15.

Kapitel

Die Familie Reiglesberger betreibt eine kleine Pferderanch an der County Road 14, nahe einer Haarnadelkurve. Sie züchten Appaloosas und nehmen Pensionspferde auf, deren Besitzer keine eigenen Stallungen haben. Über die Jahre bin ich Elaina Reiglesberger einige Male begegnet, aber mehr als gegrüßt haben wir uns nie. Von ihr weiß ich nur, dass sie Reitunterricht für Kinder und therapeutisches Reiten für behinderte Kinder anbietet.

Ich fahre an einem großen Mobilheim vorbei und parke beim Pferdestall hinter Rasmussens Streifenwagen. Obwohl das Gebäude alt ist, einen neuen Farbanstrich braucht und die Fallrohre rostig und verbeult sind, macht die Farm insgesamt einen gepflegten Eindruck.

Als ich aus dem Tahoe steige, kommen zwei Hunde einer undefinierbaren Rasse mit hängender Zunge angelaufen. Ich beuge mich vor und streichele sie, werde im Gegenzug mit feuchten Küssen überhäuft. Die Schiebetür des Stalls steht offen, und ich kann die Umrisse mehrerer Menschen und von mindestens einem Pferd im Gang erkennen. Ich wische meine vollgesabberten Hände an der Hose ab und gehe zur Tür, wo mich der Geruch von Pferden und Dung und Heu empfängt.

Fünf Köpfe drehen sich in meine Richtung. Sheriff Rasmussen ist umringt von mehreren jungen Mädchen in Reithosen und Helmen und einer kompetent wirkenden Frau in Jeans und gelbem Poloshirt. Das auf der Stallgasse angebundene Pferd mit dem glänzenden rotbraunen Fell sieht aus, als würde es den Tumult um sich herum genießen, wobei ich mir gut vorstellen kann, dass auch die Tüte Karotten auf dem Gartenstuhl zu seinem Wohlbefinden beiträgt.

Als sich meine Augen an das düstere Stallinnere gewöhnt haben, erkenne ich Elaina Reiglesberger, eine hübsche Frau in den Dreißigern, mit schulterlangen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren. Sie hat eine Starbucks-Kappe auf, an ihrem Shirt hängt Stroh, und an der Jeans klebt in Höhe der rechten Hüfte etwas Dunkles, Schleimiges. Doch das tut dem rundherum gesunden, ausgeglichenen Eindruck, den sie macht, keinen Abbruch. Sie lächelt, als ich auf sie zugehe.

»Hallo, Chief Burkholder.« Sie murmelt etwas Unverständliches über ihre Hände und wischt sie an den Jeans ab, bevor sie mich mit Handschlag begrüßt. »Furchtbare Sache, das mit dem Mädchen der Millers.« Sie sieht den Sheriff an. »Weiß man schon, was passiert ist?«

Ihr Akzent verrät, dass sie aus Kentucky stammt. Mit ihrer geradlinigen und ruhigen Art und dem Selbstvertrauen, das sie ausstrahlt, ist sie wahrscheinlich ein gutes Vorbild für diese jungen Reiterinnen. »Wir arbeiten daran«, antworte ich nur. »Und ich habe gehört, von euch hier hat jemand etwas gesehen?«, sage ich an die Mädchen gewandt.

»Mandy, meine Älteste«, antwortet Elaina Reiglesberger. »Sie ist gestern, also an dem Tag, als Sadie Miller verschwand, die Straße entlanggeritten und glaubt, sie gesehen zu haben. Sie hat sich nichts dabei gedacht, erst, als sie die Nachrichten im Fernsehen gesehen hat.« Elaina dreht sich zu einem der Mädchen, umfasst seine Schultern und schiebt es sanft zu mir hin. »Mandy, mein Schatz, erzähl der Polizeichefin, was du gesehen hast.«

Mandy ist etwa zwölf Jahre alt und hübsch, mit dunkelbraunen Haaren und großen, unschuldigen Augen. Sie interessiert sich wahrscheinlich mehr für Pferde als für Jungen und ist nicht halb so glücklich wie das Pferd, nun im Mittelpunkt zu stehen.

»Hi, Mandy.« Wir schütteln uns die Hand.

»Hi.« Die Handfläche des Mädchens ist schweißnass, ich muss also behutsam vorgehen, wenn ich ihrem Gedächtnis nützliche Informationen entlocken will.

