mein Zuhause außerhalb von zu Hause, und an den meisten Tagen bin ich richtig froh, hier zu sein.

Ich lasse meine Reisetasche neben der Tür fallen, gehe zum Schreibtisch und wähle die Nummer von Sheriff Rasmussen. Ich kenne den Sheriff jetzt fast ein Jahr. Er ist ein geradliniger Mann und ein guter Polizist. Wir haben schon ein paar Biere zusammen getrunken, sind aber auch einige Male aneinandergeraten. Letzten Dezember haben wir gemeinsam an einem Fall gearbeitet, bei dem eine vierköpfige Familie ihr Leben verloren hat. Es waren schwierige Ermittlungen gewesen, an deren Ende alle Beteiligten fassungslos zurückblieben, mich eingeschlossen. Für mich war es besonders hart gewesen, da ich zum ersten Mal in meiner Laufbahn als Polizistin einen Menschen töten musste. Noch heute macht mir das zu schaffen, meist in Form von Albträumen. An schlechten Tagen habe ich sogar Flashbacks von dem Moment, als ich abgedrückt habe, und jedes Mal frage ich mich dann, ob ich auch anders hätte handeln können.

Am anderen Ende der Leitung fordert mich Rasmussens Stimme auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Golfwetter, denke ich nur, und vermelde, dass ich für ein paar Tage die Stadt verlasse und er in der Zeit mal in Painters Mill vorbeischauen soll. Ich hinterlasse meine Handynummer und sage, dass er sich nötigenfalls an Glock wenden solle.

Ich habe kaum aufgelegt, als Mona durchruft, dass alle Mitarbeiter eingetroffen seien. Ich schalte meinen Computer ein, weil er ewig braucht, um hochzufahren, und mache mich auf zum Besprechungszimmer. Im Flur treffe ich Officer Chuck »Skid« Skidmore. Er ist etwa dreißig, unverheiratet, und sein Humor kommt bei vielen Bürgern nicht so gut an. Da seine vielversprechende Laufbahn bei der Polizei in Ann Arbor im Staat Michigan wegen außerdienstlicher Trunkenheit am Steuer ein abruptes Ende fand, hatte ich ihm bei der Einstellung unmissverständlich klargemacht, keine Sekunde mit seinem Rauswurf zu zögern, sollte er auch nur einmal betrunken im Dienst erscheinen; und dass ich dann alles daransetzen würde, ihn für alle Zeiten aus dem Polizeidienst zu entfernen. Er arbeitet jetzt seit drei Jahren hier, und wir hatten noch nie Probleme miteinander.

Vor acht Monaten traf ihn bei der Jagd auf einen Killer eine Kugel am Kopf, die glücklicherweise nicht in den Schädel eindrang und ihm nur eine klaffende Wunde und eine Gehirnerschütterung bescherte. Noch heute ziehen wir ihn gelegentlich wegen seines dicken Schädels auf, aber das steckt er locker weg. Und auch wenn er nicht gerade mein freundlichster Mitarbeiter ist, kann ich doch immer auf seine Rückendeckung zählen, wenn es einmal brenzlig wird.

»Wie war Ihre Reise?«, frage ich.

»Ungefähr zwei Tage zu lang.«

»Sie waren doch nur zwei Tage weg.«

»Eben.« Er grinst. »Danke, dass Sie für mich eingesprungen sind, Chief.«

»Ist mit Ihren Eltern alles okay?«

»Denen geht’s gut. Haben sich gefreut, mich zu sehen, ob Sie’s glauben oder nicht.«

»Die haben nur so getan als ob, Kumpel«, lässt eine tiefe Stimme verlauten.

Glock tritt neben Skid, und die beiden Männer begrüßen sich mit einem Handschlag. »Hat er Ihnen erzählt, dass er nach Michigan fährt?«, fragt Glock mich.

»Wer’s glaubt, wird selig«, murmelt Mona im Vorbeigehen.

»Wahrscheinlich hat er sich im Brass Rail die Kante gegeben«, sagt Glock grinsend. »Ich würde ihn feuern.«

»Wer wird gefeuert?«, ertönt eine raue Stimme von hinten, und wir drehen uns alle drei um.

