19.
Kapitel
Im ersten Moment traue ich meinen Augen nicht. Auf dem Weg zur Scheune bin ich daran vorbeigelaufen, und die Tür war ganz sicher zu. Sonst wäre mir das aufgefallen. Natürlich kann der Wind sie aufgestoßen haben, aber das glaube ich nicht.
Also wie ist die Tür aufgegangen?
Um das Rätsel zu lösen, gibt es nur eine Möglichkeit. Ich steige also wieder aus, bleibe kurz neben dem Wagen stehen und lasse den Blick über die Umgebung schweifen. Bis auf den Wind ist alles still und verlassen, doch ich werde das komische Gefühl nicht los, nicht allein hier zu sein.
Auf dem Weg zum Schuppen sind alle meine Sinne aufs äußerste geschärft. Ich halte noch immer das Handy in der Hand, und das Schulterholster unter meiner Jacke drückt beruhigend an meine Rippen.
Ich erreiche die Tür und schaue vorsichtig in den Raum. Drinnen ist es dunkel und riecht schwach nach altem Blut und Dung, die Luft ist stickig. Ich sehe mich um nach etwas, mit dem ich die Tür festmachen kann, doch ich entdecke nichts. Beim Blick auf das Türschloss wird mir klar, dass es – falls nicht richtig zugemacht – durchaus von allein aufgegangen sein kann. Doch ist es das auch?
Eine ganze Minute stehe ich da und lausche. Drinnen tut sich nichts, und bis auf das Heulen des Windes, die über den Boden fegenden trockenen Blätter und das ferne Donnergrollen ist es still.
Der Drang, in den Schuppen zu gehen und mich umzusehen, ist groß. Doch wenn ich mich jetzt nicht korrekt verhalte, könnte es hinterher Probleme vor Gericht geben, sollte es jemals so weit kommen. Ich bin meilenweit entfernt von meinem eigenen Zuständigkeitsbereich, und Tomasetti besorgt einen Durchsuchungsbeschluss. Ich muss nur im Sheriffbüro warten, bis heute Abend eine ganze Armee von Agenten und Spurensicherungstechnikern anrückt und das Grundstück auf den Kopf stellt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Annie King tot ist und einem anderen verschwundenen fünfzehnjährigen amischen Mädchen vielleicht das gleiche Schicksal droht. Ich weiß nicht wie und warum, aber mein Bauch sagt mir, dass die Masts involviert sind. Und ich soll mich brav an die Vorschriften halten, während Sadie Miller vielleicht hier irgendwo in der Nähe um ihr Leben kämpft.
Oder schon tot ist.
»Es reicht mir«, sage ich, klappe das Handy auf und wähle die 911. Nach dem zweiten Klingeln meldet sich die Notrufzentrale, ich sage meinen Namen und dass ich Polizistin bin. »Ich befinde mich auf der Mast-Farm an der Township Road 405 und möchte, dass Sie so schnell wie möglich einen Deputy herschicken.«
»Um was für eine Notsituation handelt es sich, Ma’am?«
»Ich habe Beweismittel zu einem Fall gefunden, an dem ich gerade arbeite.«
Ich höre Fingernägel auf einer Tastatur klacken. »Wo genau liegt die Farm, Ma’am?«
Ich nenne die Adresse aus dem Kopf.
»Ein Deputy ist unterwegs.«
»Wie lange wird er brauchen?«
»Zwanzig Minuten.« Sie hält inne. »Befinden Sie sich in unmittelbarer Gefahr, Ma’am? Möchten Sie, dass ich in der Leitung bleibe, bis er eintrifft?«
»Danke, das ist nicht nötig.« Ich lege auf und schiebe das Telefon zurück in den Gürtelclip. Es fängt an zu regnen, dicke Tropfen ballern aufs Schindeldach wie Nägel aus einer Nagelpistole. Eine Windböe wirbelt trockene Blätter um mich herum auf. Die Tür knallt zu, es klingt wie ein Gewehrschuss, und obwohl ich es kommen gesehen habe, schrecke ich zusammen.
