40
Laila
Herbst 1999
Das Loch zu graben ging auf Mariams Vorschlag zurück. Eines Morgens zeigte sie auf eine Stelle hinter dem Werkzeugschuppen. »Da wär’s gut«, sagte sie. »Versuchen wir’s.«
Sie wechselten sich dabei ab, den Boden mit einem Spaten zu lockern und die lose Erde beiseitezuschaufeln. Es sollte kein großes oder tiefes Loch werden, und doch kostete die Arbeit mehr Kraft als gedacht. Seit 1998 herrschte Dürre, nun schon im zweiten Jahr und mit verheerenden Auswirkungen für das ganze Land. Im vergangenen Winter hatte es kaum geschneit, und während des Frühlings war kein Tropfen Regen gefallen. Überall in Afghanistan waren Bauern gezwungen, ihr Hab und Gut zu verkaufen, ihre ausgetrockneten Felder zu verlassen und auf der Suche nach Wasser von Dorf zu Dorf zu ziehen. Sie wanderten nach Pakistan aus oder in den Iran. Viele versuchten, in Kabul Fuß zu fassen. Aber auch dort waren die Wasservorräte fast aufgebraucht und alle weniger tiefen Brunnen versiegt. Vor den tiefen Brunnen standen Laila und Mariam oft stundenlang Schlange, bis sie endlich an die Reihe kamen und Wasser schöpfen konnten. Das Flussbett des Kabul war knochentrocken, voller Unrat und Abfall.
Und so mühten sie sich mit dem Spaten ab, denn der von der Sonne gebackene Boden war wie versteinert.
Mariam war in diesem Jahr vierzig geworden. Das über der Stirn aufgerollte Haar zeigte graue Strähnen. Unter den Augen hing die Haut in braunen halbmondförmigen Falten herab. Zwei Schneidezähne fehlten; der eine war von allein ausgefallen, der andere von Raschid herausgeschlagen worden, nachdem sie Zalmai aus Versehen fallen gelassen hatte. Ihre Haut war wie gegerbt von den vielen Stunden unter glühender Sonne im Hof, wo sie Zalmai und Aziza beim Spielen beaufsichtigte.
»Das müsste reichen«, sagte Mariam, als ihr das Loch tief genug erschien. Die beiden Frauen traten zurück und betrachteten ihr Werk.
Zalmai war jetzt zwei, ein strammer kleiner Junge mit lockigem Haar. Er hatte wie Raschid braune Augen, und seine Wangen waren immer rosig, bei jedem Wetter. Auch den tiefen, wie abgezirkelten Haaransatz hatte er von seinem Vater.
Allein mit seiner Mutter, war Zalmai freundlich und verspielt. Er liebte es, auf ihre Schultern zu klettern oder mit Aziza im Hof Verstecken zu spielen, auch stieg er gern auf Lailas Schoß und ließ sich etwas von ihr vorsingen. Sein Lieblingslied war »Mullah Mohammad jan«. Wenn sie ihm die Verse ins Ohr sang, wippte er mit den runden kleinen Füßen im Takt und stimmte in den Refrain mit seiner heiseren Stimme ein.
Komm und lass uns nach Mazar gehn,
Mullah Mohammad jan,
die Tulpenfelder dort zu sehn,
mein lieber kleiner Kumpan.
Laila liebte Zalmais feuchte Küsse auf ihren Wangen, die Grübchen an den Ellbogen und seine kräftigen kleinen Zehen. Sie liebte es, ihn zu kitzeln, aus Kisten und Polstern Höhlengänge zu bauen, durch die er dann zu krabbeln versuchte, oder ihn in den Armen zu wiegen, bis er einschlief, wobei er immer eins ihrer Ohren mit der Hand gefasst hielt. Ihr wurde schlecht, wenn sie an jenen Nachmittag zurückdachte, als sie mit der Fahrradspeiche zwischen den Beinen am Boden gelegen hatte. Es war für sie nicht mehr nachzuvollziehen, dass sie eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen hatte. Sie sah in ihrem Sohn ein Geschenk und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass ihre Sorgen unbegründet waren, denn sie liebte ihn von ganzem Herzen, genauso sehr wie Aziza.
Vor allem aber hing Zalmai an seinem Vater, und wenn Raschid ihn verwöhnte, war der Kleine wie ausgewechselt. In Raschids Gegenwart verhielt er sich trotzig und eigensinnig; er war dann auch schnell beleidigt, bockig und ließ sich von Laila nichts sagen.
