22.
Kapitel
Die Kugel prallt keinen halben Meter neben meinem Kopf von einem Backstein ab. Steinsplitter stechen mir ins Gesicht. Ich hechte zu der Treppe, klettere auf allen vieren nach oben, ramme die Schulter so fest gegen die Falltür, dass bestimmt mein Rückgrat gestaucht wird. Die beiden Holzklappen fliegen auf, ich steige durch die Öffnung, sehe mich gehetzt um. Ich bin in einem Souterrain oder Keller mit Erdboden und Steinwänden gelandet, mit Gartengeräten und Regalen voller Einmachgläser. Sechs Meter weiter weg ist eine Holztreppe.
Ein zweiter Schuss fällt. Ich bücke mich und schlage die Klappen zu. Sie sind schwer, aus uralten Holzbrettern mit altmodischen Griffen – aber ohne Schloss. Mir bleiben nur Sekunden, bevor Mast die Luke aufstößt und mir das Gewehr unter die Nase hält.
Mein Blick fällt auf eine Sichel an der Wand, ich renne hin, reiße sie runter, renne zurück und schiebe sie zwischen den beiden Griffen durch.
Einen Augenblick später höre ich, wie Mast sich gegen die Luke wirft. Ich trete zurück, bete, dass die Sichel nicht bricht, ziehe mein Handy hervor und wähle den Notruf.
»Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?« Die gleiche Stimme wie vorhin.
Ich sage schnell meinen Namen. »Schüsse auf der Mast-Farm. Ein bewaffneter Verdächtiger, eine Leiche!«
»Ma’am, der Deputy ist vor Ort.«
Aber wo steckt er dann? Ich gehe zur Treppe und sehe nach oben zur Tür, unter der ein Lichtstrahl durchscheint. Ich senke die Stimme. »Schicken Sie noch einen Deputy her. Perry Mast hat ein Gewehr und schießt auf mich.«
»Warten Sie.«
Ein weiterer Gewehrschuss ertönt, ich wirbele herum und sehe ein Stück Holz durch die Luft fliegen. Mast schießt sich den Weg nach oben frei. Ich schiebe das Handy zurück und nehme zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf zur Tür, habe keine Ahnung, ob dahinter Irene Mast mit einem Gewehr auf mich wartet. Doch wenn ich überleben will, muss ich schnellstens hier raus.
Ich schiebe die Tür einen Spalt auf, blicke in einen Flur mit Holzdielen und einem selbstgemachten Teppich. Rechts ist ein kleines Wohnzimmer, links kann ich den Linoleumboden der Küche sehen. Wenn ich es durch die Küche und zur Hintertür hinaus schaffe, kann ich draußen in Deckung gehen, bis Unterstützung kommt.
Ich lausche nach Polizeisirenen oder Perry Masts Schritten auf der Kellertreppe, doch ich höre nur mein Herz hämmern und meine innere Stimme lauf los schreien.
Vorsichtig öffne ich die Tür und trete in den Flur. Als ich sie hinter mir zumachen will, fällt mein Blick auf den Schlüssel im Schloss. Glück gehabt, denke ich und schließe die Tür hinter mir ab. Das Schloss lässt sich zwar leicht mit dem Gewehr aufschießen, doch es ist ein weiteres Hindernis, das Perry Mast überwinden muss. Und mir verschafft es etwas Zeit.
Auf leisen Sohlen nähere ich mich der Küchentür. Der Geruch von kochenden Tomaten hängt in der Luft, das Klappern von Töpfen auf dem Herd ist zu hören, und mir wird klar, dass Irene Mast gerade Gemüse einmacht. Genau so, wie es meine Mamm in meiner Kindheit Hunderte von Malen tat.
Ich spähe zur Tür hinein. Irene Mast steht mit dem Rücken zu mir am Herd. Der Wasserhahn läuft. Sie hat ein Handtuch in der linken Hand, ein weiteres über der Schulter und stellt gerade den Einsatz mit Gläsern in den großen Einkochtopf.
