16.
Kapitel
Mit das Schwierigste bei länger andauernden Ermittlungen ist es zu wissen, wann man nach Hause gehen sollte. Und dass das Leben eines Menschen in Gefahr ist, macht diese Entscheidung nicht leichter. Aber es ist selbstzerstörerisch, die Erschöpfung zu ignorieren, jeder Mensch braucht Schlaf. Doch ich habe immer das Gefühl, das Opfer im Stich zu lassen, wenn ich Feierabend mache. In Wirklichkeit weiß ich nämlich nicht, wie das geht, nicht Polizistin zu sein. Wie ich nach Hause gehen, essen oder schlafen oder auf dem Sofa sitzen und fernsehen soll, wenn das Leben eines jungen Mädchens davon abhängt, dass ich es finde.
Die Antwort gibt das menschliche Durchhaltevermögen. Niemand kann über einen längeren Zeitraum rund um die Uhr arbeiten, und wer es versucht, kommt an den Punkt, wo er ineffektiv wird, oder schlimmer, den Ermittlungen sogar schadet. Es ist der Punkt, an dem Erschöpfung und Emotionen den Entscheidungsprozess lähmen, Reaktionszeiten vermindern und den guten alten gesunden Menschenverstand außer Kraft setzen. Ich gebe es ungern zu, aber ich kenne den Zustand, habe ihn schon selbst erlebt, und auf seine Auswirkungen bei früheren Fällen bin ich ganz bestimmt nicht stolz. Die einzige positive Erfahrung dabei war, dass ich meine Grenzen kennengelernt habe.
Es ist fast ein Uhr morgens, als ich mein Haus betrete und von stickiger Luft und dem Geruch der überreifen Bananen auf der Küchenablage empfangen werde.
Ich knipse das Licht an, bringe meine Reisetasche ins Schlafzimmer und lasse sie vor dem Wandschrank fallen. Doch während ich mich erschöpft ausziehe und meine Kleidung in den Wäschekorb werfe, während sich mein Körper nach Schlaf sehnt, gibt mein Kopf keine Ruhe. Und ich weiß, dass ich nicht so schnell einschlafen werde.
In der Dusche drehe ich das Wasser so heiß, dass ich es gerade noch aushalten kann. Ich seife mich zweimal ein, weil ich mehr abzuwaschen versuche als den Schmutz des Tages. Ich hatte mir vorgenommen, sachlich und ohne Emotionen an Sadie zu denken, mich nicht mit der Vorstellung zu quälen, wie die ganze Sache ausgehen könnte und was Sadie vielleicht gerade durchmachte.
Doch jetzt, wo ich allein bin mit meinen Gedanken, stürmen sie wie wilde Bestien auf mich ein. Ich kann nicht anders, als Sadies Verschwinden und den Mord an Annie King im Zusammenhang zu sehen. Und die Möglichkeit, dass Sadie genauso enden könnte, bereitet mir richtig Angst. Wird gerade wieder viel zu früh ein weiteres junges Leben ausgelöscht? Eine weitere Familie zerstört? Das darf ich nicht zulassen, an etwas anderes kann ich nicht denken.
Im Schlafzimmer schlüpfe ich in mein altes T-Shirt aus Polizeiakademie-Zeiten und in eine Jogginghose, gehe barfuß in mein Arbeitszimmer und stelle den Computer an. Während er hochfährt, hole ich meinen Autoatlas, blättere zur Landkarte von Nord-Ohio und reiße zwei Seiten heraus, hefte sie nebeneinander an die Korktafel an der Wand schräg vor meinem Schreibtisch. Mit einem schwarzen Marker male ich einen Kreis um jeden Ort, wo ein Teenager verschwunden ist: Monongahela Falls. Sharon, Pennsylvania. Rocky Fork. Buck Creek, Painters Mill. Dann schließe ich alle Städte in einem großen Kreis ein.
Ich beuge mich über den Schreibtisch, nehme einen roten Filzstift und wende mich wieder der Karte zu. Buck Creek, wo Stacy Karns, Gideon Stoltzfus und Justin Treece wohnen, bekommt einen roten Kreis, genauso wie Salt Lick, wo Frank Gilfillan und seine Kirche der zwölf Wege sind. Ich schließe beide Orte in einem größeren Kreis zusammen und setze mich an den Schreitisch.
