11.
Kapitel
»Bist du sicher, dass du dich nicht überforderst?«
Tomasetti stellt die Frage erst, als die Farm von Bischof Abraham Hertzler, genannt »Old Abe«, und seiner Frau Ruth schon in Sichtweite ist.
»Ja.« Ich sehe ihn nicht an, denn er kennt mich viel zu gut, um die Beklemmung in meinem Gesicht nicht wahrzunehmen. »Ich kann das jedenfalls besser als Goddard.«
»Du willst nicht lieber vom Tahoe überfahren werden?«
Ich kann nicht anders und muss lachen. »Du versuchst doch nicht etwa, mir auf subtile Weise zu sagen, ich sei eine Masochistin?«
»Der Gedanke ist mir durchaus gekommen.«
Doch er versucht nicht, es mir auszureden – er weiß, dass ich recht habe.
Als Tomasetti neben einem alten, pferdegezogenen Dungstreuer bei der baufälligen Scheune parkt, ist der Horizont im Osten in pastellfarbene Ostereierfarben getaucht. Schweigend steigen wir aus dem Wagen. Die Fenster des Hauses sind gelb erleuchtet, die Hertzlers also wach, und auf halbem Weg zur Veranda geht auch schon die Tür auf.
Eine alte amische Frau mit einem Flechtteppich über dem Arm sieht uns durch runde Brillengläser an. Sie trägt ein schlichtes schwarzes Kleid und eine weiße Schürze. Ihr silbergraues Haar ist streng nach hinten gekämmt und mit der traditionellen Kapp bedeckt. »Wer ist da?«, fragt sie mit fester Stimme.
»Mrs Hertzler?«, rufe ich.
»Ich kann Sie nicht sehen. Wer sind Sie?«
»Ich bin Chief of Police Kate Burkholder, und das hier ist Agent John Tomasetti vom Bureau of Criminal Identification and Investigation in Ohio.« Wir erreichen die Veranda und zeigen ihr unsere Ausweise. »Wir unterstützen den hiesigen Sheriff bei der Suche nach Annie King.«
Die Frau sieht sich die Ausweise genau an, die wässrigen Augen sind stark vergrößert hinter den Brillengläsern. In ihren Tiefen erkenne ich einen klugen Verstand, aber auch eine dunkle Vorahnung. Die Polizei taucht nicht morgens um sechs bei einem zu Hause auf, um übers Wetter zu plaudern.
»Ist der Bischof zu Hause, Mrs Hertzler?«
»Was der schinner is letz?« Was ist denn los? Sie macht die Tür weit auf und bittet uns herein.
Tomasetti und ich betreten eine kleine Küche. Mein Blick fällt auf einen selbstgemachten Holztisch für zwei Personen, grobe Holzregale an der Wand und einen altmodischen Küchenherd. Der Duft von Kaffee und Scrapple, dem traditionellen Amisch-Frühstück aus Maismehl und Schweinefleisch, hängt in der Luft. Ein krummer alter Mann, so dünn wie seine Frau dick ist, sitzt vornübergebeugt vor einer dampfenden Tasse Kaffee. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, so dass sein weißer Bart und sein weißes Haar einen starken Kontrast zur Jacke bilden. An ihrer Kleidung sehe ich, dass sie konservative Amische sind, und frage mich, ob sie mit uns im Tahoe zur Farm der Kings fahren oder wir hinter ihrem Buggy herzuckeln müssen – was die Identifizierung um Stunden verzögern würde.
»Guder mariye«, sage ich und neige den Kopf respektvoll.
Beide sehen mich an, als wäre ich gerade von einem anderen Planeten hergebeamt worden. Dass eine Englische in ihre Küche kommt und sie auf Pennsylvaniadeutsch begrüßt, hätten sie nie erwartet.
»Kannscht du Pennsilfaanisch Deitsch schwetzer?«, fragt der Bischof überrascht.
Ich erkläre ihnen, dass ich aus Holmes County bin – ohne jedoch meine Exkommunizierung zu erwähnen – und den hiesigen Sheriff im Fall der vermissten Annie King unterstütze. »Heute Morgen wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden.«
Mrs Hertzler schnappt nach Luft, doch ich spreche weiter. »Wir müssen von Mr und Mrs King wissen, ob es Annie ist.« Ich sehe den Bischof an. »Ich dachte, Sie könnten ihnen vielleicht zur Seite stehen.«
Stille tritt ein, die nur von der knisternden Petroleumlampe und dem Regen, der von der Dachrinne tropft, durchbrochen wird. Die Luft im Raum ist heiß und stickig, doch weder der Bischof noch seine Frau scheinen das zu bemerken.