Der Anblick hat etwas so Harmloses, dass ich ihn nicht mit dem zusammenbringen kann, was ich gerade da unten im Tunnel erlebt habe. Ich stehe wie angewurzelt da und frage mich, ob sie von den Mädchen weiß, die dort unten gefangen gehalten werden? Ist das allein Perry Masts dunkles Geheimnis? Oder macht sie einfach nur die Augen zu, weil sie die Wahrheit nicht ertragen kann?
Sie ist so in ihre Arbeit vertieft, dass sie mich nicht eintreten hört. Der Deputy kann unmöglich schon eingetroffen sein, sonst würde sie bestimmt nicht hier stehen und Tomaten einmachen. Sie wäre draußen auf dem Hof und müsste sich verstörende Fragen anhören, über verschwundene Mädchen und wie ihr Mann seine freie Zeit verbringt.
Ich will gerade ihren Namen sagen, als ich das Repetiergewehr sehe, ein altes .22er mit zerkratztem Holzschaft und angerostetem Lauf. Die Nackenhaare sträuben sich mir, als eine kleine Stimme in mein Ohr flüstert: Sie weiß Bescheid.
Ich bin noch knapp vier Meter von ihr entfernt. Sie hat das Gewehr in Reichweite an den Schrank gelehnt, braucht sich nur vorzubeugen und es zu nehmen. Ich schätze die Entfernung zur Hintertür ab, ob ich es dorthin schaffen kann, bevor sie mir in den Rücken schießt.
Da dreht Irene Mast sich um. Unsere Blicke treffen sich, doch ihr Gesicht bleibt unverändert – es drückt weder Schock noch Schuld aus, weder Angst noch Wut. Es kommt mir vor, als hätte sie die ganze Zeit von meiner Anwesenheit gewusst. In ihren Augen lese ich eine eiskalte Entschlossenheit, die mein Blut gefrieren lässt. Und ich weiß, dass sie an allem beteiligt ist – und ich schnell handeln muss, oder sie erschießt mich.
»Rühren Sie sich nicht vom Fleck«, sage ich. »Lassen Sie die Hände da, wo ich sie sehen kann.«
Unbeeindruckt und mit der Ruhe einer Frau, die einen Besen zur Hand nimmt, um den Boden zu fegen, streckt sie den Arm nach dem Gewehr aus …
Ich mache einen Hechtsprung, packe den Lauf in dem Moment, als sie die Mündung auf mich richten will, und zerre das Gewehr zu mir hin. Gleichzeitig versuche ich, ihr das Knie in den Bauch zu rammen, doch die Entfernung zwischen uns ist zu groß. Sie ist eine schwere Frau, steht fest wie ein Felsen und verliert nicht das Gleichgewicht, verzieht lediglich den Mund, als sie mir die Waffe entreißen will. Ich stolpere vorwärts, und jetzt stehen wir uns gegenüber, jede versucht wie beim Tauziehen mit beiden Händen die Waffe unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihr Gewicht kommt ihr zugute, doch ich bin jünger und für solche Kämpfe ausgebildet. Ich drücke das Gewehr mit aller Kraft nach oben, wobei der Schaft sie am Kinn streift und ihre Zähne zusammenknallen. Knurrend macht sie einen Schritt nach vorn und wirft sich gegen mich, ich verliere kurz die Balance, fange mich aber schnell und treffe sie im Gegenzug mit dem Schaft so hart an der Wange, dass die Haut aufplatzt.
Ein kehliger Laut entweicht ihrem Mund, dann zerrt sie wieder am Gewehr. Ich erhasche einen Blick in ihre Augen. Die Wut, die mir darin entgegenschlägt, ist zutiefst verstörend. Plötzlich fängt sie an, mich mit der Waffe nach hinten zu schieben. Ich stoße an den Tisch, dessen Beine übers Linoleum kratzen, drehe das Gewehr, aber sie lässt es nicht los. Als sie mir nah genug ist, stoße ich ihr das Knie in den Unterleib.