Ich gehe hin, drehe am Knauf und ziehe sie wieder auf. Niemand ist hier, ich bin allein mit dem Sturm, dem Gewitter und dem schweren Gewicht meines Verdachts. Dazu kommt die Angst, dass ich mich hinsichtlich der Masts vielleicht geirrt habe und zurückrudern müsste, wenn der Deputy eintrifft.
Ich hole meine kleine Taschenlampe aus der Hosentasche und gehe den Korridor entlang, der zum Schlachtraum führt. Es ist der gleiche Weg wie an dem Abend, als Tomasetti und ich hier waren. Doch jetzt, wo sich der Lichtkegel über den schmutzigen Boden schiebt, sieht alles anders aus. Es ist, als lauere hinter jeder Ecke eine unsichtbare Gefahr.
Mit dem Fuß schiebe ich die Tür zum Schlachtraum auf, leuchte hinein und sehe, dass der Raum leer ist, auch dank des einfallenden Lichts durch das Plexiglasfenster im Dach. Der Tisch, auf dem die geschlachteten Tiere ausgeweidet werden, ist sauber geschrubbt, die Brühwanne leer und trocken. Werkzeuge zum Zerteilen hängen an Wandhaken, die Kette, mit der die Kadaver in die Brühwanne herabgelassen werden, ist rostig, aber sauber. Es riecht nur schwach nach Bleichmittel und Dung. Perry Masts Schlachtbetrieb ist hygienisch einwandfrei. Nur dass ich in seinem Abfall eine halbverbrannte Schachtel Nelkenzigaretten gefunden habe …
Inzwischen hat der Regen eine ohrenbetäubende Lautstärke angenommen, er trommelt so heftig aufs Dach, dass jemand einen Schuss abfeuern könnte, ohne dass ich es hören würde. Ich trete aus dem Schlachtraum heraus und gehe den Korridor entlang, komme rechts zu einer Tür und mache sie auf. Es ist eine Werkstatt mit einer Werkbank an der Wand sowie einem großen Waschbecken mit einem selbstgemachten Stück Seife neben der Armatur und einem Handtuch über dem Beckenrand. Im Regal steht ein Bleichmittelbehälter, auf dem Brett darunter befinden sich ordentlich zusammengelegte Geschirrtücher. Am Nagel eines Kantholzes hängt ein Stock zum Viehtreiben, und ein Messer von der Größe einer Machete liegt neben einem Wetzstein auf der Werkbank.
Gegenüber auf der anderen Seite des Raums ist irgendein großes Gerät vollständig mit einer Plane abgedeckt. Ich gehe hin und ziehe sie weg. Staubflocken wirbeln hoch, die ich aber kaum registriere, weil ich wie hypnotisiert auf einen dunkelblauen Ford Kombi starre. Ich traue meinen Augen kaum. Was machen die Masts mit einem Auto? Ein Auto, das auf Mandy Reiglesbergers Beschreibung des Wagens passt, in dessen Nähe Sadie Miller zuletzt gesehen wurde.
Ich lasse die Plane auf dem Boden liegen und gehe zurück zur Tür, wobei mein Herz heftig klopft. Neben der Tür steht eine Fünfzig-Gallonen-Plastiktonne, die oben abgesägt ist und als Abfallbehälter benutzt wird. Ich leuchte mit der Taschenlampe hinein, sehe eine zerknüllte Tüte Katzenfutter, Reste von Schweineklauen und einen abgebrochenen Griff irgendeines Gartengeräts. Der Anblick blutiger Lappen macht mich stutzig, ich beuge mich vor und entdecke schwarzrote Flecken an der Innenseite der Tonnenwand, rufe mir aber sofort ins Gedächtnis, dass in diesem Schuppen geschlachtet wird und die Lappen zum Reinigen oder Desinfizieren der Geräte benutzt worden sein könnten.
