50

Für Laila ist das Leben in Murree beschaulich und voller Annehmlichkeiten. Die Arbeit geht ihr leicht von der Hand, und an den freien Tagen fahren sie, Tarik und die Kinder mit dem Sessellift auf den Patriata oder sie gehen nach Pindi Point, wo man bei klarem Wetter bis nach Islamabad und zur Innenstadt von Rawalpindi sehen kann. Dort breiten sie eine Decke im Gras aus, essen Brote mit Fleischbällchen und Gurkenscheiben und trinken gekühltes Ginger-Ale.

Es ist ein gutes Leben, denkt Laila, ein Leben, für das sie dankbar sein kann. Ja, es ist genau die Art von Leben, die sie sich in der düsteren Zeit mit Raschid immer erträumt hat.

Das ruft sich Laila tagtäglich in Erinnerung.

An einem warmen Abend im Juli 2002 – sie und Tarik sind zu Bett gegangen – unterhalten sie sich im Flüsterton über die Veränderungen in ihrer Heimat. Es sind viele.

Die Koalitionsstreitkräfte haben die Taliban aus jeder größeren Stadt vertrieben und bis ins Grenzland von Pakistan beziehungsweise in die Berge im Süden und Osten Afghanistans zurückgedrängt. Die ISAF, eine von der internationalen Gemeinschaft aufgestellte Friedenstruppe, hat in Kabul Stellung bezogen. Das Land wird jetzt von einem Interimspräsidenten regiert, von Hamid Karzai.

Laila findet, dass es an der Zeit ist, mit Tarik zu sprechen.

Noch vor einem Jahr hat sie alles darangesetzt, um aus Kabul herauszukommen. Doch seit einigen Monaten sehnt sie sich in die Stadt ihrer Kindheit zurück. Sie vermisst das geschäftige Treiben im Shor-Basar, die Gärten von Babur, die Rufe der Wasserträger mit ihren prall gefüllten Schläuchen aus Ziegenleder. Sie vermisst die feilschenden Textilhändler der Hühnerstraße und die Melonenverkäufer im Karteh-Parwan.

Es sind nicht so sehr Heimweh und Nostalgie, die Laila in diesen Tagen so häufig an Kabul denken lassen. Sie wird von Unruhe geplagt. Ihr kommt zu Ohren, dass in Kabul Schulen gebaut und Straßen repariert werden, dass Frauen an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Das Leben in Murree, so dankbar sie auch dafür ist, reicht ihr nicht mehr. Es kommt ihr belanglos vor, schlimmer noch, verschwendet. Seit kurzem hört sie im Geiste Babis Stimme. »Dir stehen alle Türen offen, Laila. Davon bin ich überzeugt. Und ich weiß auch, dass, wenn dieser Krieg vorüber ist, Afghanistan dich genauso nötig haben wird wie seine Männer.«

Sie hört auch Mami und erinnert sich an ihre Antwort auf Babis Vorschlag, Afghanistan zu verlassen. »Ich will den Tag erleben, an dem sich der Traum meiner Söhne verwirklicht. Ich möchte dabei sein, wenn das geschieht, damit meine Söhne durch mich, mit meinen Augen sehen, dass Afghanistan endlich befreit ist.« Nicht zuletzt darum möchte Laila nach Kabul zurückkehren: um Mami und Babi durch ihre eigenen Augen zu zeigen, welche Veränderungen sich zugetragen haben.

Was sie aber regelrecht zwingt, ist Mariams Andenken. Ist sie dafür gestorben?, fragt sich Laila. Hat sie sich geopfert, damit sie, Laila, als Dienstmädchen in einem fremden Land arbeitet? Vielleicht wäre ihr das nicht so wichtig; es ging ihr ja vor allem um ihre, Lailas und der Kinder, Sicherheit. Aber für Laila ist es wichtig. Mit einem Mal ist es ihr sehr wichtig.

»Ich möchte zurück«, sagt sie.

Tarik richtet sich auf und schaut sie an.

Laila ist wieder einmal beeindruckt von seiner Schönheit, der perfekten Wölbung seiner Stirn, den schlanken, muskulösen Armen, seinen nachdenklichen, intelligenten Augen. Es ist ein Jahr vergangen, doch noch immer gibt es Momente wie diesen, wenn Laila kaum fassen kann, dass sie sich wiedergefunden haben, dass sie tatsächlich zusammen sind, als Mann und Frau.

»Zurück? Nach Kabul?«, fragt er.

»Nur, wenn du es auch willst.«

»Bist du hier denn unglücklich? Ich dachte, du wärst zufrieden. Die Kinder sind es jedenfalls.«

Laila richtet sich auf. Tarik rückt zur Seite, um ihr Platz zu machen.

»Ich bin glücklich«, erwidert Laila. »Natürlich bin ich das. Aber … Was wird werden, Tarik? Wie lange sollen wir bleiben? Wir sind hier nicht zu Hause. Unser Zuhause ist Kabul, und da passiert zurzeit jede Menge. Viel Gutes. Ich möchte daran teilhaben. Ich möchte etwas tun. Einen Beitrag leisten. Verstehst du?«

Tarik nickt bedächtig. »Das ist also dein Wunsch. Bist du dir auch sicher?«

»Ja, ich bin mir sicher. Und es ist mehr als ein Wunsch. Ich habe das Gefühl, zurückzu müssen. Es erscheint mir nicht richtig, hierzubleiben.«

Tarik betrachtet seine Hände und sieht ihr dann wieder in die Augen.