Der Laut, den sie von sich gibt, ist halb Schmerz und halb Schrei, sie lässt die Waffe los und torkelt rückwärts gegen den Herd.
»Keine Bewegung!«, brülle ich. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Ich checke gerade, ob eine Kugel in der Kammer ist, als sie sich zum Herd rumdreht.
»Ich schieße!«, brülle ich. »Runter auf den Boden!«
Mit einer einzigen Bewegung reißt sie den Topf vom Herd, wirbelt herum und schleudert ihn mir entgegen. Gläser klirren, und kochend heißes Wasser schwappt mir auf Gesicht, Hals und Kleider. Mein Adrenalinpegel ist viel zu hoch, um den Schmerz zu spüren. Ich schwinge das Gewehr wie ein Schlagholz und treffe sie mit voller Wucht an der Schläfe, und sie fällt um.
Irgendwo hinter mir knallt ein Einweckglas auf den Boden und zersplittert in tausend Stücke. Blut spritzt auf die Ablage, als Irene Mast in sich zusammensackt. Mein Hals, meine rechte Schulter und meine Brust brennen höllisch.
Irene Mast liegt bewegungslos auf der Seite. Als ich zu ihr gehe, knirscht Glas unter meinen Füßen. Ich stupse sie mit der Schuhspitze an, doch sie gibt keinen Mucks von sich. Ihre Augen stehen zwar offen, doch sie ist nicht ganz da, hat von dem Schlag eine fingergroße Wunde direkt am Ohr.
Mit zittriger Hand greife ich nach den Handschellen an meinem Gürtel, doch sie sind weg. Ich blicke mich nach etwas um, mit dem ich ihre Hände fesseln kann, und sehe das Handtuch auf dem Boden. Mit Hilfe der Zähne reiße ich es in drei Streifen, verknote sie miteinander, knie mich neben Irene Mast, drehe sie auf den Bauch und binde ihr die Hände auf dem Rücken zusammen. Dabei behalte ich die Kellertür im Auge, denn Perry Mast könnte jeden Moment hereingestürmt kommen. Noch so eine Runde würde ich wohl nicht durchstehen.
Ich richte mich auf, bedenke die amische Frau mit einem letzten Blick. »Nicht weggehen«, murmele ich, nehme das Gewehr und mache mich auf zur Hintertür.
Im Vorraum wähle ich erneut die Notrufnummer. Ich stelle mich neben das Fenster, schiebe die Gardine mit der Gewehrmündung zur Seite und sehe hinaus, bemerke zwei Dinge auf einmal: Mein Explorer ist weg, stattdessen steht ein Streifenwagen vom Trumbull County auf seinem Platz. Aber wo zum Teufel steckt der Deputy?
»Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?«
Erneut nenne ich meinen Namen, teile ihr mit, dass der Streifenwagen zwar hier ist, der Deputy aber nirgends zu sehen. »Womöglich hat es ihn erwischt. Perry Mast ist mit einem Gewehr bewaffnet und schießt auf Polizisten.«
»Verstanden. Warten Sie.«
Der Streifenwagen ist zu weit weg, ich kann nicht sehen, ob der Deputy drin sitzt, verletzt oder schlimmer. Er könnte aber auch in der Scheune oder einem der anderen Nebengebäude nach mir suchen. Es sei denn, Mast hat auf ihn geschossen …
Ich blicke auf das Gewehr in meinen Händen, eine alte Winchester mit Röhrenmagazin, wo man nicht sieht, wie viel Munition noch drin ist. Beim Durchladen schiebt sich jeweils eine Kugel in den Schusskanal, ich zähle also besser mit.
»Ein weiterer Deputy ist auf dem Weg«, sagt die Frau in der Notrufzentrale.
»Wann ist er hier?«
»In sechs Minuten.«
Das ist für einen Notruf in dieser ländlichen Gegend ausgesprochen schnell. Andererseits kann in sechs Minuten eine Menge passieren.