Ich streichele den Hals des Pferdes. »Gehört der große Kerl hier dir?«

Sie grinst. »Das ist Paxton.«

»Hallo, Paxton.« Ich klopfe ihm freundlich auf den Rücken. »Was machst du mit ihm?«

»Wir haben gerade angefangen, Tonnenrennen zu üben.«

»Das macht bestimmt großen Spaß.«

»Nur wenn man keine Tonne umrennt«, platzt es aus einem Mädchen heraus, das wie die jüngere Version von Mandy aussieht. Beim Tonnenrennen kommt es nämlich darauf an, die Blechtonnen möglichst schnell, und ohne sie umzustoßen, zu umrunden.

Mandy rollt die Augen. »Ich falle wenigstens nicht runter, so wie du.«

»Kinder.« Elaina legt die Hand auf die Schulter des jüngeren Mädchens und spielt mit seinem Haar. »Lasst Chief Burkholder ihre Fragen stellen.«

Ich wende mich wieder Mandy zu. »Erzählst du mir, was genau du gesehen hast?«

Die anderen Mädchen treten näher, als wollten sie keinesfalls etwas verpassen. Mandy schluckt. »Manchmal reite ich mit Paxton nach dem Training auf der Straße, damit er sich wieder beruhigt. Ich hab gesehen, wie das amische Mädchen an der alten Scheune vorbei die Straße entlanggegangen ist, und dann ist ein Auto gekommen. Sie ist hingegangen und hat mit jemandem darin gesprochen.«

»Konntest du sehen, wer das war?«

»Nein.«

»Und das Auto?«

»Es war alt und irgendwie hässlich.« Sie blickt zur Seite, überlegt. »Dunkelblau, glaube ich.«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Rasmussen sich Notizen macht. »Erinnerst du dich, wie spät es war?«, frage ich weiter.

»Ungefähr halb acht.«

Ich blicke durch die offene Stalltür hinaus zum Weg. »Auf welcher Seite reitest du denn von hier aus, auf der rechten oder der linken?«

»Links, und meistens reite ich bis zur Brücke.«

Ich kenne die Brücke, von hier aus ist es etwa eine halbe Meile. Sie führt über einen schmalen Bach mit Grüngürtel, der die Trennlinie zwischen Soja- und Maisfeldern bildet.

»Hat ein Mann oder eine Frau den Wagen gefahren?«, frage ich.

Sie sieht ihre Mom an, die ihr ermutigend zunickt. »Kann ich nicht sagen.«

»Ist Sadie in das Auto eingestiegen?«, frage ich weiter.

Jetzt merkt sie, wohin meine Fragen führen, und zum ersten Mal wirkt sie verängstigt. »Ich weiß es nicht.«

»Erinnerst du dich vielleicht, in welche Richtung es gefahren ist?«

»Nein, ich bin umgekehrt, als das Auto noch da war.«

Ich lächele sie an. »Du hast mir sehr geholfen, Mandy, vielen Dank«, sage ich, dann wende ich mich an Elaina und gebe ihr meine Visitenkarte. »Falls ihr noch etwas einfällt, rufen Sie mich dann an? Meine Handynummer ist auf der Rückseite, ich bin rund um die Uhr zu erreichen.«

Die Frau nickt, senkt die Stimme und sagt zu Rasmussen und mir: »Gott schütze Sie beide, ich hoffe, Sie finden das Mädchen wohlbehalten wieder.«

* * *

Kurze Zeit später sitze ich im Tahoe und fahre langsam an der Brücke vorbei, wo Mandy Reiglesberger vermutlich beobachtet hat, wie Sadie Miller mit jemandem in einem Auto, das sie nur vage beschreiben kann, gesprochen hat. Das ist nicht viel – und keineswegs genug, um wirklich weiterzuhelfen –, doch es ist alles, was ich habe.

Ich habe Tomasetti angerufen und gebeten, mir eine Liste der Leute zu besorgen, die in Holmes und Coshocton County dunkle, über drei Jahre alte Autos besitzen. Aber wir machen uns in der Richtung keine großen Hoffnungen auf nützliche Informationen. Trotzdem kann ich ihre Namen mit denen der Pädophilen und männlichen Sexualstraftäter abgleichen, die in den letzten fünf Jahren verurteilt wurden. Es ist ein Ansatzpunkt, mehr nicht.

Ich parke ein paar Meter hinter der Brücke auf dem Seitenstreifen. Beim Blick in den Rückspiegel sehe ich, dass Rasmussen hinter mir hält. Wir steigen beide aus und treffen uns an meinem Wagen.

