13.
Kapitel
Eine Stunde später sind wir zurück im Besprechungszimmer des Sheriffbüros von Trumbull County. Tomasetti sitzt sichtlich gelangweilt und grantig auf einem Stuhl und traktiert die Tastatur des Laptops auf seinem Schoß. Ich stehe hinten in einer Ecke mit dem Mobiltelefon am Ohr und höre mir Auggie Brocks Lamento über die nicht enden wollenden Ungerechtigkeiten an, die seinem Sohn von Gesetzesseite gerade angetan werden. Ich äußere mich angemessen mitfühlend, doch weiß genau, was er will, und werde meine ethischen Grundsätze niemals seinem siebzehn Jahre alten Sohn opfern, der den Verstand einer Schnecke hat.
Die Deputys sind alle unterwegs und gehen den verschiedenen Spuren nach. Ich kann Sheriff Goddard in seinem Büro ein paar Zimmer weiter hören. Wenn er telefoniert, spricht er extrem laut, und momentan diskutiert er mit jemandem über das Ausstellen eines Durchsuchungsbeschlusses für das Haus von Frank Gilfillan, dem Anführer der Kirche der zwölf Wege. Offenbar sieht der Richter am anderen Ende der Leitung die Dinge etwas anders als der Sheriff, was Goddard sauer aufstößt. Bis jetzt haben wir noch keinen einzigen Treffer gelandet, und seine Frustrationsschwelle ist dementsprechend niedrig.
»Also wirklich, Kate, hören Sie mir überhaupt zu?«, fragt Auggie jetzt.
»Ich höre zu«, lüge ich.
»Das Leben meines Sohnes steht auf dem Spiel. Wenn er als Erwachsener vor Gericht gestellt und verurteilt wird, ist sein Leben so gut wie gelaufen.«
Eine Sekunde lang will ich ihm sagen, dass ich es mir überlege, einfach nur um ihn loszuwerden. Doch dann kommt Sheriff Goddard zur Tür hinein und sieht aus, als hätte er gerade Prügel von ganz oben bezogen, was mich davon abhält, etwas zu tun, was ich ganz sicher bereuen würde. »Auggie, der Sheriff ist gerade gekommen, ich muss Schluss machen.«
»Denken Sie wenigstens darüber nach, was ich gesagt habe?«
Ich drücke die Aus-Taste und blicke Goddard finster an.
Er blickt finster zurück. »Ihr Tag scheint sich in die gleiche Richtung zu entwickeln wie meiner«, sagt er.
»Sie meinen Richtung Hölle?«
»So ungefähr.«
Ich lächele. »Und, kriegen wir den Durchsuchungsbeschluss?«
Goddard seufzt. »Der Richter meint, die Kirche der zwölf Wege ist eine Kirche und weiter nichts, und ihre Mitglieder können anbeten, wen und was immer sie wollen.« Ein weiterer Seufzer. »Das ist ’ne verdammte Sekte, wenn Sie mich fragen.«
»Der Richter ist nicht zufällig Mitglied?«
Goddard sieht mich an, als könnte ich das ernst gemeint haben, und fängt dann lauthals an zu lachen. »Ich glaube nicht, aber ich schwöre zu Gott, im Moment würde mich gar nichts überraschen.«
»Haben Sie mit Gilfillan gesprochen?«
»Haben wir, und ich sage Ihnen, der Typ ist echt schräg, mit schrägen Glaubensgrundsätzen und einem Haufen verdammt schräger Anhänger. Viele davon sind nicht älter als unsere vermissten Teenager, und es sind auch ein paar junge Amische darunter.«
Das lässt mich aufhören. »Hat er eine Akte?«
»Nicht mal eine Verhaftung.«
»Die Verbindung zu den Amischen ist schwer zu ignorieren.«
»Nun ja, noch ist nicht aller Tage Abend.« Er sieht zu Tomasetti, der gerade telefoniert. »Sind Sie beide bei Karns weitergekommen?«
»Wir sollten ihn jedenfalls weiter auf dem Radar haben«, sage ich. »Er macht Nacktfotos von Kindern und hat ein ungewöhnliches Interesse an den Amischen.«
»Vielleicht hab ich mehr Glück mit einem Durchsuchungsbeschluss für sein Haus.«
»Der Richter ist wohl kein Kunstfreund, oder?«
Er lacht. »Chief Burkholder, Sie haben ein freches Mundwerk.«
In dem Moment ändert sich Tomasettis Stimmlage, und wir sehen zu ihm hin. Er fixiert mich bereits, und wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig deute, ist er auf etwas gestoßen. Er bedankt sich gerade bei der Person am anderen Ende und beendet das Gespräch. »Ich hatte doch eine Suche in VICAP eingegeben, und ein Analyst sagt mir gerade, dass die Datenbank einen alten, unaufgeklärten Fall mit dem gleichen Modus Operandi ausgespuckt hat«, sagt er.
