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Laila

Für Laila gab es nichts Schöneres, als neben Aziza zu liegen, so dicht vor ihrem Gesicht, dass sie die großen Pupillen sehen konnte, wie sie sich weiteten und zusammenzogen. Sie liebte es, Azizas weiche Haut zu streicheln, mit dem Finger über die Grübchen in den Handknöcheln zu fahren oder die Pölsterchen am Ellbogen zu befühlen. Manchmal legte sie sich Aziza auf die Brust und erzählte ihr flüsternd von Tarik, dem Vater, der ihr immer fremd bleiben und den sie nie zu Gesicht bekommen würde. Sie erzählte ihr von seinen Streichen, dem Unfug, den er angestellt hatte, von seinem herzhaften Lachen und davon, wie gut er im Lösen von Rätseln gewesen war.

»Er hatte die hübschesten Wimpern, die so lang wie deine waren, ein kräftiges Kinn, eine schmale Nase und eine gewölbte Stirn. Ja, dein Vater, Aziza, sah wirklich toll aus. Er war vollkommen. Vollkommen, wie du es bist.«

Doch Laila hütete sich, seinen Namen auszusprechen.

Manchmal ertappte sie Raschid dabei, dass er Aziza auf höchst sonderbare Weise musterte. Eines Abends – er saß auf dem Schlafzimmerboden und hobelte sich ein Hühnerauge vom Fuß – fragte er wie beiläufig: »Na, wie war das eigentlich so, zwischen euch beiden?«

Laila warf ihm einen verwunderten Blick zu und tat so, als ob sie ihn nicht verstünde.

»Laila und Madschnun. Zwischen dir und dem yaklenga, dem Krüppel. Was lief da zwischen euch?«

»Er war mein Freund«, sagte sie, vorsichtig darauf bedacht, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Sie war gerade dabei, ein Fläschchen für die Kleine fertig zu machen. »Das weißt du.«

»Mir geht’s nicht um das, was ich weiß.« Raschid legte das Messer auf den Fenstersims und ließ sich ins Bett fallen. Die Federn protestierten mit lautem Quietschen. Er spreizte die Beine und griff sich in den Schritt. »Habt ihr als … Freunde irgendetwas angestellt, was nicht in Ordnung war?«

»Nicht in Ordnung?«

Raschid schmunzelte leutselig, doch sie spürte seinen kalten, wachsamen Blick auf sich. »Nun, hat er dir jemals einen Kuss gegeben? Dir womöglich seine Hand auf Stellen gelegt, wo sie nicht hingehört hat?«

Laila gab sich empört und hoffte, damit zu überzeugen. Sie spürte das Herz im Hals schlagen. »Er war mir wie ein Bruder.«

»Was war er denn nun, Freund oder Bruder?«

»Beides, er …«

»Wie bitte?«

»Er war mir beides.«

»Brüder und Schwestern sind neugierige Wesen. Ja. Ein Bruder zeigt seiner Schwester manchmal sein Piephahn, und eine Schwester …«

»Du bist ekelhaft«, sagte Laila.

»Es war also nichts.«

»Ich will davon nichts mehr hören.«

Raschid legte den Kopf zur Seite, schürzte die Lippen und nickte. »Es wurde getratscht. Ich weiß davon. Man konnte allerlei über euch hören. Aber du behauptest, da war nichts.«

Sie musste sich überwinden, ihm ins Gesicht zu sehen.

Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt er ihrem Blick stand, was sie so einschüchterte, dass es ihr nur mit letzter Kraftanstrengung gelang, die Fassung zu bewahren. Die Knöchel der Hand, mit der sie die Milchflasche umklammert hielt, liefen weiß an.

Sie erzitterte bei dem Gedanken an das, was zu befürchten wäre, fände er heraus, dass sie ihn bestahl. Seit Azizas Geburt vergriff sie sich Woche für Woche an seiner Brieftasche, wenn er schlief oder außer Haus war, und entwendete ihr jeweils einen Schein. Manchmal, wenn wenig Geld darin war, nahm sie nur einen Fünfer oder gar nichts, aus Angst, er könnte es bemerken. War die Brieftasche aber prall gefüllt, riskierte sie es, einen Zehner oder Zwanziger zu nehmen. Einmal stahl sie sogar zwei Zwanziger. Das Geld versteckte sie in einer Tasche, die sie in das Futter ihres karierten Wintermantels eingenäht hatte.