Starre die Landkarte an. Die beiden großen Kreise überschneiden sich weiträumig. Alle Städte, die Wohnorte der Opfer und der Verdächtigen, liegen innerhalb eines hundert Meilen großen Radius, in dieser ländlichen Gegend hier also keine zwei Autostunden voneinander entfernt. Gut möglich, dass der Mörder irgendwo in dem Gebiet lebt, wo sich die beiden Kreise überschneiden.
»Warum machst du das?«, flüstere ich, wende mich um und schreibe auf die Weißwandtafel: Warum?, unterstreiche das Wort zweimal. Dann: »Keine Lösegeldforderung. Sexueller Hintergrund? Fetisch-Motiv?« Ich denke an Annie und Sadie und schreibe: »Leichte Opfer? Ausreißer?« Dann füge ich hinzu: »Blut an potentiellen Tatorten.«
»Wo sind sie alle?« Ich denke jetzt laut, lasse meinen Gedanken freien Lauf, gestatte mir unzensierte Einfälle und unausgegorene Theorien. »Warum haben wir Annie Kings Leiche gefunden und die der anderen nicht?«
Ich ziehe mitten auf der Tafel einen dicken horizontalen Strich, unterteile sie so in zwei Hälften. Unter die Linie schreibe ich: »Verdächtige: Stacy Karns, Frank Gilfillan, Gideon Stoltzfus, Justin Treece.« Und zum Schluss: »Unbekannter Täter.«
»Wir kennen dich noch nicht«, sage ich und male einen Kreis um »Unbekannter Täter.« Daneben schreibe ich: »Motiv?« Und: »Warum?«
»Warum entführst du sie?«, sage ich laut, schreibe: »Kennen wir das Motiv, finden wir den Täter.«
* * *
Klopfgeräusche holen mich aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Adrenalin durchflutet meinen Körper, und ich sitze aufrecht im Bett. Eine Sekunde lang bin ich verwirrt, kann das Geräusch nicht zuordnen. Dann wird mir klar, dass jemand an der Tür ist. Doch warum hat er oder sie nicht geklingelt? Hintertür, denke ich, aber noch etwas anderes ist merkwürdig, und beim Blick auf den Wecker weiß ich auch, was: Es ist drei Uhr morgens. Besucher um diese Zeit bringen meistens schlechte Nachrichten mit.
Ich reiße den Morgenmantel vom Stuhl neben dem Bett, ziehe ihn über und verknote den Gürtel. Dann nehme ich meine .38er aus der Nachttischschublade, entsichere sie und gehe barfuß zur Küche, schleiche zur Tür und spähe durch die Gardine.
John Tomasetti steht mit den Händen in der Tasche da und blickt hinaus in den Garten, als wäre sein nächtliches Erscheinen hier das Natürlichste der Welt.
Ich entriegele das Schloss und mache die Tür auf. »Erzähl mir jetzt nicht, dass du gerade in der Gegend warst.«
Er dreht sich zu mir um, die Hände weiter in den Taschen, das Gesicht ausdruckslos, und eine Schrecksekunde lang fürchte ich, er hat schlimme Nachrichten für mich. »Genaugenommen bin ich wider besseres Wissen und ohne meine Vorgesetzten zu informieren hundert Meilen gefahren, um mit dir zu schlafen.«
Mein Lachen klingt nervös. »Wow, das ist echt subtil.«
»So bin ich nun mal, Mr Subtil.« Seine Lippen bewegen sich kaum, doch ich sehe das Lächeln in seinen Augen. »Ich wollte schon immer mal in einem rosa Plüschmantel empfangen werden. Passt gut zur .38er.«
Verlegen sehe ich an mir hinunter auf meinen fadenscheinigen Bademantel, dann halte ich die Tür auf. »Tomasetti, du bist ein ausgemachter Mistkerl.«
»Klar, aber du freust dich trotzdem, mich zu sehen.«
Tatsache ist, dass er ziemlich klasse aussieht, so wie er da steht. Kein guter Indikator für eine kluge Weiterentwicklung dieser nächtlichen Stunden.