Goddard wirkt verblüfft. »Wir haben auch eine Suche in OHLEG laufen lassen, aber es ist nichts dabei rausgekommen.«
»Weil es nicht in Ohio war«, erklärt Tomasetti. »Sondern in Sharon, Pennsylvania.«
»Das ist gleich auf der anderen Seite der Grenze, nicht weit von hier.«
»Wie alt ist der Fall?«, frage ich.
»Vier Jahre. Fünfzehnjähriges amisches Mädchen.« Tomasetti blickt auf seine Notizen. »Ruth Wagler. Sie hatte einen Brotstand am Highway und verschwand. Eine Leiche wurde nie gefunden.«
»Verdächtige?«, frage ich.
»Das Sheriffbüro hatte ihren Freund und ihren Stiefvater unter die Lupe genommen, aber dabei ist nichts rausgekommen, keine Festnahmen.«
Ich sehe Goddard an. »Wie weit ist Sharon von hier entfernt?«
»Höchstens fünfundvierzig Minuten.«
»Wir müssen mit den Eltern reden.« Tomasetti sieht mich an. »Hast du Lust auf einen Ausflug?«
»Sicher.« Mein Handy vibriert an der Hüfte, ich muss sofort an Auggie Brock denken und hab keine Lust dranzugehen. Doch beim Blick aufs Display sehe ich Glocks Name, was mich ziemlich überrascht.
Ich trete ein paar Schritte zur Seite und nehme ab. »Ich bin froh, dass Sie nicht Auggie sind.«
»Nicht so froh wie ich.« Doch er lacht nicht, und sofort läuten meine Alarmglocken. Er ruft sicher nicht zum Plaudern an. »Der amische Bischof hat gerade hier angerufen, Chief. Ihre Schwester und ihr Mann sind bei ihm. William Millers Nichte ist verschwunden.«
Eine Art elektrischer Schock durchzuckt meinen Körper. Um mich herum wird es grau, und Tomasettis und Goddards Stimmen verblassen zu undeutlichem Gebrabbel. »Sadie Miller?«, frage ich.
»Richtig. Fünfzehn Jahre alt und amisch.«
Ich nehme seine Worte kaum wahr, sehe Sadie an dem Tag auf der Brücke vor mir – eine Rebellin gegen die gesellschaftlichen Regeln, so selbstgewiss, dass die Welt ihr gehören würde, bekäme sie nur die Chance, sie zu erobern. Gleichzeitig habe ich die tote Annie King vor Augen, wie ihr lebloser Körper im Fluss zwischen Baumwurzeln hängt.
»Wann?«, höre ich mich fragen.
»Irgendwann letzte Nacht.«
»Verdammt nochmal, warum haben die das erst jetzt gemeldet?« Mir ist klar, dass ich meine Frustration nicht an Glock auslassen sollte, doch die Worte sind schneller als mein Verstand.
Mein Handy signalisiert piepsend einen zweiten Anruf, ich sehe schnell aufs Display, Bischof Troyer versucht mich zu erreichen. »Schicken Sie Personenbeschreibungen an alle Rundfunk- und Fernsehstationen, sie sollen die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Suche bitten«, sage ich Glock. »Lassen Sie Helikopter aus Springfield kommen. Rufen Sie Rasmussen an, alle verfügbaren Leute sollen nach ihr suchen. Vielleicht können Sie auch irgendwo Spürhunde auftreiben.«
»Ich kümmer mich um alles.«
»In ein paar Stunden bin ich da.« Ich nehme den anderen Anruf entgegen, knurre meinen Namen.