»Aber nur, wirklich nur, wenn du es auch willst«, betont Laila.

Tarik lächelt. Die Falte zwischen seinen Brauen verschwindet, und für einen kurzen Moment ist er wieder ganz der Alte, so wie früher, als er noch nicht von Kopfschmerzen geplagt wurde und bemerkenswert fand, dass in Sibirien der aus der Nase tropfende Schnodder noch in der Luft zu Eis gefriert. Vielleicht ist es nur Einbildung, aber Laila meint, dass sie in letzter Zeit diesen Tarik von früher wieder häufiger zu sehen bekommt.

»Ich?«, sagt er. »Ich würde dir bis ans Ende der Welt folgen, Laila.«

Sie zieht ihn an sich und küsst ihn auf den Mund. Es kommt ihr so vor, als hätte sie ihn nie inniger geliebt als in diesem Moment. »Danke«, flüstert sie und lehnt ihren Kopf an seine Stirn.

»Lass uns nach Hause gehen.«

»Aber zuerst möchte ich nach Herat«, sagt sie.

»Herat?«

Sie erklärt ihm, warum.

Den Kindern muss Mut zugesprochen werden, jedem auf seine Weise. Aziza reagiert verstört auf die Pläne ihrer Eltern. Sie leidet immer noch unter Albträumen und hat sich in der vergangenen Woche, als bei einer Hochzeitsfeier Böllerschüsse abgefeuert wurden, fast zu Tode erschrocken. Laila muss ihr versichern, dass die Kämpfe in Kabul eingestellt, die Taliban fort sind und sie auch nicht wieder ins Waisenhaus zurückmuss. »Wir wohnen zusammen. Dein Vater, ich, Zalmai und du, Aziza. Wir werden uns nie trennen, niemals. Das verspreche ich dir.« Sie lächelt. »Es sei denn, du willst dich irgendwann einmal selbständig machen, wenn du dich in einen jungen Mann verliebst und ihn heiraten möchtest.«

An dem Tag, als sie Murree verlassen, ist Zalmai untröstlich. Er schlingt die Arme um Alyonas Hals und will nicht von ihr ablassen.

»Er lässt sich nicht losreißen, Mami«, sagt Aziza.

»Zalmai. Wir können die Ziege nicht mit in den Bus nehmen«, erklärt Laila zum wiederholten Mal.

Erst als Tarik vor ihm niederkniet und ihm verspricht, dass sie sich in Kabul eine Ziege wie Alyona anschaffen werden, gibt Zalmai widerwillig nach.

Beim Abschied von Sajid fließen Tränen. Er wünscht gutes Geleit und hält ihnen an der Türschwelle einen Koran entgegen, den Tarik, Laila und die Kinder dreimal küssen, bevor Sajid ihn über ihre Köpfe hebt und sie darunter hindurch nach draußen gehen. Sajid hilft Tarik dabei, die beiden Koffer ins Auto zu schaffen. Er selbst chauffiert sie zur Haltestelle und winkt ihnen nach, als der Bus abfährt.

Als sich Laila im Sitz umdreht und Sajid im Ausschnitt der Heckscheibe verschwinden sieht, kommen ihr Zweifel. Sie fragt sich, ob es nicht doch töricht ist, Murree, diesen sicheren Ort, zu verlassen und dahin zurückzukehren, wo sich der Rauch der Bomben gerade erst legt?

Doch dann tauchen aus den dunklen Windungen ihrer Erinnerung zwei Gedichtzeilen auf, Babis Abschiedsode an Kabul:

Nicht zu zählen sind die Monde, die auf ihren Dächern schimmern,

noch die tausend strahlenden Sonnen, die verborgen hinter Mauern stecken.

Laila lehnt sich im Sitz zurück und zwinkert Tränen aus den Augen. Kabul wartet. Es braucht Hilfe. Nach Hause zurückzukehren ist richtig.

Aber zuerst muss an anderer Stelle Abschied genommen werden.

Die Kriege in Afghanistan haben die Straßen zwischen Kabul, Herat und Kandahar über weite Strecken verwüstet. Der beste Weg nach Herat führt heute über Mashad im Iran, wo Laila und ihre Familie die Nacht in einem Hotel verbringen. Am nächsten Morgen besteigen sie einen anderen Bus.

Mashad ist eine dicht bevölkerte, geschäftige Stadt. Vom Busfenster aus betrachtet Laila die Parks, Moscheen und Restaurants. Als sie am Heiligen Schrein von Imam Reza, dem achten Schia-Imam, vorbeikommen, reckt sie den Hals, um einen besseren Blick auf die glänzenden Fliesen, die Minarette und die prachtvolle goldene Kuppel zu erhaschen, die alle sorgfältig und liebevoll instand gehalten werden. Laila denkt an die Buddhas ihres Landes, die jetzt zu Staub zerfallen sind und vom Wind über das Tal von Bamiyan verstreut werden.