»Mein Gott«, flüstert Mrs Hertzler. »Gott steh dem armen Kind bei. Gott steh der Familie bei.«
»Wir müssen so schnell wie möglich mit den Eltern sprechen, Bischof Hertzler«, sage ich. »Sie sollen die Nachricht nicht von jemand anderem erfahren. Kommen Sie mit uns?«
Der alte Mann greift nach dem Stock an der Rücklehne seines Stuhls, umfasst mit gichtigen Händen den Knauf und erhebt sich mühsam. »Hol mir meine Bibel.«
* * *
Die Fahrt zur Farm der Kings – in Tomasettis Wagen – verläuft schweigsam und angespannt. Als wir schließlich dort ankommen, ist es fast sieben Uhr. Im Osten steht die Sonne wie ein dampfender orangeroter Ball am Horizont und brennt die letzten Spuren des nächtlichen Gewitters hinweg.
Trotz der frühen Stunde herrscht auf der Farm der Kings schon geschäftiges Treiben. Als wir neben dem Pritschenwagen mit einer einzelnen Milchkanne darauf halten, bleiben zwei Kinder – kleine Mädchen in identischen blauen Kleidern – auf ihrem Weg zur Scheune stehen. Höchstwahrscheinlich müssen sie vor der Schule noch Kühe oder Ziegen melken, doch jetzt sehen sie mit großen Augen zu, wie Tomasetti dem Bischof aus dem Auto hilft.
Ein großer schwarzer Hund mit weißen Pfoten kommt mit heraushängender Zunge auf uns zu gesprungen. Tomasetti tritt schützend vor den Bischof, falls der Hund ihn anspringen und aus dem Gleichgewicht bringen sollte.
Wir sind noch ein Stück vom Haus entfernt, als quietschend die Fliegentür aufgeht und Levi King auf die Veranda tritt. Er sieht ausgezehrt und erschöpft aus. Als er Bischof Hertzler erblickt, geht ein leichtes Beben durch seinen Körper.
»Ist etwas passiert?«, fragt er und kommt eilig auf uns zu. »Geht es um Annie? Haben Sie sie gefunden?«
»Mr King –«, beginne ich, doch er unterbricht mich.
»Bischof?«, sagt er, Verzweiflung in der Stimme. Er bleibt ein paar Meter vor uns stehen und starrt den alten Mann an, als würden Tomasetti und ich nicht existieren. »Warum sind Sie hier?«
»Wir haben die Leiche eines Mädchens gefunden«, ergreife ich wieder das Wort. »Sie hatte keine Papiere bei sich. Wir müssen Sie bitten, mit uns zu kommen und uns zu sagen, ob es Annie ist.«
King sieht mich an, als hätte ich ihm gerade ein Messer in den Bauch gestoßen. Sein Mund steht offen, seine Lippen zittern. »Es ist nicht Annie. Es kann nicht Annie sein.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tomasetti den Blick abwendet, und frage mich, ob er gerade den Moment wiedererlebt, als ihm der Tod seiner Frau und seiner beiden Töchter mitgeteilt wurde.
Der Bischof umfasst den Arm des jüngeren Mannes. »Vertraue auf Gott, Levi, es liegt in seiner Hand.«
Die Fliegentür schlägt zu. Edna King steht im schlichten Kleid und mit Kapp auf der Veranda, ein fadenscheiniges Geschirrtuch in beiden Händen. Sie kann unmöglich gehört haben, was gesprochen wurde, doch sie weiß, dass es Annie betrifft. Und dass es nichts Gutes ist.
Das Geschirrtuch flattert zu Boden, und sie kommt zu uns gelaufen. »Geht es um Annie?«, fragt sie. »Ist etwas passiert?«
Levi hat sich wieder gefasst. Er wendet sich mit beherrschter, ruhiger Stimme seiner Frau zu. »Ein Mädchen wurde gefunden«, teilt er ihr mit. »Vielleicht ist es ja nicht Annie.«
»Ein Mädchen?« Sie hält sich die Hände vor den Mund. »Lebt es?«
Ihr Mann umfasst kopfschüttelnd ihre Schultern. »Annie ist in Gottes Händen«, sagt er aus voller Überzeugung.