»Katie, hier ist Sarah.« Die Stimme meiner Schwester knistert geradezu vor Anspannung. »Sadie ist verschwunden.«
»Ich hab’s gerade gehört.« Ich übe keinerlei Nachsicht mit ihr. »Warum hast du mich nicht sofort angerufen?«
»Wir haben erst heute Morgen gemerkt, dass sie weg ist.«
»Jetzt ist Nachmittag, Sarah. Warum hast du dich nicht sofort gemeldet?«
»William …« Sie atmet schwer, versucht ihre Gefühle zu kontrollieren. »Er wollte nicht die englische –«
»Das ist verdammter Schwachsinn, und ich hab die Nase voll davon, Sarah, hast du das verstanden?«, schreie ich sie an. Tomasetti und Goddard schauen entsetzt zu mir. Mir ist klar, dass ich alles nur noch schlimmer mache, wenn ich meine Schwester verprelle, also reiße ich mich zusammen. »Seit wann ist sie genau weg?«
»Wir glauben, dass sie letzte Nacht aus dem Schlafzimmerfenster gestiegen ist.«
»Letzte Nacht.« Ich senke den Kopf, bearbeite meine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. Das Bedürfnis, sie wegen ihrer – mir zutiefst verhassten – Trennung zwischen Englischen und Amischen anzuschreien, ist gewaltig. Ich will meine Schwester fragen, wie sie es zulassen konnte, ihre Nichte wegen ihres Glaubens in Gefahr zu bringen. Doch irgendwie kann ich meine Wut zügeln. »Glaubst du, sie ist weggelaufen?«, frage ich.
»Ich weiß es nicht, Katie. Ich habe Angst. Sadie war so rebellisch und wütend.«
Ich sehe auf meine Uhr. Selbst mit Blaulicht brauche ich zwei Stunden bis Painters Mill. »Ich schicke Glock zu Roy und Esthers Farm. Kannst du auch dort sein?«
»Ja, natürlich.«
»Sarah, du musst mit ihnen reden und ihnen klarmachen, dass sie mit der Polizei zusammenarbeiten müssen. Sag ihnen, wir haben mit unseren Mitteln bessere Chancen, Sadie zu finden. Hast du verstanden?«
»Ja. Ich werde mein Bestes tun.«
Ich will noch mehr sagen, nämlich dass ich sie liebe, bin aber zu wütend. Und so klappe ich mein Mobiltelefon zu und packe all die nutzlosen Gefühle in eine Kiste, um mich ihnen später zu widmen.
»Was ist passiert?«
Ich drehe mich um, Tomasetti steht direkt hinter mir und starrt mich aus Augen an, die mehr sehen, als mir lieb ist.
»Wir haben noch ein vermisstes Mädchen, und sie ist die Nichte meines Schwagers.« Die Worte drücken nicht annähernd die Gefühle aus, die ich für das Mädchen habe. Ich möchte ihm von der Verbindung zwischen Sadie und mir erzählen, dass sie zu mir aufsieht, und wie ich in ihr all meine eigenen guten Eigenschaften sehe. Aber dafür ist keine Zeit.
»Kate, ist sie einfach nur weggelaufen, oder befürchten sie ein Verbrechen?«
Die Frage setzt mir enorm zu, ich sehe Tomasetti an, reiße mich zusammen. »Sie passt ins Profil«, sage ich. »Problematisch, aufsässig. Das Alter stimmt.«
»Aber das Timing nicht, es ist zu nah am Verschwinden des anderen Mädchens.«
Ich habe die Blutlache auf der Straße vor Augen, Annie Kings Leiche verfangen in den Baumwurzeln, und schaffe es kaum, zu antworten. »Ich muss zurück.« Ich gehe zum Tisch, klappe meinen Laptop zu, ohne ihn runtergefahren zu haben, und schiebe ihn in die Laptoptasche. »Ich brauche den Tahoe.«
Tomasetti holt den Schlüssel aus der Tasche und gibt ihn mir. »Ich fahre mit dem Sheriff nach Sharon und besorge mir später einen anderen Wagen.«
Ich nehme den Schlüssel, wobei Tomasetti die Stirn runzelt, denn meine Hand zittert.