Raschid hatte Gefallen daran. »Der Junge beweist Intelligenz«, sagte er und klatschte auch Beifall, wenn Zalmai übermütig wurde, Murmeln verschluckte, mit Streichhölzern spielte und an Raschids Zigarettenstummeln lutschte.
Als Zalmai zur Welt gekommen war, hatte Raschid darauf bestanden, dass er im Bett seiner Eltern schlief. Später hatte er ihm eine neue Wiege gekauft, deren Seiten mit Bildern von Löwen und kauernden Leoparden bemalt waren. Er kaufte auch neue Kleidung, Rasseln, neue Flaschen und neue Windeln, obwohl sie sich diese Ausgaben nicht leisten konnten und die alten Sachen von Aziza durchaus genügt hätten. Eines Tages kam er nach Hause und hängte ein batteriebetriebenes Mobile über Zalmais Wiege – eine Plastiksonnenblume, um die kleine schwarz-gelbe Hummeln schwirrten, die quietschten, wenn man sie drückte. Dazu erklang eine Melodie.
»Ich dachte, die Geschäfte gehen nicht gut«, sagte Laila.
»Ich habe Freunde, von denen ich mir Geld leihen kann«, entgegnete er unwirsch.
»Wie willst du die Schulden jemals begleichen?«
»Es kommen auch wieder andere Zeiten. Ihm gefällt’s. Siehst du?«
Tagsüber musste Laila meist auf ihren Sohn verzichten. Raschid nahm ihn mit in seinen Laden, wo er ihn über die Werkbank krabbeln und mit alten Gummisohlen oder Lederresten spielen ließ. Während er Absätze festnagelte oder an der Schleifmaschine arbeitete, behielt er seinen Sohn immer im Blick. Wenn Zalmai ein Schuhregal zum Kippen brachte, erteilte ihm Raschid eine freundliche Rüge und lächelte dabei. Wenn er es wieder tat, legte Raschid den Hammer aus der Hand, setzte ihn auf die Werkbank und versuchte, vernünftig auf ihn einzureden.
Seine Geduld, die er Zalmai entgegenbrachte, war ein tiefer Brunnen, der nie austrocknete.
Wenn sie am Abend zurückkehrten, thronte Zalmai auf seinen Schultern und wackelte mit dem Kopf. Beide rochen nach Leim und Leder. Sie schmunzelten verschlagen, als hätten sie, anstatt Schuhe zu flicken, den ganzen Tag geheime Pläne geschmiedet. Zalmai saß beim Abendessen immer neben seinem Vater. Die beiden neckten sich, während Mariam, Laila und Aziza die Teller auf der sofrah verteilten. Sie stupsten einander mit ausgestreckten Fingern an, bewarfen sich mit Brotkrumen, kicherten und tuschelten miteinander. Wenn Laila ein Wort an sie richtete, zeigte sich Raschid über ihre Einmischung verärgert. Wenn sie darum bat, Zalmai auf den Arm nehmen zu dürfen – oder schlimmer noch, wenn Zalmai von sich aus zu ihr wollte –, verfinsterte sich Raschids Miene.
Laila verspürte dann jedes Mal einen Stich und zog sich zurück.
Eines Abends, wenige Wochen nach Zalmais drittem Geburtstag, kam Raschid mit einem Fernsehgerät und einem Videorekorder nach Hause zurück. Es war ein milder Tag gewesen, doch zum Abend hatte es merklich abgekühlt, und die Nacht versprach, kalt zu werden.
Er stellte seine Errungenschaften auf dem Wohnzimmertisch ab und sagte, dass er sie auf dem Schwarzmarkt erstanden habe.
»Wieder mit geborgtem Geld?«, fragte Laila.
»Das ist ein Magnavox.«
Aziza kam ins Zimmer. Als sie den Fernseher sah, lief sie darauf zu.
