Prolog

Becca hatte schon als Kind gewusst, dass ihr Leben einmal tragisch enden würde. Warum ihr das bereits so früh klar war und welches Schicksal sie erwartete, konnte sie nicht sagen. Doch sie glaubte an Vorsehung, und so war es keine Überraschung, als sie erkannte, dass sie auch jung sterben würde.

Mit sieben Jahren hatte sie ihre Mamm über den Tod ausgefragt. Wenn ein Mensch stirbt, hatte diese erklärt, kommt er zu Gott in den Himmel. Die Antwort gefiel Becca und spendete ihr großen Trost. Danach hatte sie nie wieder mit ihrem Schicksal gehadert, fürchtete weder die Nähe noch die Unausweichlichkeit des Todes.

Auch jetzt, acht Jahre später, als sie am vereisten Ufer des Mohawk Lake stand und über die riesige Eisfläche starrte, übten die Worte ihrer Mutter immer noch eine besänftigende Wirkung auf sie aus. Der Einbruch der Dämmerung tauchte den See in ein monochromes Licht, in dem Himmel und Horizont in einem grauen Band zusammenflossen und kaum noch voneinander zu unterscheiden waren. Mindestens ein Dutzend Hütten von Eisfischern waren über den zugefrorenen See verteilt, doch nur in einer brannte Licht. Alle anderen waren dunkel, die Englischen offensichtlich nach Hause gegangen.

Als Becca das Eis betrat, drang der Wind durch ihren Wollmantel bis auf die Haut. Schneegestöber toste flüsternd über die raue Oberfläche und stach ihr wie Sand ins Gesicht. Der steifgefrorene Saum ihres Kleides schürfte an ihren nackten Waden. Sie wanderte schon eine ganze Weile umher und konnte ihre Hände und Füße kaum mehr spüren. Aber das war belanglos. Sie würde bald zu Hause sein, hatte nicht mehr weit zu laufen.

Becca liebte diesen See, im Sommer wie im Winter. Als kleines Mädchen hatten sie und ihr Bruder Schlittschuhe von ihrem Datt bekommen und viele Winternachmittage mit Eishockeyspielen zugebracht. Im darauffolgenden Frühling lief sie schneller Schlittschuh als alle ihre amischen Freunde, und sogar schneller als ihr älterer Bruder. Dem hatte es nicht gefallen, von einem Mädchen vorgeführt zu werden. Aber ihr Datt hatte gelacht und in die Hände geklatscht und gesagt, sie könne fliegen. Ein Lob von ihm hatte Seltenheitswert und gab ihr stets das Gefühl, etwas Besonderes zu sein – sie wurde beachtet, und selbst ihre kleinen Leistungen waren bedeutsam.

Fortan hatte der See in ihrem Leben einen besonderen Platz eingenommen. Hier versteckte sie sich vor dem Rest der Welt, vor all ihren Problemen. Es war der Ort, an dem sie träumen lernte. Niemand konnte sie auf dem Eis einfangen. Niemand anfassen. Niemand konnte ihr weh tun.

Denn das hatte er getan.

Becca war neun Jahre alt gewesen und hatte auf einem Baumstumpf gesessen und ihre Schlittschuhe geschnürt, als ihr Bruder sie entdeckte. Er hatte sie runtergestoßen, mit dem Gesicht in den Schnee gedrückt und sie genommen, gleich dort am gefrorenen Ufer. Von da an hatte Becca gewusst, dass sie verdammt war.

Als ihre Mamm sie später nach der Schramme im Gesicht fragte, erzählte Becca, was ihr Bruder getan hatte. Und natürlich gab Mamm ihr die Schuld. Du hättest dich heftiger wehren sollen. Du hättest mehr beten müssen. Du solltest nicht so nachtragend sein. Am Ende hatte sie dann Becca aufgetragen, ihre Sünden dem Bischof zu beichten.

Die Erinnerung daran trieb Becca die Tränen in die Augen. Wieso war sie schuld am Verhalten ihres Bruders? Hatte sie ihn auf irgendeine Weise in Versuchung geführt? Stimmte mit ihr etwas nicht? Bestrafte Gott sie für die Unfähigkeit, ihm zu vergeben? Oder war das einfach das Los, das sie tragen musste?

Bei jedem Schritt über das Eis knirschte der Schnee unter ihren Füßen. Sie war fast in der Mitte des Sees, als sie über einen Hubbel stolperte und hinfiel. Die Kälte schnitt ihr wie tausend Rasierklingen in Hände und Knie. Es war dumm zu weinen, doch sie konnte nicht anders. Sie hatte gedacht, dass sie keine Angst haben und sich auch nicht so alleine fühlen würde.