Goddard stellt sich neben mich. Seine Hand auf meiner Schulter tut unerwartet gut. »Sagen Sie uns Bescheid, ob es irgendwelche Hinweise auf eine Verbindung zu den anderen Fällen gibt, Chief.«
Tomasetti geht zur Steckdose, zieht das Laptopkabel heraus und bringt es mir. »Sei vorsichtig.«
Ich halte inne, atme tief durch und sehe ihn an, wünsche mir nichts mehr, als von ihm in die Arme genommen zu werden, zu hören, dass er da sein wird – nicht nur, was den Fall betrifft, auch für mich persönlich.
Ich hänge mir den Gurt über die Schulter. »Ich rufe an, wenn ich etwas weiß.«
Dann eile ich zur Tür hinaus schnurstracks zum Wagen.
* * *
Es gibt tausend Gründe, warum Polizisten niemals an einem Fall arbeiten sollten, zu dem sie – über Freunde oder Verwandte – eine persönliche Verbindung haben. Jeder altgediente Kollege wird sagen, dass ein Polizist mit privaten Motiven die Sache schneller vermasselt als jeder Anfänger. Wenn viel auf dem Spiel steht – wenn jemand, der einem wichtig ist, in Gefahr ist –, ändert das alles.
Ich würde nur allzu gern glauben, dass ich das trotzdem hinkriege, dass ich stark genug bin, herrschende Meinung hin oder her. Doch ich spüre bereits die emotionale Verstrickung, die sich wie eine Bestie in meinen Rücken gekrallt hat und mich in Bereiche lenkt, in denen ich nichts zu suchen habe. Ich bin von Anfang an im Nachteil, anfällig für übereilte Entscheidungen und bereit, Risiken einzugehen, die ich normalerweise nicht eingehen würde. Es wäre klüger, den Fall jemand anderem zu übertragen, nur ist da niemand.
Ich brauche knapp zwei Stunden bis Painters Mill, dank Blaulicht und Martinshorn und einer Geschwindigkeit von neunzig – statt der erlaubten fünfundfünfzig – Meilen auf dem Highway. Trotzdem sind mir die zwei Stunden wie Tage vorgekommen, und die ganze Zeit gingen mir schreckliche Gedanken durch den Kopf. Es steht nicht fest, dass Sadie Miller entführt wurde, denn es ist genauso gut möglich, dass sie ihre Ankündigung wahr gemacht und dem amischen Leben den Rücken gekehrt hat, um ihr Glück anderswo zu suchen. Aber wie schnell landet ein Ausreißer oder eine Ausreißerin als vermisste Person in den Polizeiakten.
Oder als Mordopfer.
Am frühen Abend parke ich schließlich den Wagen im langen Schatten des Hauses der Millers, ein deutliches Zeichen, dass der Tag sich dem Ende zuneigt. Bischof Troyers Buggy steht bei der Scheune – neben einem weiteren, dessen Besitzer ich aber nicht kenne –, der alte Amerikanische Traber ist an einen Pfahl nahe des Eingangs angebunden. Glocks Streifenwagen steht ein paar Meter weiter, und ein Ford Crown Victoria vom Sheriffbüro schräg dahinter.
Ich kenne die Millers seit Kindertagen. Sie sind eine konservative amische Familie, und sie haben mehr als einmal meine Entscheidungen oder mein Handeln missbilligt und Auseinandersetzungen provoziert, denen ich aber nie aus dem Weg gegangen bin. Ich setzte mich über sie und ihre Regeln hinweg, und es war mir vollkommen egal, ob ich in ihren Augen der letzte Dreck war.
Heute, als Erwachsene, weiß ich, dass sie meinen Weg niemals gutheißen werden. Aber hier geht es nicht um mich oder eine lange zurückliegende Zeit. Ich hoffe nur, dass ihre Geringschätzung mir gegenüber nicht die Kooperation beeinträchtigt, die ich und meine Kollegen bei der Suche nach Sadie brauchen.