Fast zehn Stunden lang folgt der Bus der iranisch-afghanischen Grenze. Die Landschaft ist wüst und leer wie fast überall in Afghanistan. Bevor sie bei Herat die Grenze passieren, kommen sie an einem afghanischen Flüchtlingslager vorbei, einem Meer aus gelbem Staub, schwarzen Zelten und windschiefen Wellblechhütten. Laila greift nach Tariks Hand.

In Herat sind die meisten Straßen asphaltiert und von duftenden Kiefern gesäumt. Öffentliche Parks, neu gebaute und noch nicht ganz fertig gestellte Bibliotheken, gepflegte Höfe und frisch gestrichene Gebäude bilden eine ansprechende Kulisse. Die Verkehrsampeln funktionieren, und auf die Stromversorgung ist Verlass, was Laila am meisten überrascht. Sie hat davon gehört, dass Herats feudaler Kriegsherr Ismail Khan den Wiederaufbau der Stadt mit beträchtlichen Summen aus den Zolleinnahmen fördert, die er an der afghanisch-iranischen Grenze eintreibt, Geldern, von denen es in Kabul heißt, dass sie nicht ihm, sondern der Zentralregierung zustehen. Der Taxifahrer, der sie zum Hotel Muwaffaq bringt, spricht Ismail Khans Namen mit Hochachtung und Ehrfurcht aus.

Die beiden Nächte, die sie im Muwaffaq verbringen, kosten sie fast ein Fünftel ihres Ersparten, doch die Fahrt von Mashad war lang und ermüdend; die Kinder sind erschöpft. Der ältliche Portier, der ihnen an der Rezeption den Zimmerschlüssel überreicht, erklärt, dass das Muwaffaq bei internationalen Journalisten und NGO-Helfern sehr beliebt sei.

»Auch bin Laden hat hier einmal übernachtet«, prahlt er.

Das Zimmer hat zwei Betten und einen Waschraum mit fließend kaltem Wasser. Zwischen den Betten hängt ein Porträt des Dichters Khwaja Abdullah Ansari an der Wand. Vom Fenster aus blickt Laila über die verkehrsreiche Straße hinweg auf einen Park mit pastellfarbenen gepflasterten Pfaden und bunten Blumenbeeten. Die Kinder sind enttäuscht, dass es keinen Fernsehapparat im Zimmer gibt. Doch sie sind schon bald eingeschlafen, ebenso Tarik und Laila. Laila schläft tief und fest in Tariks Armen. Mitten in der Nacht schreckt sie aus einem Traum auf, an den sie sich aber nicht erinnern kann.

Am nächsten Morgen, nach einem Frühstück mit Tee und frischem Brot, Quittenmarmelade und gekochten Eiern, bestellt Tarik für Laila ein Taxi.

»Soll ich nicht doch mitkommen?«, fragt er. Laila hält ihn bei der Hand. Zalmai steht neben Tarik und lehnt mit der Schulter an seiner Hüfte.

»Wirklich nicht.«

»Ich mache mir Sorgen.«

»Es wird mir schon nichts passieren«, erwidert sie. »Geh mit den Kindern auf einen Markt und kauf ihnen was Schönes.«

Zalmai fängt zu weinen an, als das Taxi abfährt. Laila schaut zurück und sieht, dass er sich von Tarik auf den Arm nehmen lässt. Dass er Tarik zu akzeptieren lernt, erleichtert Laila, schmerzt sie aber auch ein wenig.

»Sie sind nicht aus Herat«, sagt der Taxifahrer.

Er hat dunkles schulterlanges Haar – wie viele Männer, die sich von den Taliban abzugrenzen versuchen. Eine Narbe teilt seinen Schnauzbart auf der linken Seite. An der Windschutzscheibe klebt das Foto eines jungen Mädchens mit rosigen Wangen und gescheiteltem Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten ist.

Laila vertraut ihm an, dass sie das letzte Jahr in Pakistan verbracht hat und jetzt nach Kabul zurückkehren will. »Deh-Mazang.«

Im Vorüberfahren sieht Laila Kupferschmiede, die Messinggriffe an Trinkgefäße löten, und Sattler, die Rohleder zum Trocknen in die Sonne legen.

»Wohnen Sie schon lange hier in der Stadt, Bruder?«, fragt Laila.

»Zeit meines Lebens. Ich bin hier geboren und habe alles miterlebt. Erinnern Sie sich an den Aufstand?«

Laila sagt ja, was ihn aber nicht davon abhält, die Geschichte noch einmal zu erzählen.