Er sieht nach Westen, wo die Sonne schon hinter einer purpurroten Wolkenbank verschwunden ist. »In einer halben Stunde ist es dunkel.«

Ich zeige nach links, wehre mich gegen das Gefühl, hier nur unsere Zeit zu verschwenden. »Ich gehe nach Osten und Sie nach Westen. Vielleicht finden wir ja etwas.«

Er nickt, und wir begeben uns in entgegengesetzter Richtung auf die Suche.

Auf diesem einsamen Stück Landstraße herrscht wenig Verkehr. Im Osten endet sie nach zwei Meilen in einer Sackgasse bei der Mülldeponie des Countys, deren Tore bis auf samstagvormittags mit Ketten verschlossen sind. Die schmale Asphaltstraße ist voller Schlaglöcher, die Mittellinie so gut wie verschwunden. Ich gehe auf dem kleinen Seitenstreifen, lasse den Blick über den grasbewachsenen Straßengraben, den Zaun, das Sojafeld und den Schotter zu meiner Linken schweifen. Wonach ich genau suche, weiß ich nicht. Vielleicht springt mir ja irgendetwas ins Auge, zum Beispiel Kampfspuren oder Bremsspuren. Sie würden zwar nicht zwangsläufig auf ein Verbrechen schließen lassen, aber manchmal gleicht das Zusammentragen von Beweismaterial einem Puzzle. Allein für sich gesehen, haben die Einzelteile keine Bedeutung, doch wenn man sie richtig zusammenfügt, entsteht ein Bild.

Mehrere Minuten vergehen, in denen mir lediglich auffällt, dass es langsam dunkel wird und der Vogelgesang in den Wäldern vom Chor der Grillen abgelöst wird. Nahe der Brücke finde ich eine Bierdose und Überreste eines Papierhandtuchs, eine kleine Plastiktüte, an der sich anscheinend ein Tier ausgetobt hat. Zwanzig Meter hinter der Brücke entdecke ich im Schotter Abdrücke von Pferdehufen, weitere im Gras zusammen mit Pferdeäpfeln. Hier also reitet Mandy Reiglesberger gewöhnlich entlang.

Ich will gerade umkehren, als mein Blick auf die Spuren einer Vollbremsung fällt. Das ist auf einer Landstraße natürlich nichts Ungewöhnliches – Menschen bremsen für Tiere, Teenager, die gerade ihren Führerschein gemacht haben, brettern mit durchdrehenden Reifen aus dem Stand los, um mit ihren PS vor ihren Freunden zu protzen und sich zu produzieren.

Doch diese Bremsspuren sind frisch, und mir bleibt das Herz stehen, als ich eine dünne braune Zigarette im Schotter liegen sehe. Sie ist nur zur Hälfte aufgeraucht, und mindestens ein Auto ist drübergefahren. Ich ziehe einen Gummihandschuh aus der Gürteltasche und will sie gerade aufheben, als mir der Nelkengeruch in die Nase steigt. Sadie hat Nelkenzigaretten geraucht, und das ist – zumindest für mich – der Beweis, dass sie hier war.

Ich sehe über die Schulter zurück zu Rasmussen, der in fünfzig Metern Entfernung durch kniehohes Gras stapft. »Rasmussen! Ich glaube, ich habe was gefunden. Holen Sie die Kamera!«

Er nickt und geht zu seinem Wagen.

Im Stillen verfluche ich die einbrechende Dunkelheit und sehe mir die Reifenspur genauer an. Sie führt vom Asphalt auf den Schotter und weiter ins Gras – als hätte jemand mitten auf der Straße eine Kehrtwende gemacht. Doch ein Reifenprofil ist nicht erkennbar. Und dann entdecke ich etwa zwei Meter weiter genau das, was ich nicht entdecken wollte: einen unregelmäßig geformten Fleck. Ich weiß sofort, dass es Blut ist.

»Scheißmist«, murmele ich und muss schwer gegen das niederschmetternde Gefühl der Hilflosigkeit ankämpfen.

»Sieht aus wie Blut«, höre ich Rasmussen hinter mir sagen.

Er zieht eine Minitaschenlampe aus einer Schlaufe seines Gürtels und leuchtet direkt auf den Fleck. »Muss nicht von ihr sein.« Er blickt zu dem Waldgebiet bei der Brücke. »Könnte von einem angefahrenen Tier stammen, Waschbär oder Opossum, das vom Bach hochgekommen ist.«

»Möglich.« Doch das glaube ich nicht. Wenn ein Tier angefahren wird, liegt der Kadaver meistens in der Nähe. Ich zeige auf den Zigarettenstummel. »Sadie Miller hat Nelkenzigaretten geraucht.«

Wir gehen neben dem Fleck in die Hocke. Es ist nicht so viel Blut wie in Buck Creek, keine Lache, eher länglich, wie hingeschmiert – wie eine Schleifspur.