Ich winke ihn mit einer Handbewegung ins Haus. »Ist alles in Ordnung?«
»Wir machen definitiv Fortschritte.«
Er hat kaum die Küche betreten, da ist der ganze Raum von ihm erfüllt. Es ist, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen und ich davon bis ins Innere durchdrungen.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagt er. »Es ist momentan bestimmt schwer, Schlaf zu finden.«
»Das ist es immer, wenn wir zusammen sind.«
»Ich hab den Fall gemeint.«
»Darauf trifft’s auch zu.« Als ich mich umdrehe, sehe ich gerade noch, wie er mich von oben bis unten betrachtet. Doch ich zwinge mich zur Zurückhaltung, lege die Waffe auf den Küchentisch und knipse das Licht an.
»Gibt’s was Neues in dem Fall?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf, tritt an den Tisch, zieht die Jacke aus und hängt sie über den Stuhl. Dann zieht er seine Glock aus dem Schulterholster, schnallt das Holster auf und legt beides auf den Tisch. »Wir haben den Durchsuchungsbeschluss für Stacy Karns’ Haus bekommen, aber als der Richter ihn schließlich unterzeichnet hatte, war es zu spät, um noch hinzufahren. Der Sheriff hat die Durchsuchung für morgen früh angesetzt.« Er hebt den Kopf und sieht mich an. »Ich muss sehr früh raus.«
»Es ist bereits sehr früh«, sage ich.
»Ich muss ein paar Stunden totschlagen.«
»Wo hast du nur das Süßholzraspeln gelernt.«
»Das wollen alle Polizeichefinnen wissen.«
Ich kenne Tomasetti jetzt seit eineinhalb Jahren. Nach einer schwierigen Anfangsphase wurden wir Freunde – was für uns beide nicht gerade die natürlichste Sache der Welt ist. Vielleicht, weil wir so viel gemeinsam haben. Oder aber, weil diese Gemeinsamkeiten nicht nur Gutes betreffen.
Vertrauen ist für Menschen wie uns eine schwierige Angelegenheit. Aber er ist so ziemlich der beste Freund, den ich je hatte. Gesprochen haben wir nie darüber, denn Tatsache ist nun einmal, dass wir für eine Mann-Frau-Beziehung nicht gerade gebacken sind. Zudem ist unsere Kommunikationsfähigkeit absolut unterentwickelt, besonders in Bezug auf unsere Gefühle. Für uns ist das alles Neuland, aber es gefällt mir. Und er kommt immer wieder zurück für mehr, und ich lasse es immer wieder zu.
Ich gehe ins Wohnzimmer und schalte den CD-Player an. Ich habe Musik schon immer geliebt, auch als Amische, aber damals gehörte sie zu den verbotenen Früchten. Einmal bin ich sogar heimlich in ein Einkaufszentrum gegangen und habe dort aus dem Wagen eines englischen Mädchens einen CD-Player und mehrere CDs gestohlen. Ich konnte einfach nicht genug davon kriegen und hab mir die Songs immer wieder angehört, bis mein Datt mich schließlich dabei erwischte und zwang, alles zurückzugeben. Doch in meinem Erwachsenenleben gibt es momentan viel zu wenig Musik. Ich wähle einen Song von Frank Sinatra, Fly Me to the Moon, und werde sofort ruhiger.
Auf dem Weg zurück in die Küche sehe ich Tomasetti in der Tür zu meinem Arbeitszimmer stehen, er betrachtet mein nächtliches Werk auf der Landkarte und Tafel. Als ich neben ihn trete, sieht er mich an. »Du warst fleißig«, sagt er.
»Konnte nicht schlafen.«
Er blickt wieder zu der Weißwandtafel. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es jemand, den wir noch gar nicht kennen.«
Wir stehen schweigend nebeneinander, beide den Blick auf die Tafel geheftet. »Ich glaube, wir übersehen da was«, sagt er schließlich.