»Das war im März 1979, ungefähr neun Monate vor dem Einmarsch der Sowjets. Eine Gruppe wütender Herati hatte mehrere sowjetische Berater getötet, worauf die Sowjets Panzer und Hubschrauber schickten und Vergeltung übten. Drei Tage lang haben sie die Stadt beschossen, Gebäude in Schutt und Asche gelegt, eines der Minarette zerstört. Tausende sind gestorben. Tausende. Ich selbst habe zwei Schwestern verloren. Die eine war damals erst zwölf Jahre alt.« Er zeigt auf das Foto an der Windschutzscheibe. »Das ist sie.«

»Tut mir leid«, sagt Laila. Ihr ist klar, dass unzählig viele afghanische Biografien von Verlust und Trauer gekennzeichnet sind. Und doch schaffen es diese Menschen weiterzumachen. Laila denkt an ihr eigenes Leben, an das, was ihr widerfahren ist, und staunt darüber, immer noch am Leben zu sein, hier im Taxi zu sitzen und der Geschichte dieses Mannes zuzuhören.

Gul Daman ist eine kleine Ortschaft aus wenigen festen Häusern, die von Mauern umgeben sind, und mehreren flachen, aus Lehm und Stroh gebauten kolbas. Vor den kolbas sieht Laila sonnenverbrannte Frauen vor ihren Kochstellen hocken; die Gesichter sind schweißnass, und aus großen geschwärzten Töpfen, die auf einem provisorischen Holzkohlegrill stehen, steigt Dampf auf. Maultiere fressen aus Trögen. Kinder, die soeben noch Hühnern nachjagten, rennen jetzt dem Taxi hinterher. Männer schieben Karren vor sich her, die mit Feldsteinen gefüllt sind. Sie bleiben stehen und blicken dem Auto nach. Der Chauffeur biegt in eine Kurve ein und fährt an einem Friedhof vorbei, aus dessen Mitte sich ein verwittertes Mausoleum erhebt. Er sagt, dass dort ein Dorf-Sufi begraben liege.

Im Schatten einer Windmühle, deren rostfarbene Flügel stillstehen, kauern drei kleine Jungen im Staub und spielen. Der Fahrer bremst ab und steckt den Kopf durchs Seitenfenster. Der älteste der Jungen antwortet auf seine Frage und zeigt auf ein Haus weiter oben an der Straße. Der Fahrer bedankt sich und fährt bis zu dem Haus vor.

Es ist einstöckig und von einer Hofmauer umgeben, die von Feigenbäumen überragt wird.

»Ich bleibe nicht lange«, erklärt Laila dem Fahrer.

Ein Mann mit kurzem rotblondem Haar öffnet ihr die Tür. Er ist um die vierzig. Seinen Bart durchziehen parallel verlaufende graue Strähnen. Über seinem pirhan-tumban trägt er einen chapan.

Sie grüßen einander. »Salaam alaikum

»Ist dies das Haus von Mullah Faizullah?«, fragt Laila.

»Ja. Ich bin sein Sohn Hamza. Kann ich etwas für Sie tun, hamshireh

»Ich komme wegen einer alten Freundin Ihres Vaters. Ihr Name ist Mariam.«

Hamza zwinkert rätselnd mit den Augen. »Mariam …«

»Die Tochter von Jalil Khan.«

Er zwinkert immer noch. Dann legt er eine Hand an die Wange und zeigt ein Lächeln, das Zahnlücken freilegt. »Oh!«, sagt er. Es klingt wie stimmhaft ausgestoßener Atem. »Oh! Mariam! Sind Sie ihre Tochter? Ist sie …« Er reckt den Hals und blickt suchend über ihre Schulter. »Ist sie hier? Nach all den Jahren! Ist Mariam hier?«

»Ich fürchte, sie lebt nicht mehr.«

Das Lächeln verschwindet aus Hamzas Gesicht.

Betreten schaut er zu Boden. Für eine Weile stehen sie schweigend vor dem Eingang. Irgendwo schreit ein Esel.

»Kommen Sie herein«, sagt Hamza und stößt die Tür auf. »Bitte, treten Sie ein.«

In einem spärlich möblierten Zimmer, das mit einem Herati-Teppich ausgelegt ist, nehmen sie auf perlenbestickten Kissen am Boden Platz. An der Wand hängt ein gerahmtes Foto von Mekka. Sie sitzen vor dem geöffneten Fenster, zu beiden Seiten eines länglichen Rechtecks aus Sonnenlicht. Ein kleiner barfüßiger Junge serviert ihnen grünen Tee und Pistaziennougat auf einem Tablett. Hamza nickt ihm zu.

»Mein Sohn.«

Wortlos verlässt der Junge den Raum.

»Erzählen Sie«, sagt Hamza mit müder Stimme.

Laila berichtet. Sie lässt nichts aus. Es dauert länger, als sie erwartet hat. Zum Ende hin ringt sie um Fassung. Über Mariam zu sprechen fällt ihr auch nach einem Jahr sehr schwer.

Hamza sagt lange Zeit nichts. Er dreht langsam seine Teetasse auf dem Unterteller, mal links-, mal rechtsherum.