Als ich aussteige, sind meine Beine von der Fahrt ganz steif. Ich laufe trotzdem zur hinteren Veranda, hoffe im Stillen, dass Sadie wieder aufgetaucht ist und ich die Fahrt umsonst gemacht habe – dass ich sie ordentlich ausschimpfen und dann in die Arme nehmen und ihr sagen kann, wie froh ich bin, sie zu sehen. Doch als die Tür aufgeht und Sarah und ihre Schwägerin herauskommen, sind alle meine Hoffnungen schlagartig dahin. Ihre Gesichter sind vom Weinen ganz fleckig, und in ihren Augen steht die nackte Angst.
Ein Blick auf meine Schwester genügt, und die Wut von zuvor ist verraucht.
»O Katie …« Ihre Stimme versagt.
Ich gehe zu ihr hin und umarme sie, wobei ich gegen meine Verlegenheit ankämpfe. Sie duftet nach frischer Wäsche und Sommer, so wie meine Mamm immer gerochen hat, und für den Bruchteil einer Sekunde sehne ich mich nach all den Umarmungen, die mir nie zuteilgeworden sind. Meine Schwester zittert am ganzen Leib. »Gibt es Neuigkeiten?«, frage ich und löse mich aus der Umarmung.
Sie schüttelt den Kopf. »Nein.«
Ich wende mich Sadies Mutter zu. Esther Miller ist eine füllige Frau mit rundem Gesicht, Sommersprossen und einem münzgroßen Feuermal auf der linken Nasenseite. Ihr braunes Haar ist mit Silberfäden durchzogen und zu einem strengen Nackenknoten gebunden. In unserer Jugend war sie witzig, eigensinnig und aufmüpfig gewesen, was mir immer sehr imponiert hat. Wir haben viele Nachmittage am Miller’s Pond verbracht, geraucht und über Dinge gesprochen, über die man nicht sprach, meistens natürlich über Jungen und Make-up und all die Geheimnisse, die in unserer Zukunft noch zu lüften waren – und die einige amische Mädchen sehr nervös machten. Dann kam der Tag, als sie mich mit Jimmie Bates zusammen sah, und damit das Ende meiner ersten Mädchenfreundschaft einläutete: Esther erzählte es ihrer Mamm, und natürlich erzählte ihre Mamm es meiner. Es war das erste Mal, dass ich einen Verrat zu spüren bekam, und es hat weh getan. Esther wurde der Umgang mit mir verboten, und wir haben nie wieder miteinander gesprochen.
Als ich jetzt meiner ehemaligen Freundin die Hand hinhalte und in die Augen sehe, ertappe ich mich dabei, wie ich die junge Rebellin darin suche, die ich einmal so gut gekannt habe, das Mädchen, das mich zum Lachen bringen konnte, auch wenn ich noch so schlecht drauf war. Doch die Zeit hat alle Spuren dieses Mädchens ausradiert, und ich sehe nur noch eine strenge, ängstliche Frau voller Misstrauen. »Katie, danke, dass du gekommen bist«, sagt sie. »Tritt ein.«
Ich folge ihr durch einen schmalen Vorraum, vorbei an einer alten Wäschemangel, ordentlich aufgereihten Gummistiefeln und drei flachkrempigen Strohhüten an Holzpflöcken in der Wand. Wir gehen durch eine Tür in die große Küche, in der es nach Wurst und Hefezopf riecht. Sheriff Rasmussen sitzt am Tisch und redet mit Roy Miller, Sadies Vater. Als er mich eintreten sieht, zeigt sich Erleichterung in seinem Gesicht.
»Chief Burkholder.« Er steht auf, kommt auf mich zu und hält mir die Hand hin. »Schön, dass Sie wieder da sind.«
Ich schüttele fest seine Hand. »Wo ist Glock?«
»Er spricht gerade mit dem Bischof.«
»Chief.«
Ich drehe mich beim Klang von Glocks Stimme um und sehe ihn zusammen mit Bischof Troyer in die Küche kommen. Mit einer kleinen, respektvollen Neigung des Kopfes begrüße ich zuerst den Bischof in Pennsylvaniadeutsch, dann wende ich mich Glock und Rasmussen zu. »Was wissen wir bis jetzt?«
Der Sheriff antwortet als Erster. »Die Eltern glauben, dass Sadie irgendwann gestern Abend nach neunzehn Uhr aus ihrem Schlafzimmerfenster gestiegen ist. Als Mr Miller heute Morgen um vier Uhr dreißig in ihr Zimmer ging, war sie weg.«
»Haben Sie schon mit den Nachbarn gesprochen?«
»Wir haben mit den Nachbarn rechts und links gesprochen«, erwidert Glock. »Keiner hat etwas gesehen.«
Ich blicke Esther an. »Fehlt Kleidung von ihr?«
Die amische Frau schüttelt den Kopf. »Ich hab in ihrem Zimmer nachgesehen, aber es ist nichts weg.«
»Kann es sein, dass sie irgendwo englische Kleider versteckt hat?«, frage ich.