»Zum Beispiel?«
»Das weiß ich noch nicht.« Er liest laut vor, was ich auf die Tafel geschrieben habe. »Kennen wir das Motiv, finden wir den Täter.« Er dreht sich zu mir um. »Wobei die alles beherrschende Frage ist: Warum Amische?«
»Nicht einfach Amische«, erinnere ich ihn. »Junge Amische, die über ein Leben außerhalb der Glaubensgemeinschaft nachdenken.«
Er nickt. »Wer würde sich dadurch angegriffen fühlen? Ich meine, so sehr, dass er zu solch extremen Maßnahmen greift?«
»Jemand, der absolut gottesfürchtig ist«, kommt es spontan aus mir heraus. »Jemand, der nicht mit ansehen kann, wie diese Jugendlichen leben – der glaubt, dass sie bestraft werden müssen.« Ich sehe Tomasetti an. »Frank Gilfillan und seine Kirche der zwölf Wege.«
»Will er sie bestrafen? Rekrutieren? Oder erlösen?«
»Vielleicht alles zusammen.«
»Die Verwirrung dieser amischen Teenager hinsichtlich ihres Glaubens macht sie also anfällig. Davon profitiert Gilfillan, so findet er sie.«
»Vielleicht wollte Annie King sich nicht rekrutieren lassen«, stelle ich als Möglichkeit in den Raum.
»Das könnte passen«, sagt Tomasetti.
»Gilfillan kommt mir als Täter immer wahrscheinlicher vor«, sage ich. Am liebsten würde ich morgen früh mit Tomasetti nach Buck Creek zurückfahren, um bei der Hausdurchsuchung dabei zu sein. Aber solange Sadie vermisst wird, kann ich nicht hier weg, zumal das letzte vermisste Mädchen tot aufgefunden wurde.
Bilder von Sadie gehen mir durch den Kopf, wie ich sie vor ein paar Tagen auf der Brücke gesehen habe, mit dem hautengen Top, den langen, braungebrannten Armen und dem einnehmenden, kein bisschen schüchternen Lächeln. Sadie mit einer Bierdose in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen. Sadie, wie sie sich mit der Hingabe einer geborenen Straßenkämpferin im Dreck wälzt und Schläge austeilt.
»Tomasetti, ich habe Angst, dass dem Mädchen was passiert«, sage ich leise.
»Ich weiß.«
»Sadie ist …« Ich weiß nicht, wie ich den Satz beenden soll. Fast hätte ich »etwas Besonderes« gesagt, doch ich weiß, dass alle etwas Besonderes sind. Alle sind Töchter oder Söhne, Brüder oder Schwestern. Alle werden von jemandem geliebt.
»Wir werden ihn kriegen«, sagt er.
»Sie ist rebellisch. Sie wird sich nichts gefallen lassen.« Ich starre auf die Weißwandtafel, erkenne die Worte nicht länger. »Sie hat vielleicht nicht mehr viel Zeit.«
»Kate, wir tun, was wir können.«
Das ist auch so etwas, das ich an Tomasetti bewundere: Er würde niemals versuchen, mich mit falschen Hoffnungen aufzurichten. Er wird niemals Versprechungen machen, die er nicht halten kann, auch wenn ich sie noch so sehr hören will.
Er kommt zu mir. »Ich weiß, was du denkst.«
Ich lächele, aber es fühlt sich gezwungen an. »Dass ich wünschte, ich hätte nicht Enthaltsamkeit gelobt?«
Er ist mir jetzt so nahe, dass ich vage sein Aftershave wahrnehme und die Hitze spüre, die er ausstrahlt. Ich sehe die Stoppeln an seinem Kinn, die geröteten Augen wegen zu wenig Schlafs und zu vielen Stunden im Auto.
Er runzelt die Stirn, blickt mich dabei liebevoll an. »Du machst dir Vorwürfe, weil du nicht bei den anderen da draußen bist und nach ihr suchst.«
Am liebsten würde ich ihm widersprechen, aber er hat ja recht. »Soll ich mich auf die Couch legen, damit du mich fragen kannst, was ich dabei fühle?«
»Was ich jetzt sage, mag für dich eine echte Überraschung sein, Kate, aber was wir beide jetzt brauchen, ist Schlaf und eine Auszeit, so wie alle anderen auch.«
»Du willst mir aber jetzt nicht erzählen, dass wir Menschen sind, oder?«
Er schenkt mir ein mattes Lächeln, doch seine Augen bleiben ernst. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass wir morgen früh losgehen und sie finden und nach Hause bringen werden. Dass wir den Kerl kriegen. Aber wir beide wissen, dass es manchmal auch anders kommt.«
Als ich den Kopf abwende, legt er die Finger unter mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. »Doch eines kann ich dir versichern, nämlich dass wir unser Bestes tun. Und das muss reichen.«
Ich hatte nicht beabsichtigt, ihn anzufassen, so zerrissen und schuldig wie ich mich fühle. Doch auf einmal stehe ich da, spüre seinen Mund auf meinen Lippen und schlinge die Arme um seine Schultern. Die Macht des Kusses macht mich ganz schwindlig. Die Intensität, mit der mein Körper zum Leben erwacht, überrascht mich. Ich werde von einer Sturzflut mitgerissen und verliere die Kontrolle …
Er umfasst meine Oberarme, und einen Moment später spüre ich die Wand in meinem Rücken, sein Mund streift über meinen Hals, seine Hände fummeln an meinem Gürtel, und mein Morgenmantel öffnet sich. Er umfasst meine Brüste, und ich stöhne, als seine rauen Hände das zarte Fleisch streicheln, kriege kaum Luft.