Ich werfe einen weiteren Blick durchs Fenster. Der Hof zwischen Haus und Scheune liegt verlassen da, kein Deputy, kein Perry Mast. Es macht mich nervös, dass ich nicht weiß, wo Mast ist. Er würde nur wenige Minuten brauchen, um im Tunnel kehrtzumachen und durch den Schlachtschuppen rauszukommen. Er könnte also überall sein.
Ich öffne die Haustür und trete hinaus in einen feinen Nieselregen. Trotz des Gewehrs im Anschlag fühle ich mich ungeschützt, laufe geduckt die Verandatreppe hinunter und weiter zum Streifenwagen. Die Scheinwerfer und Scheibenwischer sind an, aber der Motor ist aus. Ich bin noch etwa sechs Meter entfernt, als ich die Blutspritzer am Beifahrerfenster sehe, nach weiteren drei Metern erkenne ich die Umrisse des Deputy. Er liegt mit dem Oberkörper auf dem Lenkrad, die Mütze noch auf dem Kopf.
»Scheiße«, murmele ich. »Verdammte Scheiße!«
Die Scheune und den Schlachtschuppen behalte ich im Auge und ziehe an der Beifahrertür, doch sie ist verschlossen. Ich schleiche vorne um den Wagen herum. Die Haube ist noch warm, der abkühlende Motor knistert leise. Auf der Fahrerseite ist das Fenster zersplittert, Blut und Glas bedecken die Schulter des Deputy, die Kopfstütze und den Ärmel seines Uniformhemdes.
Ich greife durch das kaputte Fenster, entriegele die Tür und ziehe sie auf. Die Arme des Deputy hängen am Körper herab. Das Lenkrad und seine Hose sind blutverschmiert. Glassplitter glitzern auf dem Sitz. Was für ein fürchterlicher Anblick.
»Deputy«, flüstere ich. »Deputy, können Sie mich hören?«
Keine Reaktion.
Der Geruch von Blut steigt mir in die Nase, als ich ihm die Mütze abnehme. Von seiner linken Gesichtshälfte ist nicht mehr viel übrig. Die Kugel ist in seinen Kiefer eingedrungen, hat mehrere Zähne zertrümmert und die Wange größtenteils weggerissen, ebenso die Zunge. Das Ohr ist voller Blut, das noch immer auf seinen Hemdkragen tropft. Noch bevor ich den Finger auf seine Halsschlagader drücke, weiß ich, dass er tot ist.
»Gottverdammt.«
Unter normalen Umständen würde ich mich hüten, an einem Tatort etwas anzufassen und zu riskieren, Beweise zu kontaminieren. Aber auf diesem Grundstück hält sich ein bewaffneter Mann versteckt, und mir droht unmittelbare Gefahr. Ich brauche eine gute Waffe, und so öffne ich den Sicherungsriemen vom Pistolenholster des Deputys, ziehe die .40er Glock heraus und trete vom Wagen weg.
Als Nächstes hole ich sechs Kugeln aus dem Gewehr, stecke sie in die Tasche, werfe die Waffe auf den Boden und sehe zum Haus. Nichts rührt sich, und abgesehen vom Regen, der sanft auf den Wagen platscht, ist es hier absolut still. Doch ich werde beobachtet, das weiß ich so sicher, wie dass mir der Regen das Gesicht runterläuft. Ist Mast im Tunnel zurückgegangen und hat den Ausgang im Schlachtschuppen genommen? Oder beobachtet er mich vom Haus aus, mit juckendem Finger am Abzugshahn?
In dem Moment höre ich Autoreifen auf Steinen knirschen, und Erleichterung überkommt mich beim Anblick eines Streifenwagens von Trumbull County, der mit Blaulicht den Weg heraufkommt. Ich winke, und er fährt in meine Richtung, hält ein paar Meter hinter dem anderen Streifenwagen. Ein männlicher Deputy springt heraus, eine Flinte auf mich gerichtet. »Waffe fallen lassen! Hände hoch!«
»Ich bin Polizistin. Ich habe angerufen.«
»Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, sagt er mit Blick aufs Haus. Die Flinte hat er weiter auf mich gerichtet.