Ich wünschte, ich hätte eine Lupe dabei, so muss ich mich tief nach unten beugen und entdecke auf dem rauen Straßenbelag Fetzen abgeschürfter Haut. Und was ich dann sehe, lässt mich erschauern. »Ein Haar«, höre ich mich sagen.

»Menschenhaar?«

»Kann ich nicht sagen. Es ist lang, die gleiche Farbe und Länge wie die Haare von Sadie Miller.« Ich richte mich auf. »Ich rufe Tomasetti an, er soll die Spurensicherung schicken.«

Rasmussen blickt sich um. »Kate, ich sage es äußerst ungern, weil sich das hier auch als vollkommen harmlos erweisen kann. Aber es sieht mir fast nach einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht aus, bei dem ein Fußgänger angefahren wurde.«

Natürlich gibt es Dutzende Möglichkeiten, vielleicht ist unsere Reaktion übertrieben und wir sehen Dinge, die nicht da sind. Gut möglich, dass ein Reh oder Hund oder ein Waschbär angefahren wurde. Doch in Anbetracht all dessen, was wir wissen, ist seine Theorie plausibel. Viel zu plausibel.

»Er hat sie angefahren«, flüstere ich. »Und dann mitgenommen.«

Er sieht mir fest in die Augen. »Ich weiß, dass Sie das Mädchen persönlich kennen. Wenn Sie wollen, dass ich –«

»Ich komme schon klar.« Er denkt bestimmt an den Slabaugh-Fall, bei dem ich einen Jungen erschossen habe. Ich kann meine Geheimnisse zwar gut verbergen, doch er weiß, dass ich mich noch immer mit den Nachwirkungen herumquäle.

Er nickt, doch sein Blick drückt Zweifel aus. »Ich sperre die Straße ab und mache Fotos.«

Als ich mein Mobiltelefon aus dem Gürtelclip ziehe, bemerke ich überrascht, dass meine Hand zittert. Ungeduldig drücke ich die Kurzwahltaste für Tomasetti. Er meldet sich mit dem üblichen Brummeln, und ich erzähle ihm von Mandy Reigelsbergers Beobachtung und der Stelle nahe der Brücke, die Rasmussen und ich entdeckt haben.

»Bist du sicher, dass es Menschenhaar ist?«, fragt er.

»Ich bin noch nie einem Waschbär mit langen Haaren begegnet.« Keiner von uns lacht. »Kannst du ein Spurensicherungsteam herschicken?«

»In spätestens einer Stunde ist es da.«

»Ich schulde dir was.«

»Ich erinnere dich dran, wenn wir uns das nächste Mal sehen.«

Fast hätte ich ihn gefragt, wann das sein wird, doch ich will nicht bedürftig erscheinen. Vielleicht, weil ich es momentan bin. »Gibt’s bei euch was Neues?«

»Wir haben einen Zeugen, der behauptet, Gilfillan von der Kirche der zwölf Wege hatte Kontakt mit Annie King und wollte sie rekrutieren. Goddard hat ihn zur Befragung aufs Revier gebracht.«

Auf so eine Verbindung zu stoßen ist eigentlich ein echter Glücksfall. »Du klingst nicht allzu enthusiastisch.«

»Weil der beschissene Zeuge ein schräger Vogel ist, Crystal-Meth-Konsument und außerdem sauer auf die Kirche, weil sie ihn rausgekickt haben.«

»Dann hat er mit denen also ein Hühnchen zu rupfen.«

»Möglich.« Doch er klingt unsicher. »Oder Mr Meth erzählt uns die Wahrheit, Annie King wollte nicht rekrutiert werden, und das Ganze ist außer Kontrolle geraten. Ich versuche gerade, einen Durchsuchungsbeschluss zu bekommen.«

Ich überlege, ob Gilfillan auch etwas mit Sadies Verschwinden zu tun haben könnte. »Hat er ein Alibi für letzte Nacht?«

»Er behauptet, er war zu Hause. Allein.«

Ich würde unheimlich gern selbst mit Gilfillan reden. Kann es sein, dass der selbsternannte Pastor Jagd auf amische Jugendliche macht, die einfach nicht wissen, welche religiöse Richtung sie einschlagen sollen?

»Halt mich auf dem Laufenden«, sage ich.

»Du weißt, dass ich das tue.«

Toedliche Wut
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