»Das würde Sadie nie tun«, erklärt Esther. »Sie ist anständig.«
Als ich Sadie das letzte Mal gesehen habe, trug sie eine bemalte Jeans, die ihr bestimmt die Luft aus den Lungen gequetscht hat. Ich frage mich, wie diese Eltern die Augen vor der Wirklichkeit verschließen können. Viele Teenager, amische wie englische, machen Dinge, die ihre Eltern niemals verstehen würden.
»Sadie hatte englische Sachen an, als ich sie vor ein paar Tagen nach Hause gebracht habe«, sage ich.
Roy Miller senkt den Kopf.
Esther starrt mich an, als würde ich sie absichtlich quälen. »Wir erlauben keine englische Kleidung in diesem Haus«, sagt sie.
Ich wende mich Glock zu. »Suchmeldungen in Rundfunk und Fernsehen sind raus?«
»Vor etwa zwei Stunden.« Er blickt auf seine Uhr. »Die State Highway Patrol ist informiert. Wir haben jeden angerufen, der uns eingefallen ist, Chief. Skid trommelt gerade Freiwillige zusammen, um den Grüngürtel im Norden zu durchforsten. T. J. und Pickles befragen weiter die Nachbarn.«
»Wir kriegen Hunde aus Coshocton County«, fügt Rasmussen hinzu.
Ich bitte beide Männer, mir zu einer kurzen Besprechung ins angrenzende Wohnzimmer zu folgen. Als wir außer Hörweite der Eltern und des Bischofs sind, sage ich: »Wir haben die Leiche des vermissten Mädchens in Buck Creek gefunden.«
»O verdammt«, murmelt Rasmussen. »Ermordet?«
»Der Coroner hat es noch nicht offiziell bestätigt, aber wir gehen davon aus.«
Glock runzelt die Stirn. »Glauben Sie an einen Zusammenhang?«
Die Folgen von Annie Kings Verschwinden vor Augen, will ich mir das lieber nicht vorstellen. Vielmehr hoffe ich, dass Sadie einfach nur weggelaufen ist und wir es hier mit einer ganz anderen Situation zu tun haben.
Ich seufze. »Wir betrachten sie erst einmal als vermisst und gefährdet.«
»Painters Mill liegt ziemlich weit weg von den Orten, wo die anderen Teenager verschwunden sind«, sagt Rasmussen.
»Vielleicht hat er seinen Aktionsradius erweitert«, meint Glock.
»Haben Sadies Eltern irgendwelche Probleme mit ihr erwähnt?«, frage ich. »Hat es vielleicht kürzlich Streit gegeben oder eine Meinungsverschiedenheit, etwas in der Art?«
Rasmussen schüttelt den Kopf. »Sie sagen, alles wäre in Ordnung gewesen.«
»Hatte sie einen festen Freund?«, frage ich.
»Sie sagen nein.«
Die Eltern erfahren es immer zuletzt. Tomasettis Worte gehen mir durch den Kopf, und ich gebe es nur ungern zu, aber er hat recht.
»Die Eltern haben wahrscheinlich keine Ahnung«, sage ich, und die beiden Männer sehen mich an, als wäre ich die sprichwörtliche Expertin auf dem Gebiet unkontrollierbarer Amisch-Mädchen.
»Sadie hat mit dem Gedanken gespielt, das Leben hier aufzugeben und wegzugehen«, erkläre ich. »Möglicherweise ist sie mit einem Jungen zusammen, von dem die Eltern nichts wissen. Oder sie ist weggelaufen, um uns Idioten hier eine Lektion zu erteilen.«
»Wir müssen mit ihren Freunden reden«, sagt Rasmussen.