Langsam greife ich in die Tasche und hole meine Dienstmarke heraus. »Ich bin vom BCI.«
Der Mann ist kräftig und muskulös, mit strohblondem Haar und Schnauzer. Er sieht sich meine Marke genau an, lässt das Gewehr sinken und zeigt mit dem Kopf auf den anderen Streifenwagen. »Was ist passiert?«
»Ihn hat’s erwischt.«
»O Mann.« Er läuft hin und sieht durchs Beifahrerfenster. »Scheißmist!« Er starrt den Toten an, und sein Gesicht versteinert. »Walker! Scheiße!« Er dreht sich zu mir um, das Entsetzen ist ihm ins Gesicht geschrieben. »Wie ist das passiert?«
»Perry Mast hat ihn erschossen. Er hat ein Gewehr und hält Geiseln in einem unterirdischen Tunnel fest.«
Er sieht mich an, als spräche ich eine fremde Sprache. »Was?« Mit zittriger Hand drückt er aufs Ansteckmikro am Revers. »Sechs-neun-zwei. Schüsse auf der Mast-Farm. Walker ist tot. Ich brauche Verstärkung.«
Ein Gewehrschuss fällt, und wir gehen gleichzeitig in die Hocke.
»Verdammt!«, knurrt er.
Eine weitere Kugel zischt durch die Luft, bohrt einen halben Meter von mir entfernt ein Loch in den Streifenwagen.
Wir gehen geduckt auf der anderen Seite des Wagens in Deckung.
»Wir werden beschossen!«, schreit er ins Mikro. »Mögliche Geiselnahme. Männlicher Verdächtiger, mit Gewehr bewaffnet.«
»Verstanden«, tönt es aus dem Mikro. »Highway Patrol ist auf dem Weg.«
Im Wagen des toten Deputy erwacht das Funkgerät zum Leben, und es beginnt ein reger Funkverkehr. Es tut gut, das mitzubekommen, denn nun werden sich im Umkreis von zwanzig Meilen alle Polizisten, egal von welcher Behörde, auf den Weg hierher machen. Diese Form der Zusammenarbeit habe ich sehr zu schätzen gelernt. Wenn ein Kollege getötet wurde, lässt man alles stehen und liegen und fährt los.
Der Deputy sieht mich an, wischt sich mit dem Jackenärmel den Regen aus dem Gesicht. »Ist das Haus sicher?«
Ich erzähle ihm von meinem Kampf mit Irene Mast. »Sie liegt gefesselt auf dem Küchenboden.«
»Ist sie etwa mit von der Partie?«
»Sie hat versucht, mir den Kopf wegzuschießen.«
»Klingt wie ein Ja.«
Ich blicke mit einem unguten Gefühl zum Haus. »Ich hab die Einstiegsluke im Keller zwar blockiert, aber keine Ahnung, wie lange die hält.«
»Er kann überall sein.«
»Richtig.«
Der Deputy blickt zum Weg. »Wo zum Teufel bleibt die Verstärkung?«
Darauf erwartet er sicher keine Antwort.
»Ich heiße übrigens Kate.«
Er sieht mich an, nickt. »Ich heiße Marcus.«
Ich recke den Hals und blicke über den Kühler hinweg zur Scheune. »Wenn Mast die Luke im Keller des Hauses doch aufkriegen und da rauskommen sollte, geben wir hier eine gute Zielscheibe ab.«
Wir laufen geduckt zum hinteren Teil des Streifenwagens, als Motorengeräusche laut werden. Ich sehe einen Wagen der Ohio Highway Patrol kommen, gefolgt von Tomasettis Tahoe. Beide Autos bleiben mit quietschenden Bremsen zwanzig Meter von uns entfernt stehen.