»Mein Vater, er möge in Frieden ruhen, hat sie sehr gern gehabt«, sagt er schließlich. »Er hat ihr bei ihrer Geburt den athan ins Ohr gesungen und sie regelmäßig jede Woche einmal besucht. Manchmal hat er mich mitgenommen. Er war ihr Lehrer, ja, aber auch ein Freund. Er war ein sehr großherziger Mann, mein Vater. Es brach ihm fast das Herz, als Jalil Khan seine Tochter weggegeben hat.«

»Dass Ihr Vater nicht mehr lebt, tut mir leid.«

Hamza nickt. »Er ist sehr alt geworden und hat sogar Jalil Khan überlebt. Wir haben ihn auf dem Friedhof des Dorfes begraben. Er liegt ganz in der Nähe von Mariams Mutter. Mein Vater war ein sehr guter, lieber Mann. Ein Platz im Himmel ist ihm sicher.«

Laila stellt ihre Tasse ab.

»Darf ich Sie um etwas bitten?«

»Natürlich.«

»Würden Sie mir zeigen, wo Mariam gelebt hat? Wären Sie so freundlich, mich dorthin zu führen?«

Der Taxifahrer erklärt sich bereit, noch eine Weile zu warten.

Zu Fuß lassen Hamza und Laila das Dorf hinter sich und folgen der abschüssigen Straße, die Gul Daman und Herat verbindet. Nach etwa einer Viertelstunde deutet er auf eine schmale Schneise im hohen Gras, das sich zu beiden Seiten der Straße ausbreitet.

»Hier geht’s lang«, sagt er.

Der Pfad ist überwuchert und nur schwer auszumachen. Hamza geht voraus. Bis zu den Knien taucht Laila im Gras ein, das, vom Wind bewegt, ihre Waden umwogt. Sie steigen bergan. Ringsum entfaltet sich ein buntes Kaleidoskop aus blühenden Wildblumen und breitblättrigen Kräutern. Butterblumen sprießen aus dem Gezweig schütterer Sträucher empor. Laila hört Schwalben in der Luft zwitschern, begleitet vom Zirpen der Grashüpfer am Boden.

Nach etwa zweihundert Metern Steigung ebnet sich der Pfad. Sie halten an und schöpfen Atem. Laila wischt sich mit dem Ärmel über die Stirn und verscheucht einen Schwarm von Stechmücken, der sie umschwirrt. Am Horizont zeigen sich die Berge. Auf ihren Ausläufern sieht sie Pappel- und Weidenhaine und viele verschiedene Wildsträucher, die sie nicht benennen kann.

»Dort war einmal ein Fluss«, erklärt Hamza, ein wenig aus der Puste. »Doch der ist längst ausgetrocknet.«

Er weist ihr den Weg durch das Flussbett und sagt, sie müsse auf die Berge zugehen.

»Ich warte hier.« Er setzt sich unter eine Pappel. »Gehen Sie nur.«

»Aber ich kann Sie doch nicht …«

»Keine Sorge. Und lassen Sie sich ruhig Zeit, hamshireh

Laila bedankt sich. Sie durchquert das Flussbett und tritt von einem Stein auf den anderen. Zwischen dem Geröll liegen zerbrochene Glasflaschen, verrostete Konservendosen und, halb im Bett verschwunden, ein von Schimmel überzogener Metallbehälter mit Zinkdeckel.

Auf die Berge zugehend, nähert sie sich einer Gruppe von Trauerweiden, deren weit ausladende Zweige im Wind schaukeln. Laila spürt das Herz in der Brust pochen. Sie erkennt, dass die Bäume genauso angeordnet sind wie von Mariam beschrieben: im Kreis um eine Lichtung. Laila beschleunigt ihren Schritt, fängt zu laufen an. Sie schaut zurück und sieht Hamza als winzige Gestalt; sein chapan hebt sich hell von den dunklen Stämmen der Pappeln ab. Sie stolpert über einen Stein, fängt sich und eilt den Rest des Weges mit hochgekrempelten Hosenbeinen. Keuchend erreicht sie die Weiden.

Mariams kolba steht noch.

Als sie darauf zugeht, sieht sie, dass der einzige Fensterausschnitt leer und die Tür verschwunden ist. Mariam hatte von einem Hühnergehege gesprochen, von einem tandoor und einem Außenabort, doch davon ist nichts zu sehen. Laila bleibt vorm Eingang der kolba stehen. Im Innern hört sie Fliegen summen.

Um eintreten zu können, muss sie ein großes, dichtes Spinngewebe zerreißen. Es dauert eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit im Raum gewöhnt haben. Was sie dann sieht, ist noch kleiner als in ihrer Vorstellung. Von den Bodendielen sind nur ein paar morsche Bretter übrig geblieben. Der Rest ist wahrscheinlich, so glaubt sie, zum Verfeuern herausgerissen worden. Trockenes Laub und Glasscherben, Kaugummipapier, Pilze und gelbe Zigarettenstummel bilden nun einen Teppich, aus dem Unkraut wuchert. Manches davon ist verkümmert, doch einige Triebe ranken an den Wänden hoch.

Fünfzehn Jahre, denkt Laila. Fünfzehn Jahre an diesem Ort.

Sie setzt sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und lauscht dem Wind in den Weiden. Die Decke ist von Spinnweben überzogen. Jemand hat mit einer Sprühdose einen Schriftzug über die Wand gesprayt, der aber verblichen und nicht mehr zu entziffern ist. Es handelt sich, wie sie dennoch feststellen kann, um kyrillische Zeichen. In einer Ecke liegt ein verwaistes Vogelnest. Im Winkel zwischen Wand und Decke hängt eine Fledermaus.