Sie fragte sich, was er täte, wenn er erführe, dass sie im kommenden Frühling die Flucht ergreifen wollte. Spätestens im nächsten Sommer. Bis dahin hoffte Laila, rund tausend Afghanis oder mehr zurückgelegt zu haben. Die Hälfte davon würde sie allein schon für die Busfahrkarte von Kabul nach Peschawar ausgeben müssen. Wenn es so weit war, wollte sie den Ehering zum Pfandhaus bringen, wie auch den anderen Schmuck, den Raschid ihr geschenkt hatte, als sie noch die malika in seinem Schloss gewesen war.

»Sei’s drum«, sagte er schließlich und trommelte sich mit den Fingern auf den Bauch. »Mir kann man keinen Vorwurf machen. Ich bin ein verheirateter Mann, und als solcher mache ich mir meine eigenen Gedanken. Nur gut, dass er tot ist. Denn wenn er jetzt hier wäre, wenn ich ihn zu fassen bekäme …« Er saugte an seinen Zähnen und schüttelte den Kopf.

»Ich dachte, man sollte nicht schlecht über Tote reden.«

»Manche können gar nicht tot genug sein«, entgegnete er.

Zwei Tage später fand Laila, als sie aus dem Bett gestiegen war, einen Stapel sorgfältig gefalteter Kinderkleider vor der Schlafzimmertür: ein glockenförmiges Röckchen mit kleinen aufgenähten rosafarbenen Fischen, ein blaues, blumig gemustertes Wollkleid, dazu passende Socken und Handschuhe, ein gelbes Nachthemd mit orangefarbenen Punkten und eine grüne Baumwollhose mit gepunkteten Aufschlägen.

»Es heißt, dass sich Dostum auf die Seite Hekmatyars schlagen will«, sagte Raschid eines Abends bei Tisch. Von Aziza und ihrem neuen Nachthemd nahm er keinerlei Notiz. »Massoud wird alle Hände voll zu tun haben, wenn die beiden geschlossen gegen ihn antreten. Und dann dürfen wir die Hazaras nicht vergessen.« Er nahm einen Löffel von dem Pfirsichkompott, das Mariam im Sommer eingemacht hatte. »Hoffen wir, dass es sich nur um ein Gerücht handelt. Denn wenn es wirklich dazu kommen sollte, wird das, was wir bislang erlebt haben, nur ein harmloses Vorgeplänkel gewesen sein«, sagte er und winkte bedeutungsvoll mit der Hand.

Später bestieg er Laila und erleichterte sich in stummer Hast, voll angezogen bis auf seinen tumban, den er bis auf die Fußgelenke heruntergezogen hatte. Als er fertig war, wälzte er sich zur Seite und war Minuten später eingeschlafen.

Laila schlich aus dem Schlafzimmer und fand Mariam in der Küche vor, wo sie am Boden hockte und zwei Forellen ausnahm. In einem Topf, der hinter ihr stand, wässerte Reis. Es roch nach Kreuzkümmel und Rauch, gerösteten Zwiebeln und Fisch.

Laila setzte sich in einer Ecke auf den Boden und streifte den Saum des Kleides über die Knie.

»Danke«, sagte sie.

Mariam beachtete sie nicht. Sie hatte gerade die erste Forelle ausgenommen und griff zur zweiten. Mit einem Sägemesser trennte sie die Flossen ab und schlitzte dann den Bauch vom Schwanz bis zum Kopf auf. Laila sah zu, wie sie den Daumen in das aufgeschnittene Maul steckte und mit einer geschickten Handbewegung die Kiemen und sämtliche Innereien entfernte.