»Da ist die Kavallerie.«
Ich sehe Marcus an. »Auf geht’s.«
Geduckt und die Waffen im Anschlag, sprinten wir zum Streifenwagen der Highway Patrol, der uns am nächsten steht. Der Trooper ist schon ausgestiegen, hat aber die Tür als zusätzliche Deckung offen stehen lassen. Er hat eine kugelsichere Weste an, die Waffe in der Hand und bedeutet uns mit dem Kopf, zur Rückseite seines Fahrzeugs zu kommen.
»Wo ist der Schütze?«, fragt er und öffnet den Kofferraum.
Wir kauern uns hinter den Kofferraum, und ich gebe dem Trooper eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. »Er hat ein Gewehr und hält drei Geiseln.«
»Und die Frau?«
»Liegt gefesselt in der Küche.« Ich schüttele den Kopf. »Aber wenn Mast durch die Luke im Keller gekommen ist, hat er sie wahrscheinlich befreit.«
»Okay, Mist.« Der Trooper holt zwei kugelsichere Westen aus dem Kofferraum, gibt sie mir und dem Deputy. »Sieht aus, als können wir die hier gebrauchen.«
Als ich die Weste anziehe und sie um die Taille festmache, kommt Tomasetti auf uns zu, das Handy am Ohr. Er hält die Pistole nach unten gerichtet, sieht aber weder zum Haus noch zum Schlachtschuppen. Er starrt mich an. Sein Gesicht ist absolut emotionslos, doch wir sehen uns wie durch ein Vakuum an, als würde in dem Raum zwischen uns nichts anderes existieren.
»Ich kann dich keine zehn Minuten alleine lassen, oder?«, knurrt er.
Ich versuche ein Lächeln, doch es gelingt mir nicht. »Sieht ganz so aus.«
Er wendet sich an den Trooper. »Verhandlungsführer und mobiles Einsatzkommando sind auf dem Weg. Ankunft in etwa dreißig Minuten.«
»Ich hab ein Spezialeinsatzkommando angefordert.« Der Trooper sieht auf seine Uhr. »Das kann aber dauern.«
Ich erzähle den Männern von den Geiseln, die ich zurücklassen musste. Sie hören mir aufmerksam und mit grimmigem Gesicht zu.
»Sie haben Glück gehabt«, sagt der Trooper.
Aber so fühle ich mich nicht. Dafür ist mein schlechtes Gewissen zu groß, weil ich die Mädchen schutzlos einem Wahnsinnigen überlassen habe. »Ich fürchte, er bringt sie um«, sage ich.
»Wir sind nicht dafür ausgerüstet, runter in den Tunnel zu gehen«, erklärt der Trooper.
»Wie war Masts Gemütsverfassung?«, fragt Tomasetti.
»Entschlossen. Kalt, ruhig.« Gnadenlos geht mir noch durch den Kopf, doch das brauche ich nicht mehr zu sagen.
Der Trooper blickt zum Haus. »Und seine Frau?«
»Komplett verrückt.«
Die beiden Männer sehen sich an, und sie denken bestimmt das Gleiche wie ich: Gehen wir rein und holen die amische Frau da raus? Oder sollen wir auf den Verhandlungsführer und das mobile Einsatzkommando warten?
Das Funkgerät des Troopers meldet sich knisternd, er drückt auf Empfang und geht ein paar Schritte weg.
Tomasetti sieht mich an. »Ich hab dir gesagt, du sollst nicht in den Tunnel gehen.«
»Du weißt doch, wie das ist, wenn man mir Anweisungen gibt.«
»Als wolle man Öl mit Wasser vermischen.« Doch sein Gesicht wird weicher. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ich habe den Mädchen versprochen, dass ich komme und sie hole«, sage ich.