»Edna, das ist ein großer Trost«, fügt der Bischof hinzu.
Ich sehe den Kampf, der in ihr wütet, zwischen dem unbedingten Glauben und der entsetzlichen Angst, dass ihrer Tochter etwas Furchtbares passiert sein könnte. »Es kann nicht Annie sein«, flüstert sie. »Nicht Annie.«
Tomasetti gibt mir ein Zeichen, ich sehe den Bischof an, und wir machen uns langsam auf zum Wagen.
»Ich muss mit ihnen gehen«, höre ich Levi sagen. »Sei stark, Edna. Mach den Kindern das Frühstück, ich bin zurück, bevor du das Geschirr gespült hast.«
»Levi …«
Sie weint leise, doch der amische Mann wendet sich ab und folgt uns mit versteinertem Gesicht.
Seine Frau sinkt auf die Knie, hält sich mit beiden Händen an Grasbüscheln fest und ruft weinend den Namen ihrer Tochter.
* * *
Die Fahrt zum Trumbull Memorial Hospital dauert nur fünfundzwanzig Minuten, aber sie kommen mir vor wie Stunden. Angst erfüllt die Luft. Bischof Hertzler und Levi King sitzen hinten, reden leise miteinander oder beten lautlos. Meistens sprechen sie von Annie – ihrer Jugend, ihrer Güte, ihrer Liebe zu Gott und der Familie, der Möglichkeit, dass sie nicht die Tote ist und eine andere Familie ihre Gebete brauchen wird. Immer wieder äußert Levi diese Hoffnung, klammert sich daran wie ein Mann, der verzweifelt sein eigenes Leben zu retten versucht – und in gewisser Weise ist es auch so.
Als wir schließlich ins Parkhaus gegenüber dem Krankenhaus fahren, verfallen die Männer wieder in Schweigen. Wortlos gehen wir über die Verbindungsbrücke zwischen Krankenhaus und Parkhaus, wobei die beiden amischen Männer einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ich kann nach wie vor schwer glauben, dass es noch immer Menschen gibt, die in Ohio leben und noch nie einen Amischen gesehen haben. Und doch ist es wahr. Im Krankenhaus nehmen wir den Fahrstuhl zum Keller, wo sich das Leichenschauhaus befindet.
Die Fahrstuhltüren öffnen sich zu einem Empfangsbereich mit hellgelben Wänden, blauem Sofa und Sessel und mehreren Zimmerpalmen. Auf dem Couchtisch steht eine Vase mit Pfingstrosen aus Seide, und an der Wand hängt ein Flachbildfernseher, in dem der Fox News Channel läuft – hier hat sich offensichtlich jemand ein bisschen zu sehr bemüht, einem traurigen Ort einen alltäglichen Anstrich zu geben.
Eine Frau mittleren Alters – im dunkelrosa Kostüm und mit einem Headset auf dem Kopf – sitzt hinter einem glänzenden Eichenschreibtisch und begrüßt uns mit einem angemessen ernsten Gesichtsausdruck. »Kann ich Ihnen helfen?«
Tomasetti tritt zu ihr hin und zeigt seinen Ausweis. »Wir sind zur Identifizierung einer Toten hier.«
»Sie werden schon erwartet, es ist alles bereit.« Sie reicht ihm ein Klemmbrett, wobei ihr Blick zu den beiden amischen Männern wandert. »Einfach unten unterschreiben.«
Tomasetti kritzelt seine unleserliche Unterschrift auf das Formular und gibt es ihr zurück. Sie tritt hinter dem Schreibtisch hervor. »Hier entlang bitte.«
Tomasetti und ich gehen hinter ihr her, die beiden Männer folgen uns mit etwas Abstand. Wir umrunden eine Ecke, kommen zu einer fensterlosen grauen Tür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR MITARBEITER. Darüber hängt ein Schild in altenglischer Schrift: MORTUI VIVIS PRAECIPIANT. Die Worte sehe ich nicht zum ersten Mal. Ich kann kein Latein, doch die Übersetzung kenne ich auswendig: »Mögen die Toten die Lebenden lehren.«
Der Flur führt in einen kleinen, spärlich möblierten und in einem angenehmen Beige gestrichenen Raum. Auf einem Beistelltisch befinden sich eine kleine Lampe und eine Box mit Papiertaschentüchern, darüber hängt ein billiger, gerahmter Druck mit einem Motiv aus dem amerikanischen Südwesten. Vor einer der Wände hängt eine zugezogene bodenlange Gardine, in der Nische daneben befindet sich ein runder Lautsprecher mit einem roten Knopf. Ich weiß, dass hinter der Gardine das Sichtfenster ist.