Obwohl das also kein ungewöhnlicher Fund ist, hole ich einen Beweismittelbeutel aus der Tasche, fische damit den kleinsten Lappen heraus und will ihn gerade schließen, als mein Blick weiter unten auf ein anderes Stück Stoff fällt. Es ist von feinerer Qualität, also kein Putzlappen, aber zerrissen, schmutzig und voller Spreu. Mit meinem zweiten Beutel – dem letzten – ziehe ich den etwa fünfzehn Zentimeter langen Fetzen heraus. Ich blase die Spreu weg, leuchte mit der Taschenlampe direkt darauf und spüre, wie sich mir beim Anblick der weißen Nähte auf schwarzer Seide die Nackenhaare aufstellen. Mir ist sofort klar, dass es von Sadie Millers Tanktop stammt, das sie an dem Tag auf der Brücke getragen hat.
Adrenalin durchflutet meinen Körper. Ich leuchte um mich herum, doch es ist niemand hier, ich bin allein. Regen hämmert aufs Dach, übertönt alle anderen Geräusche. Schnell reiße ich den Stoff in zwei Teile, werfe den einen zurück in die Tonne – für die Spurensicherung –, stecke den anderen in den Beweismittelbeutel, stopfe beide Beutel in meine Gesäßtasche und gehe zur Tür.
Ich will so schnell wie möglich hier raus, laufe den Korridor zurück, wo ich nach rechts abbiegen muss, um zum Ausgang zu kommen. Ich leuchte mit der Taschenlampe nach links und entdecke gegen Ende des Gangs eine weitere Tür, neben einem Verschlag, der wahrscheinlich die letzte Station der Schweine vor der Schlachtbank ist. Ich zögere kurz, gehe dann nach links, stehe kurz darauf vor der Tür und drehe am Knauf, doch sie ist verschlossen.
Fluchend leuchte ich mit der Taschenlampe zu dem Verschlag, sehe einen steinernen, aber leeren Wassertrog. Auf dem Boden liegen Holzspäne und Stroh, kein Mist. Die schmale halbhohe Klöntür in der Außenwand, die vermutlich in den Verschlag am Gebäude führt, ist geschlossen.
Ich will gerade gehen, als mir am Boden etwas Merkwürdiges ins Auge fällt. Ich leuchte mit der Taschenlampe zwischen den Eisenstäben hindurch direkt auf die Stelle: Es sieht aus wie eine nur unvollständig mit Spänen und Stroh bedeckte Holzplatte.
Neugierig schiebe ich den Riegel zurück, drücke die knarrende Tür auf. Auf halbem Weg klingt es auf einmal hohl unter meinen Füßen. Ich gehe in die Hocke, wische die Späne mit der Hand weg und bemerke, dass ich auf einer Spanplatte stehe.
Die Platte ist etwa einen Quadratmeter groß. Ich trete neben die Platte und hebe sie an einer Ecke an, was mich ziemlich viel Kraft kostet. Staub wirbelt auf, doch als ich es schließlich geschafft habe, traue ich meinen Augen kaum: Ich blicke in ein Loch, in das eine uralte Steintreppe hinunterführt, die in einen schmalen Gang mündet. Die Wände sind aus Holzbalken und bröckligem Stein. Spontan glaube ich, einen alten unterirdischen Schutzraum oder einen Rübenkeller entdeckt zu haben. Doch als ich mit der Taschenlampe die Wände ableuchte, wird mir klar, dass es eine Art unterirdischer Tunnel sein muss.
Warum in Gottes Namen befindet sich hier unter dem Schlachtschuppen der Masts ein unterirdischer Tunnel? Wo führt er hin? Wer benutzt ihn? Und wofür?