Irgendwo in meinem Hinterkopf schreit eine kleine Stimme, dass etwas, das so schön ist, niemals real oder wahr oder von Dauer sein kann.
Ich ignoriere diese Stimme.
Ich bin schon halb nackt, als mir klar wird, dass ich sofort handeln muss, wenn wir nicht auf dem Fußboden oder dem Schreibtisch landen wollen – keine attraktiven Orte für Liebesspiele.
Ich entziehe mich ihm, nehme seine Hand, und wir stolpern den Flur entlang in mein Schlafzimmer, wo ich den Morgenmantel auf den Boden fallen lasse, mich ins Bett lege und zusehe, wie er hastig Hemd und Hose auszieht.
Als er zu mir ins Bett gleitet und mich in die Arme nimmt, verspüre ich jenes vertraute Hochgefühl, das nur als reine Wonne beschrieben werden kann. Die Angst um Sadie Miller, der Tod von Annie King und die Ermittlungen, die sich so schwer gestalten, treten in den Hintergrund. Und für kurze Zeit blenden wir den Rest der Welt aus, nehmen Zuflucht in unseren Umarmungen und dem sicheren Hafen, den wir uns gemeinsam geschaffen haben.
* * *
Als ich aufwache, steht Tomasetti nackt neben dem Bett, die Haare noch nass vom Duschen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe.
»Was machst du da?«, frage ich und recke mich.
»Ich muss weg«, flüstert er. »Schlaf weiter.«
»Wie viel Uhr ist es?«
»Fast fünf. Ich bin spät dran.«
Aber er setzt sich neben mich aufs Bett, ich kuschele mich an seine Schulter, genieße seine Wärme, seinen Arm um mich, den Geruch von Seife und Aftershave und seinen ganz eigenen Körperduft.
»Wir haben nie genug Zeit«, sagt er.
»Du schleichst dich immer mitten in der Nacht davon.«
»Gezwungenermaßen. Du hast mir gefehlt.«
Sein ernster Ton überrascht mich. Auf den Ellbogen gestützt, sehe ich ihn an. »Geht mir genauso.«
»Wir könnten unsere Beziehung ja ein bisschen verbindlicher gestalten.«
Ich bin so schockiert, dass ich einen Moment lang sprachlos bin. »Wie meinst du das?«, sage ich schließlich.
Jetzt lacht er, was mich überrascht. »Um Himmels willen, Kate, guck nicht so entsetzt.«
»Mach ich ja gar nicht.« Ich boxe ihn sanft an die Schulter.
Er wird ernst, senkt den Kopf, dann sieht er mich wieder an. »Ich habe ein Haus gefunden«, sagt er. »In Wooster. Es ist alt und groß, mit fünf Zimmern und einer Scheune, auf zwei Morgen Land inklusive Teich und einer Menge Bäume.«
Was er sagt, trifft mich wie eiskaltes Wasser im Gesicht. »Wooster?«, wiederhole ich dümmlich, während mein Verstand die Bedeutung seiner Worte zu erfassen versucht.