»Ich sage Bescheid, dass Sie hier sind«, lässt uns die Frau wissen.
Bischof Hertzler und Levi King stehen neben dem Beistelltisch, wirken hier fehl am Platz und vermeiden jeden Blickkontakt mit Tomasetti und mir. Keiner der beiden Männer scheint die Gardine zu registrieren, als würde das, was dahinter ist, dadurch verschwinden.
Ich verspüre den starken Drang, in dem kleinen Raum umherzulaufen, verharre aber auf meinem Platz und warte hilflos.
»Zweifle niemals im Dunkeln daran, was Gott dir im Licht gezeigt hat«, sagt der Bischof. »Er wird für Seine Kinder sorgen.«
Keiner antwortet, keiner weiß, was er sagen soll. Doch kann es sein, dass Gott sich manchmal zurücklehnt und die Menschen ihrem Schicksal überlässt? Und dass manche Kinder Gottes viel zu jung sterben?
Levi steckt die Hände in die Taschen und sieht zu Boden. Tomasetti steht nahe der Gardine und sieht aus, als würde er sie gleich selbst zur Seite ziehen, wenn sie nicht bald aufgeht.
»Mr Tomasetti? Sind Sie bereit?«, ertönt knisternd eine Stimme aus dem Lautsprecher an der Wand.
Tomasetti blickt Levi an. Der amische Mann nickt. Tomasetti drückt den roten Knopf am Lautsprecher. »Wir können anfangen.«
Einen Moment später summt ein Motor, und die Gardine geht auf. Levi King beugt sich mit suchendem Blick vor. Ich stehe neben ihm und sehe kurz Tomasetti an, der genauso düster und angespannt wirkt, wie ich mich fühle.
Der kleine, rechteckige Raum hinter dem Fenster ist komplett weiß gefliest. Auf die stählerne Rollbahre mit dem hellblauen Tuch, unter dem schwach die Umrisse eines Körpers zu erkennen sind, fällt kaltes Licht. Ein junger Mann in grüner Krankenhauskleidung steht uns zugewandt am Kopfende der Bahre. Er nimmt das Tuch weg, und ich sehe braunes Haar, das aus dem bleichen, schlaffen Gesicht gekämmt wurde, einen halboffenen Mund mit blauen Lippen, schmale Schultern mit blauweißer Haut.
Levi King stößt einen Laut aus, schnappt nach Luft. Ich sehe, dass sein Mund zittert. Seine Schultern fangen an zu beben. Bischof Hertzler streckt die Hand aus und drückt seinen Arm, doch Levi scheint es nicht zu merken. Für ihn gibt es jetzt keinen Trost.
In der amischen Kultur ist die Trauer eine private Angelegenheit, doch das ist Levi King verwehrt. Der Laut, der seinem Mund entweicht, ist so verstörend, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Sein Schmerzensschrei dringt wie ein Messer in mich ein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tomasetti sich abwendet. Der Bischof legt den Arm um die Schulter des Mannes und sagt: »Sie ist bei Gott.« Doch seine Worte klingen wenig überzeugend.
Tomasetti steht etwa einen Meter vom Fenster entfernt und starrt durchs Glas auf das tote Mädchen. Sein Gesichtsausdruck ist düster und unergründlich. »Ist das Ihre Tochter?«, fragt er.
Levi King dreht ihm das Gesicht zu, bewegt einmal ruckartig den Kopf. Tränen laufen ungehindert über seine Wangen aufs Hemd.
Solche Szenen habe ich seit Beginn meiner Polizeilaufbahn ein Dutzend Mal erlebt. Anfangs glaubte ich noch, es sei meine Unerfahrenheit, weshalb sie mir so zusetzen. Doch heute weiß ich, dass es nie einfacher wird. Man wird nicht tougher oder härter oder kälter, jedenfalls nicht in bedeutsamer Weise. Jedes Mal, wenn man den Kummer eines anderen Menschen miterlebt, hinterlässt das eine tiefe Wunde bei einem selbst.
»Wer konnte so etwas Furchtbares tun?«, fragt der amische Mann leise.
Niemand antwortet.