Roland »Pickles« Shoemaker kommt angeschlurft, in den knorrigen Händen ein buntes Sortiment randvoller Kaffeetassen. Mit seinen fünfundsiebzig Jahren ist er mein einziger Hilfspolizist und arbeitet Teilzeit – wenn ich ihn dazu bewegen kann, nach dem Dienst nach Hause zu gehen. In den achtziger Jahren hatte er im Alleingang einen der größten Methamphetamin-Ringe im Staat hochgehen lassen. Inzwischen geht bei ihm zwar alles etwas langsamer, aber das macht er durch Erfahrung wett. Und wenn der Stadtrat keinen Druck auf mich ausgeübt hätte, würde er immer noch Vollzeit arbeiten. Doch einige der Ratsmitglieder hielten ihn für zu alt für den Polizeidienst, hauptsächlich wegen eines Einsatzes, bei dem er einen Hahn erschossen hatte. Es war zu einem mittleren Aufstand gekommen, nicht nur vonseiten des Hahn-Besitzers, sondern auch innerhalb der Gemeinde. Aber ich konnte Pickles nach fast fünfzig Jahren im Polizeidienst nicht einfach so in den Ruhestand schicken, und dann noch wegen eines toten Hahns. Bei einem privaten Treffen bat ich ihn, Teilzeit zu arbeiten, wobei er so tat, als wäre er froh, »nicht mehr so verdammt viele Stunden« schuften zu müssen. Doch ich weiß, dass er viel lieber im Zentrum des Geschehens mitmischen würde.

Obwohl er heute Morgen keinen Dienst hat, trägt er Uniform und seine nicht wegzudenkenden, auf Hochglanz polierten spitzen Cowboystiefel. Vermutlich wird er auch bei Sonnenuntergang noch am Schreibtisch seines Arbeitsplatzes sitzen …

»Niemand wird gefeuert«, sage ich.

»Gut«, knurrt er. »Hab in letzter Zeit nämlich keine verdammten Hühner erschossen.«

Ich gehe weiter ins Besprechungszimmer, wo ich meinen Kaffee ans obere Tischende stelle. Mona und auch Lois, ihre Kollegin in der Zentrale, sitzen bereits nahe der Tür, von wo aus sie das Telefon hören können.

»Wo ist T. J.?«, frage ich sie.

»Hier.«

T. J. erscheint in der Tür, flott und munter in seiner makellosen Uniform. Er ist der einzige Anfänger in unserem Team und muss einige Sticheleien über sich ergehen lassen, ist aber ein guter Kerl und nimmt seine Arbeit ernst. Wenn ich jemanden für Überstunden brauche, frage ich ihn zuerst.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Chief.«

Ich nicke. »Schon okay, ist – oder war – ja Ihr freier Tag.«

Er grinst und setzt sich neben Glock.

Ich lasse den Blick durchs Zimmer schweifen. »Auch ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie alle so kurzfristig zusammengetrommelt habe. Aber ich werde für das BCI in beratender Funktion tätig und deshalb ein paar Tage weg sein. Im Nordosten des Staates sind mehrere Personen verschwunden, und ich wurde um Hilfe gebeten, weil es sich um Amische handelt.«

Ein überraschtes Murmeln geht durch den Raum, ich spüre ihr Interesse und fahre fort, bevor sie mich mit Fragen überhäufen. »Bis jetzt ist noch nicht sicher, ob es einen Zusammenhang zwischen den vermissten Personen gibt, aber man vermutet es.« Ich sehe auf meine Uhr. »In ein paar Minuten muss ich weg.«

Ich sehe Glock an. »Sie tragen in meiner Abwesenheit die Verantwortung.«

Er tippt sich mit zwei Fingern salutierend an die Schläfe.

»Ich bin über Handy rund um die Uhr erreichbar, falls mich jemand braucht.« Stolz erfüllt mich beim Anblick meiner Mitarbeiter. »Bitte nach Möglichkeit niemanden erschießen.« Ich schenke Pickles ein Lächeln. »Auch keine Hühner.«

Toedliche Wut
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