Laila schließt die Augen.

In Pakistan war es ihr nur schwer möglich, sich Mariams Gesicht mit all seinen Merkmalen in Erinnerung zu rufen. Manchmal blieb ihr Bild abstrakt wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt. Hier aber, an diesem Ort, sieht sie Mariam klar und deutlich vor Augen: ihren sanften Blick, das längliche Kinn, die raue Haut im Nacken, das schmallippige Lächeln. Hier kann Laila wieder ihren Kopf auf Mariams Schoß legen, spüren, wie sie, vor- und zurückschaukelnd, Verse aus dem Koran zitiert, wobei ihre Worte im ganzen Körper widerhallen.

Plötzlich verschwindet das Unkraut, wie von Geisterhand zurück in die Erde gezogen, bis auch der letzte Trieb vom Boden der kolba verschluckt ist. Auf geheimnisvolle Weise entspinnt sich das Spinngewebe. Das Vogelnest zerfällt in seine Bestandteile, die eins ums andere zum Fenster hinausfliegen. Ein unsichtbarer Radiergummi löscht das russische Graffito von der Wand.

Die Bodendielen kehren zurück. Laila sieht nun zwei Schlafstellen, einen Holztisch, zwei Stühle, in der Ecke einen gusseisernen Ofen, Regalbretter entlang den Wänden, darauf Tongefäße und Pfannen, einen verrußten Teekessel, Tassen und Löffel. Draußen hört sie Hühner gackern, das Gurgeln des Flusses in der Ferne.

Mariam sitzt als junges Mädchen am Tisch und bastelt im Licht einer Öllampe eine Puppe aus Stoff. Sie summt eine Melodie vor sich hin. Ihr Gesicht ist glatt, das Haar gewaschen und zurückgekämmt. Sie hat noch all ihre Zähne.

Laila beobachtet sie dabei, wie sie der Puppe Wollfäden an den Kopf klebt. In ein paar Jahren wird das Mädchen eine Frau sein, die eigene bescheidene Ansprüche an das Leben stellt, ohne irgendeinem Menschen zur Last zu fallen. Sie wird niemanden mit ihren Sorgen, Nöten und Enttäuschungen behelligen. Sie wird eine Frau sein, die klaglos duldet und gleich einem Fels im Flussbett den Turbulenzen, die über sie hinweggehen, standhält und Gestalt annimmt. Schon jetzt erkennt Laila hinter den Augen des Mädchens jenen festen inneren Kern, den weder Raschid noch die Taliban zu brechen vermögen. Er wird ihr am Ende selbst zum Verhängnis und wird Lailas Rettung bewirken.

Das Mädchen blickt auf, legt die Puppe nieder und lächelt.

Laila jo?

Laila zuckt zusammen und reißt die Augen auf. Von ihr aufgeschreckt, schwirrt die Fledermaus durch die kolba. Ihre Flügel flattern wie Buchseiten. Sie fliegt zum Fenster hinaus.

Laila steht auf und klopft sich das Laub vom Hosenboden. Sie tritt nach draußen. Die Sonne ist ein Stück weitergerückt. Der Wind hat zugenommen. Das Gras wogt und die Zweige der Weiden schlagen aneinander.

Bevor sie die Lichtung verlässt, wirft Laila einen letzten Blick auf die kolba, in der Mariam geschlafen, gegessen, geträumt und bangend auf Jalil gewartet hat. Die Weiden werfen ein bizarres Schattenmuster auf die bröckelnden Wände der Hütte. Auf dem Flachdach hat sich eine Krähe niedergelassen. Sie pickt, krächzt und fliegt davon.

»Adieu, Mariam.«

Laila tritt den Rückweg an; sie bemerkt nicht, dass ihr Tränen fließen.

Hamza sitzt immer noch unter der Pappel. Er steht auf, als er sie kommen sieht.

»Fahren wir«, sagt er. Dann: »Ich habe Ihnen noch etwas zu geben.«

Laila wartet auf Hamza draußen im Garten. Der Junge, der ihnen Tee serviert hat, steht mit einem Huhn im Arm unter einem der Feigenbäume und beobachtet sie mit ausdrucksloser Miene. Hinter einem Fenster entdeckt Laila zwei Gesichter, das einer alten und das einer jungen Frau. Beide tragen hijab.

Die Haustür öffnet sich. Hamza tritt ihr entgegen. Er hält eine Dose in den Händen.

»Die hat Jalil Khan meinem Vater gegeben, ungefähr einen Monat bevor er starb«, sagt er. »Er bat ihn, sie in Verwahrung zu nehmen und Mariam auszuhändigen, falls sie irgendwann einmal kommen sollte. Zwei Jahre später, kurz vor seinem Tod, hat mir mein Vater diese Dose anvertraut, mit der Bitte, sie für Mariam aufzubewahren. Aber … Sie wissen ja, sie ist nie gekommen.«

Laila betrachtet die ovale Blechdose, eine alte Bonbonniere, wie es scheint. Sie ist olivgrün und am Rand des zerkratzten Deckels mit goldenen Ornamenten verziert. Die Seiten haben ein paar Rostflecken, und am vorderen Rand des Deckels sind zwei kleine Dellen zu sehen.