»Es ist knapp eine Stunde vom Büro in Richfield entfernt, also kein Problem für mich. Und dreißig Minuten von Painters Mill.«
»Du willst ein Haus kaufen?«
»Ich will mit dir zusammenleben«, sagt er bestimmt und schaut mir direkt in die Augen. »Das Haus ist egal, Kate. Es ist egal, wo wir wohnen. Wir können auch was mieten. Was immer du willst.«
»Das ist ein großer Schritt, Tomasetti.«
»Stimmt. Aber was wir haben, ist gut.« Sein Gesichtsausdruck wird weicher, und er drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. »Du siehst aus, als wolltest du gleich weglaufen.«
Ich will lachen, doch meine Kehle ist zu trocken. »Ich wusste nicht, dass du darüber nachdenkst … mit mir zusammenzuziehen.«
»Dann könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen.« Er zuckt die Schultern. »Weniger Fahrerei für mich.«
»Mehr Zeit für Sex«, sage ich lachend.
»Zum Beispiel.«
Ich starre ihn an, muss erst einmal verdauen, was er mir da gerade aufgetischt hat. Die Vorstellung, mit dem Mann zusammenzuleben, den ich bewundere und anziehend finde, der eine so große Rolle in meinem Leben spielt, ist aufregend und schmeichelhaft. Aber ich habe auch Angst vor der Veränderung, und dass etwas Ungewolltes in die Beziehung mit einfließt, die gut ist, so wie sie ist.
Tomasetti hat mein Leben auf eine Weise bereichert, die ich mir nicht einmal habe vorstellen können – die ich nie für möglich gehalten hätte. Seinetwegen bin ich ein besserer Mensch geworden, ich gebe mir mehr Mühe, weil es mir wichtig ist, vor ihm zu bestehen. In einer Welt, die mit Freundschaft und Vertrauen geizt, habe ich eine Quelle von beidem gefunden, verkörpert in einem Mann, bei dem ich das nie für möglich gehalten hätte.
Ich habe noch nie einen Mann so geliebt, und zwar in jeder Beziehung. Auch die Seite von ihm, die versehrt ist, komplex und schwierig.
Liebt er mich auch? Er hat es nie ausgesprochen. Er hat mir nie gesagt, wie es um seine Gefühle steht. Aber ist denn so eine Aussage die Vorbedingung fürs Zusammenziehen? Darauf weiß ich keine Antwort.
Was ich jedoch weiß, ist, dass Tomasetti vor drei Jahren, als seine Frau und Kinder ermordet wurden, höllische Qualen durchlitten hat. Er ist einen langen, beschwerlichen Weg gegangen, um sich so gut es eben geht von diesem Schicksalsschlag zu erholen. Doch ist er auch schon wieder fähig, eine andere Frau zu lieben?
»Du musst offensichtlich schwer nachdenken«, sagt er.
»Ich möchte nichts vermasseln.«
»Da gibt es nichts zu vermasseln«, erklärt er. »Ist doch ganz einfach. Entweder du willst mit mir zusammenleben oder nicht.«
»Ganz so schwarz und weiß scheint es mir dann doch nicht«, erwidere ich. »So wie es momentan ist, ist es gut. Und das will ich nicht kaputtmachen.«
Er beugt sich vor, streicht mir mit den Lippen über die Wange und gleitet vom Bett. »Du brauchst dich nicht in den nächsten zehn Sekunden zu entscheiden. Ich muss los.«
Ich sehe ihm zu, wie er in Hemd und Hose schlüpft. »Tomasetti –«
»Ich hab den Mietwagen draußen in der Einfahrt geparkt.« Er knöpft Hemd und Manschetten zu, sieht mich dabei nicht an. »Ich brauche den Tahoe –«
»Der Schlüssel ist auf der Ablage neben dem Kühlschrank.« Ich setze mich auf, nehme meinen Morgenmantel vom Fußende des Bettes und ziehe ihn über.
»Schlaf weiter.« Er geht zur Tür hinaus.
»Tomasetti.« Ich folge ihm barfuß, verknote den Gürtel im Gehen. »Wir müssen darüber reden.«
Ich hole ihn in der Küche ein, als er gerade den Schlüssel von der Ablage nimmt. »Ich hab’s kapiert, Kate. Ist okay.«
»Ich bin furchtbar in solchen Dingen«, erkläre ich unbeholfen. »Ich bin ein Feigling.«
»Nein, das bist du nicht.« Er macht die Tür auf, bleibt mit dem Rücken zu mir stehen. »Beides nicht. Ich muss gehen.«
»Ich muss wissen, ob zwischen uns alles okay ist«, sage ich.
»Ist es«, antwortet er und zieht die Tür hinter sich zu.