Ich blicke auf die Uhr. Es sind erst zehn Minuten vergangen, seit ich um die Unterstützung durch einen Deputy gebeten habe, was heißt, dass er erst in zehn Minuten hier sein wird. Ich ziehe das Telefon aus dem Gürtelclip, drücke die Kurzwahltaste für Tomasetti. Es klingelt einmal, zweimal. Ich gebe es ungern zu, aber insgeheim hoffe ich, dass er nicht dran geht. Weil ich nicht will, dass er sich Sorgen macht, rede ich mir ein, doch in Wirklichkeit will ich nicht, dass er mir auszureden versucht, da runterzugehen. Das wird er aber tun – was ja auch vernünftig ist.
Nach dem vierten Klingeln nimmt er ab, brummt unwillig seinen Namen.
»Die Masts sind involviert.« Ich erzähle ihm schnell von dem Auto und dem Stück Stoff. »Sie hat das Tanktop an dem Tag getragen, als sie sich geprügelt hat.«
»Wo bist du?«
Wegen des lauten Regens kann ich ihn kaum verstehen. »Ich bin noch auf der Farm.«
»Ist jemand vom Sheriffbüro bei dir?«
»Ein Deputy ist unterwegs.«
»Du bist allein?«
Ich will ihm die Gründe erklären, doch er schneidet mir sofort das Wort ab: »Verdammt nochmal, Kate –«
»Tomasetti, ich habe im Schlachtschuppen einen unterirdischen Tunnel entdeckt – der perfekte Ort, um jemanden zu verstecken.«
»Wann trifft der Deputy ein?«
»In zehn Minuten.«
»Ruf da sofort noch mal an, und in der Zwischenzeit tu mir den Gefallen und bleib dem verdammten Tunnel fern.«
Er legt auf, ohne sich zu verabschieden. Kopfschüttelnd drücke ich auf »Beenden«, tippe die Notrufnummer ein, habe die gleiche Frau von vorhin dran und nenne meinen Namen. »Ich muss wissen, wann der Deputy hier ist.«
»Er hat sich vor zehn Minuten auf den Weg gemacht.«
»Sagen Sie ihm über Funk Bescheid, dass er Sirene und Blaulicht anmachen soll.«
»Mach ich.«
Ich danke ihr, klappe das Telefon zu und schiebe es in den Gürtelclip. Der Tunnel scheint uralt zu sein, und ich leuchte mit der Taschenlampe hinab ins Loch. Und da sehe ich die Schuhabdrücke auf der Treppe im Staub – jemand muss vor kurzem da runtergegangen sein.
Ich habe mich schon fast dazu durchgerungen, rauszugehen und vor dem Schuppen auf den Deputy zu warten, als ein Schrei den lauten Regen übertönt. Es ist der Schrei einer Frau und bringt mich völlig aus der Fassung.
»Verdammt«, murmele ich, reiße die .38er aus dem Schulterholster, ziehe mit der linken Hand umständlich das Handy aus dem Gürtelclip und drücke WIEDERWAHL, habe die gleiche Frau aus der Notrufzentrale am Telefon. »Polizei, wie –«
»Hier passiert möglicherweise gerade ein Mord, ich brauche sofort Hilfe.«
»Ma’am, der Deputy ist in sieben Minuten –«
Der Rest des Satzes geht im donnernden Regen unter. Ich weiß nur, dass wer immer dort unten ist, nicht so lange warten kann. »Alarmieren Sie die Highway Patrol –« Ein weiterer Schrei ertönt in der Tiefe. »Und einen Krankenwagen.«
Der Schrei erschüttert mich bis ins Mark. »Verdammt.«
»Ma’am?«
Und in dem Moment weiß ich, dass ich mich nicht an die Vorschriften halten werde. Ich kann nicht hier stehen und warten, wenn irgendwo da unten einem Mädchen weiß Gott was passiert. »Sagen Sie dem Deputy, im Schlachtschuppen führt eine Treppe in einen unterirdischen Tunnel. Ich gehe jetzt da runter.«
Ich klappe das Telefon zu, schiebe es in den Clip, leuchte ins Loch und gehe langsam die Treppe hinunter.