»Vorsicht, Aziza jo«, sagte Mariam. »Nicht berühren.«
Azizas Haar war inzwischen so hell wie das ihrer Mutter, und in den Grübchen auf ihren Wangen erkannte Laila ihre eigenen wieder. Aziza hatte sich zu einem ruhigen, nachdenklichen kleinen Mädchen gemausert und legte ein Verhalten an den Tag, das, wie Laila fand, sehr viel reifer war, als man es von einem sechsjährigen Kind erwarten konnte. Laila staunte über die Sprachfertigkeit ihrer Tochter, über Tonfall und Wortwahl, über die besonnenen Pausen und Hebungen. Sie klang so erwachsen, dass der kleine Körper gar nicht so recht zu ihr zu passen schien. Aziza hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Zalmai morgens aufzuwecken, anzuziehen, zu füttern und zu kämmen. Sie war es, die das quirlige Kerlchen mit Gleichmut und gespielter Autorität im Zaum hielt und ihn mittags schlafen legte, und wenn er es allzu toll trieb, sah man sie wie eine entnervte Erwachsene auf drollige Weise die Augen verdrehen.
Aziza drückte auf den Einschaltknopf des Fernsehers. Raschid kniff die Brauen zusammen und packte sie unsanft beim Handgelenk.
»Das ist Zalmais Apparat«, sagte er.
Aziza lief auf Mariam zu und kletterte auf ihren Schoß. Die beiden waren längst unzertrennlich. Vor kurzem hatte Mariam mit Lailas Einverständnis damit begonnen, Aziza Verse aus dem Koran beizubringen. Die Kleine konnte bereits die Suren al-Fatiha und al-Ikhlas auswendig aufsagen und wusste, wie die vier Rakat des Morgengebets vorzutragen waren.
»Das ist alles, was ich ihr geben kann«, hatte Mariam gesagt, »dieses Wissen, diese Gebete. Sie sind das Einzige, was ich je besessen habe.«
Jetzt kam Zalmai ins Zimmer. Raschid schaute ihm erwartungsvoll dabei zu, wie er am Kabel zog, auf die Schalter tippte und seine Hände an den Bildschirm drückte. Als er sie wieder entfernte, blieben kleine Kondensflecken auf der Scheibe zurück, die sich allmählich auflösten. Davon offenbar fasziniert, patschte er nun immer wieder auf den Bildschirm. Raschid strahlte übers ganze Gesicht, und man hätte meinen können, er bestaunte die Tricks eines Zauberkünstlers.
Die Taliban hatten den Besitz von Fernsehgeräten verboten. Videokassetten waren in der Öffentlichkeit demonstrativ zerschlagen, die Bänder herausgerissen und um Zaunpfosten gewickelt worden. Satellitenschüsseln baumelten wie Gehenkte an Straßenlaternen. Doch Raschid meinte, dass Verbotenes nicht aus der Welt sei und durchaus aufgetrieben werden könne.
»Morgen werde ich mich nach Zeichentrickfilmen umschauen«, verkündete er. »Auch das dürfte nicht allzu schwer sein. In den Untergrundbasaren ist alles zu kaufen.«
»Dann solltest du uns vielleicht einen neuen Brunnen besorgen«, sagte Laila, was Raschid mit einem finsteren Blick quittierte.
Ein paar Tage später, nach einem Abendessen, das wieder nur aus weißem Reis bestand und der anhaltenden Dürre wegen ohne Tee auskommen musste, teilte Raschid Laila mit, wozu er sich entschieden hatte.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Laila.
Sein Entschluss stehe nicht zur Debatte, entgegnete er.
»Ist mir egal.«
»Das wäre es nicht, wenn du die ganze Geschichte kennen würdest.«
Er erklärte, dass er erneut Freunde habe anpumpen müssen, weil die Einkünfte aus dem Geschäft für den Unterhalt der Familie nicht länger ausreichten. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Darum hab ich’s nicht schon früher gesagt.«
»Und außerdem«, fügte er hinzu, »es wird dich überraschen, was da an Geld zusammenkommt.«
Laila bekräftigte ihr Nein. Sie waren im Wohnzimmer, Mariam und die Kinder in der Küche. Sie hörte Geschirr klappern, Zalmais schrilles Lachen und Aziza, die in ihrer ruhigen, vernünftigen Stimme Worte an Mariam richtete.
»Sie wäre beileibe nicht die Einzige, nicht einmal die Jüngste«, sagte Raschid. »Kabul ist voll davon.«
Laila erwiderte, ihr sei einerlei, was andere Eltern ihren Kindern zumuteten.
»Ich werde sie im Auge behalten«, sagte Raschid, merklich gereizt. »Die Stelle, die ich mir ausgesucht habe, ist sicher. Auf der anderen Straßenseite steht eine Moschee.«
»Ich werde nicht zulassen, dass du aus meiner Tochter eine Bettlerin machst«, sagte Laila.