»Die Sachen sind wunderschön.«

»Ich hatte keine Verwendung dafür«, murmelte Mariam. Sie legte den Fisch auf ein mit grauem klebrigem Saft verschmiertes Zeitungsblatt und trennte den Kopf ab. »Entweder sie kommen deiner Tochter oder den Motten zugute.«

»Wo hast du gelernt, Fische auszunehmen?«

»Ich habe als Kind am Ufer eines Flusses gelebt und schon früh damit angefangen, Fische zu fangen.«

»Das habe ich noch nie getan.«

»Ist nicht schwierig. Man muss nur Geduld haben.«

Mariam zerteilte den Fisch in drei Teile.

»Wann hast du die Kleider genäht?«, wollte Laila wissen.

Mariam wusch die Fischteile in einer Schale mit Wasser. »Als ich das erste Mal schwanger war. Vor achtzehn, neunzehn Jahren. Ich weiß es nicht mehr genau. Wie gesagt, ich hatte keine Verwendung dafür.«

»Du bist eine gute khayat. Vielleicht könntest du mir was beibringen.«

Mariam legte die gesäuberten Stücke in eine saubere Schüssel. Wasser tropfte von ihren Fingerspitzen, als sie den Kopf hob und Laila anschaute. Es war, als sähe sie sie zum ersten Mal.

»Damals, in der Nacht, als er … Mich hat noch nie jemand in Schutz genommen«, sagte sie.

Laila betrachtete die schlaffen Wangen, die in müde Falten eingebetteten Augenlider, die tiefen Linien unter den Mundwinkeln. Sie schien all dies erst jetzt zur Kenntnis zu nehmen. Und es war nicht das Gesicht einer Rivalin, das Laila sah, sondern eines, das von unaussprechlichem Kummer zeugte, von klaglos erduldeten Zumutungen und der Fügung in ein hartes Los. Würde sie selbst, so fragte sich Laila, in zwanzig Jahren genauso aussehen, wenn sie bliebe?

»Ich konnte es nicht zulassen«, sagte Laila. »Da, wo ich aufgewachsen bin, gab es solche Ausfälle nicht.«

»Aber jetzt lebst du hier und solltest dich daran gewöhnen.«

»Daran? Niemals.«

»Er wird sich auch an dir vergreifen«, sagte Mariam und wischte sich die Hände an einem Lappen trocken. »Und das schon bald. Selbst der frischeste Fisch riecht nach ein paar Tagen. Und du hast ihm eine Tochter gegeben. Das verzeiht er noch weniger als mein Missgeschick.«

Laila stand auf. »Es ist zwar kühl draußen, aber was hältst du davon, wenn wir zwei im Hof eine Tasse chai trinken?«

Mariam schaute sie verwundert an. »Das geht nicht. Ich muss noch die Bohnen schneiden und waschen.«

»Dabei helfe ich dir morgen.«

»Und ich möchte noch aufräumen.«

»Auch das können wir zusammen tun. Ist nicht noch was vom halwa übrig geblieben? Das wäre jetzt genau das Richtige zum chai

Mariam legte den Lappen auf die Anrichte. Sichtlich befangen zupfte sie an ihren Ärmeln, richtete ihre hijab und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

»Die Chinesen sagen, dass man eher drei Tage aufs Essen verzichten kann als einen Tag auf Tee.«

Mariam lächelte matt. »Da könnte was dran sein.«

»So ist es.«

»Aber viel Zeit habe ich nicht.«

»Nur für eine Tasse.«

Sie gingen in den Hof, setzten sich auf Klappstühle und aßen mit den Fingern aus einer Schale halwa. Nach der zweiten Tasse schlug Laila vor, auch noch auf eine dritte zu bleiben, und Mariam stimmte zu. Von den Bergen hallte Gewehrfeuer. Wolken schoben sich vor den Mond, und die letzten Glühwürmchen schrieben helle gelbe Spuren in die Nacht. Irgendwann wachte Aziza auf und fing zu schreien an. Raschid brüllte von oben, Laila solle sofort kommen und sie zur Ruhe bringen. Die beiden Frauen sahen einander an. Es war ein unverstellter Blick, der zu verstehen gab, dass sie sich in ihrer Not verbunden fühlten. Dieser flüchtige, wortlose Austausch ließ keinen Zweifel mehr daran, dass ihre Feindschaft beigelegt war.