»Wir werden sie befreien.« Er mustert mich genau, will wissen, ob ich verletzt bin, entdeckt die Brandwunden an meinem Hals und sieht mir in die Augen. »Wie ist das passiert?«
Ich möchte ihm antworten, dass mir die Verbrennungen egal sind. Was mich krank macht, ist die Angst, dass Mast die Mädchen tötet … »Irene Mast hat einen Topf mit heißem Wasser nach mir geworfen.«
Sein Mund wird zu einem Strich, und er zeigt auf den Tahoe. »Ich hab einen Erste-Hilfe-Kasten im Kofferraum. Da ist vermutlich auch Brandsalbe drin.«
»Ich will nicht, dass so viel Aufhebens um mich gemacht wird.«
Er stöhnt. »Kate.«
»Die Mädchen sind wie Tiere an die Wand gekettet«, flüstere ich. »Sadie ist da unten.«
Er wartet, als wüsste er, dass ich noch nicht fertig bin. Er kennt mich einfach zu gut.
»Ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit«, sage ich.
»Du kannst nicht wie eine Anfängerin da runtergehen.«
»Mast weiß, dass es vorbei ist. Er wird sie töten.«
»Wenn wir runter in den Tunnel gehen, wird er dich töten. Oder mich.« Er zeigt mit dem Daumen auf den Trooper. »Oder den jungen Polizisten da drüben. Wäre das besser?«
»Wir sind für solche Situationen ausgebildet.«
»Aber nicht dazu, wahnwitzige Risiken einzugehen.«
Ich wende mich ab, gehe zum Streifenwagen des Troopers, ohne zu wissen, warum. Mir ist klar, dass ich unvernünftig bin und er recht hat. Es wäre vermessen, einfach so in den Tunnel zu gehen. Aber ich habe das Entsetzen in den Gesichtern der Mädchen gesehen und die kalte Entschlossenheit in den Augen von Perry Mast. Und wenn wir nicht bald etwas unternehmen, wird er sie umbringen.
Nach wenigen Schritten hält mich Tomasetti am Arm fest. »Warte.«
Ich drehe mich zu ihm um, habe Mühe, meine Wut und meine Angst unter Kontrolle zu halten, die mir das Atmen schwermachen.
»Kate.« Er sagt den Namen fast grob und vorwurfsvoll. »Diesmal müssen wir uns an die Dienstvorschriften halten.«
»Manchmal hasse ich die beschissenen Dienstvorschriften.«
»Willkommen bei der Polizei«, erwidert er mitleidlos.
Ich starre auf die Baumreihe entlang des Weges, erwidere nichts.
»Komm mit«, sagt er kurz darauf.
Ich lasse mich von ihm zur Rückseite des Tahoe führen, wo er mich mit dem Rücken an die Tür drückt und sich meinen Hals ansieht. »Das sind Verbrennungen zweiten Grades.«
Ohne mich zu fragen, macht er die beiden oberen Knöpfe meiner Bluse auf und schiebt den BH-Träger von der Schulter, ein viel zu intimes Verhalten an diesem Ort, mit zwei Polizisten in unmittelbarer Nähe. Doch in seinem Handeln liegt nichts Anzügliches, und ich lasse ihn gewähren.
»Es tut nicht weh«, sage ich.
»Das wird es aber, sobald dein Adrenalinpegel sinkt.«
Er berührt meinen Arm, hebt ihn an, damit ich draufsehe. Entsetzt blicke ich auf ein großes Stück hellrosa Fleisch, das überzogen ist mit Blasen.
Tomasetti wendet sich ab, zieht den Schlüssel aus der Hosentasche und öffnet den Kofferraum, holt den Erste-Hilfe-Kasten hervor und fängt an, darin zu suchen.
Als er sich mir schließlich zuwendet, bin ich in Gedanken schon wieder bei den Mädchen im Tunnel. »Die Schüsse kamen aus dem Schlachtschuppen«, sage ich. »Er ist also zurückgegangen und an der Kammer vorbeigekommen, wo die Mädchen festgehalten werden.«
Tomasetti sagt nichts. Er wäscht seine Hände mit Alkohol und öffnet einen weiteren Knopf meiner Bluse. Ich registriere kaum, wie er einen kleinen Beutel mit Gel aufreißt und den Inhalt auf meine Wunde aufträgt. Doch allmählich spüre ich den brennenden Schmerz, der sich vom Schlüsselbein über Oberarm und Brust zieht, und bin fast dankbar dafür, denn einen Moment lang denke ich mal nicht an die Situation unter der Erde.