»Ich weiß einige Namen, mit denen wir anfangen können.« Ich sehe Glock an. »Sorgen Sie dafür, dass Angi McClanahan, Matt Butler und Lori Westfall umgehend aufs Revier kommen, inklusive Eltern. Sie sind nicht in Schwierigkeiten, aber ich will mit ihnen reden.«
»Bin schon unterwegs.« Glock geht zur Tür.
Rasmussen und ich stehen einen Moment schweigend da, denken nach. »Ich werde mit der Mutter reden«, sage ich schließlich. »Und mir Sadies Zimmer ansehen.«
»Wollen Sie mich dabeihaben?«
»Ist vielleicht besser, wenn ich das alleine mache.«
»Verstehe.«
Als ich zurück in die Küche komme, sitzen Roy und Esther zusammengesunken am Tisch, ihre Hände machen fahrige, nutzlose Bewegungen. Sie sehen auf, dunkle Schatten um die Augen. Es ist erst ein paar Tage her, dass ich sie zuletzt gesehen habe, doch sie scheinen um Jahre gealtert. Roy ist ein großer, dünner Mann mit langem roten Bart, der ihm zum Bauch reicht. Er trägt schwarze Arbeitshosen mit Hosenträgern und ein blaues Hemd.
»Ich würde mir gern Sadies Zimmer ansehen«, sage ich.
Einen Moment lang starren sie mich an, als würde ich in einer Sprache sprechen, die sie nicht verstehen. Dann blickt Esther zu ihrem Mann. »Wir könnten es ihr zeigen«, sagt sie.
Ich werde langsam ungeduldig. Die Amischen sind eine patriarchale Gesellschaft. Die Männer bestimmen die Regeln und haben gewöhnlich das letzte Wort. Zwar dürfen die meisten Frauen ihre Meinung äußern, die auch grundsätzlich respektiert wird, doch im Allgemeinen ordnen sie sich den Wünschen ihrer Männer unter.
Ich wende mich an Roy. »Es ist wichtig«, sage ich ihm. »Vielleicht ist da etwas, das uns beim Suchen hilft.«
Kurz darauf nickt er. »Zeig ihr das Zimmer.«
Esther geht zur Tür. »Komm mit.«
Ich folge ihr über hohe, schmale und knarrende Treppenstufen in den ersten Stock. Sadies Zimmer liegt am Ende des Flurs, es ist klein und mit einem Bett, Nachttisch, einer Kiefernkommode mit drei Schubladen möbliert. An der Wand neben dem Bett hängen eine weiße Kapp und ein schwarzer Sweater an einem Holzhaken. Ein Fenster mit durchsichtigen Gardinen geht auf den vorderen Hof.
Das Zimmer ist gemütlich und ordentlich und könnte jedem amischen Mädchen gehören, wenn da nicht die vielen Handarbeiten wären: Ein grünweißer Quilt aus unterschiedlichen, interessant kombinierten Stoffen bedeckt das Bett, an dessen Kopfende eine Häkeldecke liegt und Kissen aufgereiht sind, der Stoffbezug mit Spitze überzogen. Die Wände sind wie üblich weiß, doch die vielen, vom Boden bis zur Decke reichenden Wandbehänge sind mehr als ungewöhnlich: Dunkelvioletter Samt mit Streifen von rosa Spitze durchwirkt, rote und lila Stoffe, kreativ zusammengestellt und kunstvoll vernäht – alles Farben, die die Amischen missbilligen. Und doch erlauben die Eltern ihr diesen Ausdruck von Individualität.
»Sadie näht für ihr Leben gern.« Esther sagt es auf eine Weise, als müssten die Handarbeiten ihrer Tochter gerechtfertigt werden. »Und das schon, seit sie sechs ist.«
Ich bin fasziniert von den vielen Metern Stoff, die von einem jungen amischen Mädchen mit so viel Gestaltungskraft und so großer Leidenschaft verarbeitet wurden, dass ihre Eltern sie weder davon abhalten noch zügeln konnten. Bei dem Anblick fällt mir das Gespräch mit Sadie auf der Brücke ein. Mir gefallen all die Dinge, dir mir nicht gefallen dürften. Musik und … Kunst. Ich will Bücher lesen und Filme gucken und an Orte reisen, die ich noch nie gesehen habe. Ich will aufs College gehen und … Ich werde Kleider entwerfen, ich kann unheimlich gut nähen …
»Sie hat recht«, flüstere ich.