Eine kleine Stimme sagte ihr, dass sie immer noch umkehren konnte. Zu Hause in ihrem Dachzimmer wartete ein warmes Bett auf sie, und Mamm und Datt mussten ja nicht erfahren, dass sie weg gewesen war. Doch Becca wusste, dass es zu Hause andere Dinge gab, schlimme Dinge, die ihr seit ihrem dritten Lebensjahr passierten, als ihr Bruder seine Hand in ihren Schlüpfer geschoben und gesagt hatte, sie solle ja nicht schreien.

Becca wusste, dass das, was sie vorhatte, eine Sünde war. Doch sie wusste auch, dass Gott ihr vergeben würde. Dass er sie mit offenen Armen im Himmel empfangen und bis in alle Ewigkeit bedingungslos lieben würde. Wie also konnte es dann verkehrt sein?

Sie stand auf und sah sich um. Die Uferbäume waren kaum noch zu erkennen. Nicht weit vor ihr schimmerten die Umrisse einer Eisfischerhütte wie eine Fata Morgana aus schwindendem Licht. Sie klopfte den Schnee von ihrem Mantel und ging auf das Häuschen zu. Es war aus Holz, mit einem Fenster und einem Blechrohr als Schornstein und erinnerte sie an eine hohe, schmale Hundehütte. Sie wusste, dass die englischen Fischer manchmal hier draußen übernachteten. Aber in der hier leuchtete kein verräterisches Laternenlicht, und kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Da war niemand drin. Mehr wollte sie gar nicht.

Becca kämpfte sich durch eine tiefe Schneewehe zur Tür. Am Riegel hing ein offenes Vorhängeschloss. Zitternd vor Kälte, zog sie die Tür auf. Drinnen war es dunkel und still; die Luft roch nach Petroleum und Fisch. Außer dem Wind war nur noch das Knacken des Eises unter ihren Füßen zu hören. Weiße Atemwölkchen schwebten vor ihrem Gesicht, als sie die mitgebrachte Kerze und die Streichhölzer aus der Tasche holte und den Docht anzündete. Im Schein des Lichtes sah sie Sperrholzwände, eine kleine Sitzbank und ein mit Fischblut und silbernen Fischschuppen bedecktes Regal mit einer Laterne drauf. An der Wand hing ein aufgewickeltes Seil.

Becca ging zum Regal, stellte die Kerze neben die Laterne, drehte sich um und betrachtete den Fußboden. Das Loch zum Fischen war mit einer Sperrholzplatte abgedeckt. Sie beugte sich und zog das Holz weg. Das Loch war ungefähr einen halben Meter groß und mit einer frischen Eisschicht überzogen.

Sie blickte sich nach etwas um, womit sie das Eis aufbrechen könnte, sah zunächst nur einen kaputten Ziegelblock, eine Plastikbox mit Fischhaken und leere Bierdosen. Doch dann fiel ihr Blick auf den Handschneckenbohrer. Sie kniete neben dem Loch und durchbrach damit die dünne Eisschicht.

Als das Loch ganz frei war, ging Becca zu der Bank und nahm das Seil vom Haken. Es war ungefähr dreieinhalb Meter lang und an beiden Enden ausgefranst. Mit zitternden Händen band sie sich das eine Ende um die Taille und verbot sich jeden weiteren Gedanken, als sie das andere am Betonblock befestigte.

Wieder kniete sie neben dem Loch im Eis, senkte den Kopf und sprach leise das Vaterunser. Sie bat Gott, sich um ihre Mamm und ihren Datt zu kümmern, dass er ihren Kummer in den folgenden Tagen lindern möge. Sie bat Ihn, ihrem Bruder all das zu vergeben, was er ihr fast das ganze Leben lang angetan hatte. Und schließlich bat sie Gott um die Vergebung der Sünde, die sie gleich begehen würde. Sie schloss die Augen und betete so inbrünstig wie nie zuvor in ihrem Leben, hoffte, es würde genügen.

Schließlich erhob Becca sich, nahm das Seil und ließ den Ziegelblock hinab ins Wasser, sah zu, wie er in den schwarzen Tiefen verschwand. Sie dachte an die Reise, die vor ihr lag, und ihre Brust schwoll an, nicht aus Angst, sondern aus der Gewissheit heraus, dass bald alles in Ordnung sein würde.

Sie schloss die Augen, trat einen Schritt nach vorn und ließ sich ins Wasser fallen.

Toedliche Wut
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