»Du hast mir höllische Angst eingejagt«, sagt er nach einer Weile.
»Tut mir leid.«
»Tut es dir nicht.« Doch er beugt sich vor und gibt mir einen schnellen, festen Kuss.
Plötzlich plagt mich mein schlechtes Gewissen, weil ich ihm das angetan habe, wo er nach dem Tod seiner Frau und Kinder schon so viel durchgemacht hat. Da holt mich ein Gewehrschuss zurück in die Gegenwart.
Instinktiv gehen wir in die Hocke, sehen zum Haus. Zuerst glaube ich, der Deputy oder der Trooper haben geschossen, doch auch sie blicken sich suchend um.
»Wo kam der her?«, brummt Tomasetti.
»Aus dem Haus, glaube ich.«
Ein zweiter Schuss folgt.
»Das Haus!«, ruft der Deputy hinter dem Wagen des Troopers hervor.
Von drinnen ertönt der Schrei einer Frau. Mast hat eines der Mädchen hochgebracht, denke ich sofort, um es als Druckmittel oder als Schutzschild zu benutzen. Oder um es vor unseren Augen zu töten und uns so sein weiteres Vorgehen zu verdeutlichen.
Aber dann wird mir klar, dass der Schrei nicht von einem jungen Mädchen gewesen sein kann, dafür war er zu tief, zu kehlig. »Das war Irene Mast«, höre ich mich sagen.
Tomasetti sieht mich stirnrunzelnd an. Er weiß, was ich damit sagen will. »Was zum Teufel treibt der Verrückte da drin?«
Ein dritter Schuss fällt.
Dann ist es still. Wir warten. Zehn Minuten vergehen, die mir wie Stunden vorkommen. Der Regen wird jetzt stärker, doch das scheint niemand zu bemerken. Ich höre gleichbleibend laute Sirenen, die Feuerwehr und der Krankenwagen stehen also unten am Weg.
»Da ist er!«
Ich weiß nicht, wer das gerufen hat, drehe mich um und sehe Perry Mast aus der Hintertür treten, das Gewehr in der rechten Hand, meine .38er in der linken.
Der Trooper hält sich ein Megaphon vor den Mund: »Bleiben Sie stehen und legen Sie die Waffen auf den Boden!«
Mast starrt wie in Trance in unsere Richtung. Sein Gesichtsausdruck ist entspannt und ausdruckslos, bar jeder Gefühlsregung. Er ist übergeschnappt, total wahnsinnig. Es hat etwas Schauriges, einen amischen Mann in so einem Zustand zu sehen. Und zu wissen, was er getan hat – wozu er fähig ist.
»Runter mit den Waffen!«, sagt der Trooper. »Auf den Boden!«
Perry Mast steht reglos da, scheint die Aufforderung nicht zu registrieren.
Ich sehe zu Tomasetti. »Glaubst du, er reagiert auf Pennsylvaniadeutsch?«
»Ist ein Versuch wert.«
Im Schutz der Autos laufen wir geduckt zum Trooper.
»Sie spricht Pennsylvaniadeutsch«, sagt Tomasetti.
Der Trooper sieht mich fragend an.
»Ich war einmal amisch«, sage ich.
Er reicht mir das Megaphon. »Vielleicht hilft’s.«
»Mr Mast, hier spricht Kate Burkholder.« Ich suche nach den richtigen Worten, mit denen ich zu ihm durchdringen kann. »Bitte, legen Sie die Waffen auf den Boden und reden Sie mit mir.« Ich warte, doch er reagiert nicht.
»Mit Gewalt lassen sich Probleme nicht lösen, Mr Mast. Bitte, legen Sie die –«
Ich halte inne. Perry Mast richtet sich hoch auf, und einen Moment lang glaube ich, er wird sich fügen, von der Veranda herunterkommen und sich ergeben. Stattdessen hebt er die linke Hand, setzt die Mündung der .38er unters Kinn und drückt ab.