Laila nimmt die Dose entgegen und versucht, sie zu öffnen, doch der Deckel ist verschlossen.

»Was ist da drin?«, fragt sie.

Hamza reicht ihr einen Schlüssel. »Wir haben nie nachgeschaut. Ich vermute, es ist Gottes Wille, dass Jalils Hinterlassenschaft für Mariam nun an Sie übergeht.«

Tarik und die Kinder sind noch unterwegs, als Laila ins Hotel zurückkommt.

Sie setzt sich auf das Bett und legt die Dose in den Schoß. Sie zu öffnen und Jalils Geheimnis zu lüften widerstrebt ihr, doch die Neugier setzt sich durch. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss. Es klemmt ein wenig, springt aber schließlich auf.

In der Dose befinden sich ein Brief, ein Beutel aus Sackleinen und eine Videokassette.

Mit der Kassette geht Laila hinunter zur Rezeption, wo ihr der ältliche Portier, der sie am Vortag in Empfang genommen hat, mitteilt, dass es im Hotel nur einen Rekorder gebe, in der größten Suite, die zurzeit jedoch nicht belegt sei. Der Portier erklärt sich bereit, sie hinzuführen. Er lässt sich von einem jungen, Anzug tragenden Mann mit Schnauzbart vertreten, der ein Funktelefon am Ohr hält.

Der Portier führt Laila in den zweiten Stock und durch einen langen Flur an eine Tür. Er schließt auf und lässt sie eintreten. Laila sieht den Fernseher in der Ecke stehen. Für alles andere hat sie keinen Blick.

Sie schaltet Fernseher und Rekorder ein, legt die Kassette ein und drückt auf Wiedergabe. Der Bildschirm bleibt für eine Weile schwarz, und Laila fragt sich schon, warum Jalil seiner Tochter ein unbespieltes Band hinterlassen hat. Dann aber ist Musik zu hören; auf der Mattscheibe erscheinen Bilder.

Laila legt die Stirn in Falten. Nach einer oder zwei Minuten hält sie das Band an, lässt es schnell vorlaufen und drückt erneut auf Wiedergabe. Es ist immer noch derselbe Film.

Der alte Mann schaut sie fragend an.

Zu sehen ist Walt Disneys Pinocchio. Laila versteht nicht.

Kurz nach sechs kehrt Tarik mit den Kindern ins Hotel zurück. Aziza läuft auf Laila zu und zeigt ihr die Ohrringe, die Tarik ihr gekauft hat: emaillierte Schmetterlinge in silberner Fassung. Zalmai hält einen Delfin in den Händen, der quietscht, wenn man ihm aufs Maul drückt.

»Wie geht’s dir?«, fragt Tarik und legt ihr einen Arm um die Schulter.

»Bestens«, antwortet Laila. »Ich berichte dir später.«

Sie gehen in ein nahe gelegenes Kebab-Haus, um zu Abend zu essen. Der kleine Gastraum ist verraucht und laut; die Plastikdecken auf den Tischen sind klebrig. Aber das Lammfleisch ist zart und saftig, das Brot frisch gebacken. Nach dem Essen bummeln sie noch eine Weile durch die Straßen. Tarik spendiert den Kindern Rosenwassereis, das er einem Straßenhändler abkauft. Sie machen es sich auf einer Bank bequem; die Berge im Rücken ragen dunkel in den scharlachroten Abendhimmel auf. Die warme Luft ist von Zedernduft erfüllt.

Nachdem sie sich das Video angesehen hatte, war Laila auf ihr Zimmer zurückgegangen, wo sie den Briefumschlag öffnete. Darin steckten mehrere Blätter linierten gelben Papiers, mit blauer Tinte von Hand beschrieben.

Darauf stand zu lesen:

13. Mai 1987

Meine liebe Mariam,

ich hoffe, der Brief erreicht Dich bei guter Gesundheit.

Wie Du weißt, bin ich vor einem Monat in Kabul gewesen, in der Hoffnung, Dich sprechen zu können. Aber Du wolltest mich nicht sehen. Ich war enttäuscht, kann Dir aber keinen Vorwurf machen. An Deiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich ähnlich verhalten. Ich habe das Privileg Deiner Gunst vor langer Zeit verloren, und dafür trage ich die Schuld allein. Aber wenn Du diese Zeilen liest, hast Du auch gelesen, was in dem Brief stand, den ich Dir vor die Haustür gelegt habe. Du hast ihn gelesen und Mullah Faizullah aufgesucht, worum ich Dich gebeten habe. Dafür bin ich Dir dankbar, Mariam jo . Ich danke Dir, dass Du mir die Möglichkeit gibst, noch ein paar Worte an Dich zu richten.

Wo soll ich anfangen?