Esther sieht mich an. »Wie bitte?«
»Sie hat großes Talent.«
Esther geht zum Bett und nimmt eines der Kissen in die Hand. »Vielleicht hätten wir ihr das gar nicht erlauben dürfen«, sagt sie peinlich berührt.
»Manchmal ist man gegenüber einer so großen Leidenschaft machtlos.«
Sie sieht unglaublich traurig aus, wie sie so mit dem Kissen dasteht. »Wir heißen diese Farben nicht gut, und Sadie ist viel zu stolz auf ihre Quilts. Sie ist halsstarrig und kann sehr respektlos sein.« Sie drückt die Nase in das Kissen und saugt den Duft ihrer Tochter ein, die ihr so furchtbar fehlt.
Die Worte, der Vorwurf, den sie ausdrücken, rufen mir ein amisches Sprichwort ins Gedächtnis, das ich als Teenager oft von meiner Mamm gehört habe, wenn ich mich bockig wegen meiner Pflichten im Haushalt anstellte. »Stolz auf die Arbeit macht den Tag zur Freude«, flüstere ich.
Tränen schießen in Esthers Augen. Sie drückt sich das Kissen ins Gesicht, als schäme sie sich deshalb, und sieht mich über den Rand hinweg an. »Sie ist ein besonderes Mädchen mit einem guten Herz. Einem großen Herz.« Sie lacht freudlos. »Vielleicht einem zu großen Herz.«
»Ich werde alles tun, um sie zu finden.«
Sie sinkt in die Knie, als könnten ihre Beine sie nicht länger tragen. Tränen laufen jetzt ungehindert über ihre Wangen, sie vergräbt das Gesicht in den Händen und beginnt zu schluchzen.
Ich drücke kurz ihre Schulter, dann sehe ich mich im Zimmer um. Es gibt nur wenige Stellen, wo ich suchen kann, denn das Zimmer eines amischen Teenagers hat nicht viel gemeinsam mit dem ihres englischen Pendants. Ich fange mit dem Nachttisch an, in dem eine Ausgabe von Es Nei Teshtament liegt, eine zweisprachige Bibel in Pennsylvaniadeutsch und Englisch. In der zweiten Schublade finde ich eine Haarbürste und einen Kamm, eine Kerze, einen geschnitzten Holzbär.
Als Nächstes suche ich in der Kommode. Die oberste Schublade ist voller Baumwoll-BH’s und -schlüpfer von Walmart, einer altmodischen Schlupfhose und einer Wintermütze, die geflickt werden muss. In der mittleren Schublade liegen mehrere handgenähte amische Kleider, und in der unteren ist ganz hinten eine zusammengerollte Blue Jeans versteckt, die man nur findet, wenn man auch sucht.
Ich trete einen Schritt zurück und sehe mich im Zimmer um. Mein Blick fällt auf den schwarzen Sweater am Holzhaken, ich gehe hin und fasse in die Taschen, doch da ist nichts. Ich sehe unter dem Bett nach, fahre mit der Hand in ihre Sneaker und Lederschuhe.
»Komm schon, Sadie«, murmele ich.
Wonach ich suche, kann ich nicht sagen – ein Heft mit dem Namen ihres Freundes, ein Stück Papier mit der Handynummer oder Adresse. Einen Brief mit hilfreichen Informationen, ein Tagebuch. Ich hebe die Matratze an und fahre mit der Hand über den stoffbezogenen Federkernunterteil – und stoße an Papier. Sekunden später halte ich eine Illustrierte in der Hand – eine Cosmopolitan – und starre auf ein vollbusiges Model im tief ausgeschnittenen roten Kleid, dessen Anblick mir ein trauriges Lächeln entlockt.
»Wo bist du?«, flüstere ich.
Und ich stecke die Illustrierte zurück in ihr Versteck.