Seit unserer letzten Begegnung habe ich, Dein Vater, viel Kummer erfahren. Deine Stiefmutter Afsoon wurde am ersten Tag des Aufstands von 1970 getötet. Am selben Tag starb auch Deine Schwester Niloufar, tödlich verletzt von einem Querschläger. Ich sehe sie noch vor mir, meine kleine Niloufar, wie sie auf den Händen stand, um Gäste zu beeindrucken. Dein Bruder Farhad schloss sich 1980 dem Dschihad an. Zwei Jahre später wurde er vor Helmand von den Sowjets erschossen. Seinen Leichnam habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht, ob Du, Mariam jo , Kinder hast. Wenn ja, bete ich zu Gott, dass er sie beschützen und Dir den Kummer ersparen möge, der mich getroffen hat. Ich träume immerzu von ihnen, von meinen lieben Kindern.

Auch von Dir, Mariam jo , träume ich. Du fehlst mir. Ich vermisse den Klang Deiner Stimme, Dein Lachen. Mit Wehmut denke ich an die Zeit zurück, in der ich Dir aus Zeitungen vorgelesen und mit Dir am Fluss geangelt habe. Weißt Du noch, wie oft wir zusammen fischen waren? Du warst eine gute Tochter, Mariam jo , und es erfüllt mich mit Scham und Bedauern, dass ich Dir kein guter Vater gewesen bin. Ja, ich bedauere zutiefst, dass ich Dich an dem Tag, als Du nach Herat gekommen bist, nicht willkommen geheißen und Dir nicht die Tür geöffnet habe. Ich bedauere, Dich nach all den Jahren unseres Zusammenseins nicht in meine Familie aufgenommen zu haben. Und was waren das für Gründe, die mich davon abhielten? Die Sorge, das Gesicht und den vermeintlich guten Ruf zu verlieren? Ach, wie wenig bedeuten mir solche Gründe jetzt, nach all den Verlusten, nach all den schrecklichen Dingen, die dieser verfluchte Krieg mit sich gebracht hat. Aber zur Reue ist es natürlich zu spät. Vielleicht ist es eine gerechte Strafe für herzlose Menschen, dass sie erst dann zur Einsicht gelangen, wenn sie nichts wiedergutmachen können. Mir bleibt nur zu sagen, dass Du eine gute Tochter warst, Mariam jo , und ich kann Dich nur noch um Verzeihung bitten. Vergib mir, Mariam jo . Vergib mir. Vergib mir. Vergib mir.

Ich bin nicht mehr der vermögende Mann, als den Du mich kennst. Die Kommunisten haben einen Großteil meiner Ländereien und alle Geschäfte beschlagnahmt. Doch darüber zu klagen wäre kleinlich, denn Gott hat mich aus unerfindlichen Gründen trotz allem über die Maßen beschenkt. Nach meiner Rückkehr aus Kabul ist es mir gelungen, den mir verbliebenen Landbesitz zu verkaufen. Ich lasse Dir mit diesem Brief Deinen Anteil an meinem Nachlass zukommen. Wie Du siehst, ist es beileibe kein Vermögen, aber immerhin doch etwas. (Dir wird auch aufgefallen sein, dass ich mir die Freiheit genommen habe, das Geld in Dollars zu wechseln. Ich glaube, es ist besser so. Gott allein weiß, was aus unserer kranken Währung werden wird.)

Du wirst hoffentlich nicht denken, dass ich mir Deine Vergebung zu erkaufen versuche. Allein der Gedanke liegt mir fern, denn ich weiß sehr wohl, dass sie nicht zum Verkauf steht. Ich gebe Dir nur, wenn auch verspätet, das, was Dir von Rechts wegen immer schon zustand. Zu Lebzeiten war ich Dir kein treusorgender Vater. Vielleicht kann ich’s im Tod sein.

Ja, ich sehe nun meinen Tod vor Augen, will Dich aber nicht mit Einzelheiten belasten. Herzschwäche, sagen die Ärzte – ein, wie mir scheint, passender Abgang für einen schwachen Mann.

Mariam jo ,

ich wage zu hoffen, dass Du mir, wenn Du diesen Brief gelesen hast, wohlgesinnter bist als ich es Dir gegenüber war, dass Du Dir vielleicht ein Herz fasst und mich aufsuchst. Dass Du noch einmal an meine Tür klopfst und mir Gelegenheit gibst, Dich willkommen zu heißen und in meine Arme zu schließen, was ich schon vor all den Jahren hätte tun sollen. Ich weiß, diese Hoffnung ist kaum begründet und so schwach wie mein Herz. Aber ich werde warten und hoffen, dass Du anklopfst.

Möge Dir Gott ein langes, gesegnetes Leben und viele gesunde Kinder schenken. Ich wünsche Dir Glück, Frieden und die Anerkennung, die ich Dir vorenthalten habe. Leb wohl. Ich weiß Dich in Gottes liebender Hand.

Dein nichtswürdiger Vater

Jalil

Als die Kinder zu Bett gegangen sind, berichtet Laila Tarik von dem Brief. Sie zeigt ihm das Geld in dem sackleinenen Beutel. Als sie zu weinen anfängt, gibt er ihr einen Kuss und schließt sie in seine Arme.