Seine Pranke traf sie laut schallend im Gesicht und so wuchtig, dass ihr der Kopf herumschleuderte. Die Geräusche in der Küche verstummten, und für einen Moment lang war es im Haus vollkommen still. Dann waren hastige Schritte im Flur zu hören. Mariam und die Kinder kamen ins Wohnzimmer geeilt. Ihre ängstlichen Blicke flogen zwischen Raschid und Laila hin und her.
Laila schlug zurück.
Es war das erste Mal, dass sie die Hand gegen einen anderen erhob, abgesehen von den Kabbeleien mit Tarik, die aber eher schüchtern und freundschaftlich ausgetragen worden waren, mit einem Knuff oder Klaps als Ausdruck ihrer sowohl irritierend als auch spannend empfundenen Befangenheit. Sie hatte damals immer auf den Muskel gezielt, den Tarik neunmalklug als Deltoid bezeichnete.
Laila spürte jetzt, wie ihre geballte Faust auf Raschids stoppeligem Kinn auftraf. Es klang, als wäre ein Reisbeutel zu Boden gefallen. Sie hatte so hart zugeschlagen, dass Raschid ins Wanken geriet und zurücktaumelte.
In der anderen Ecke des Zimmers wurden Schreie laut. Wer sie ausstieß, hörte Laila nicht. Sie war zu perplex, um darauf zu achten, und schien abzuwarten, ob ihr Verstand realisierte, was sich gerade zugetragen hatte. Als er es tat, war ihr zum Lachen zumute, und sie musste unwillkürlich schmunzeln, als Raschid zu ihrer Verwunderung wortlos den Raum verließ.
Plötzlich war ihr, als fiele alle Not, die sie selbst und im Mitgefühl für Aziza und Mariam erleiden musste, von ihr ab, als löste sie sich auf wie Zalmais Fingerabdrücke auf dem Fernsehschirm. So absurd es auch scheinen mochte, fühlte sie sich doch in diesem Moment des Aufbegehrens entschädigt dafür, dass sie Raschids entwürdigende Zumutungen so lange ertragen hatte.
Dass Raschid ins Zimmer zurückgekehrt war, bemerkte sie erst, als er ihr die fleischigen Hände um den Hals geschlungen hatte. Er stemmte sie in die Höhe und stieß sie mit dem Rücken an die Wand.
Aus nächster Nähe erschien ihr sein Gesicht unmöglich groß. Ihr fiel auf, dass es mit den Jahren aufgedunsen war. Das Aderngeflecht auf der Nase hatte sich ausgeweitet. Raschid sagte nichts. Worte erübrigten sich.
Die Razzien waren der Grund für das ausgehobene Loch hinterm Schuppen. Hatte man vor kurzem noch allenfalls ein- oder zweimal im Monat mit ihnen rechnen müssen, kamen die Taliban in jüngster Zeit fast täglich. Sie konfiszierten nach Belieben, versetzten Fußtritte, teilten Hiebe aus. Häufig zerrten sie ihre Opfer auch auf die Straße, um ihnen in aller Öffentlichkeit Fußsohlen und Handflächen auszupeitschen.
»Vorsichtig«, sagte Mariam, die am Rand der Grube kniete. Gemeinsam senkten sie den mit einer Plastikfolie umwickelten Fernseher ins Loch.
»Gut so«, sagte Mariam.
Sie füllten das Loch auf, stampften den Boden mit den Füßen fest und verwischten verräterische Spuren.
»Das wär’s.« Mariam wischte sich die Hände am Kleid ab.
Wenn die Taliban ihre Razzien einstellten, würden sie, so war es verabredet, das Gerät wieder ausgraben. Doch darüber mochten noch Monate vergehen.
Laila träumte, mit Mariam hinter dem Schuppen wieder eine Grube auszuheben. Doch diesmal wird Aziza vergraben, deren Atem die Kunststofffolie beschlägt, in die sie eingewickelt ist. Laila sieht die Panik in den Augen ihrer Tochter, die weißen Handflächen, die sich von innen an die Folie pressen. Aziza schreit. Laila kann sie nicht hören. »Nur für eine Weile« ruft sie ihr zu, »es ist nur für eine Weile. Wegen der Razzien, verstehst du, mein Liebes? Wenn die vorüber sind, werden dich Mami und Khala Mariam wieder ausgraben. Das verspreche ich dir. Und dann spielen wir wieder miteinander. Wir spielen, was du willst.« Sie schaufelt Erde ins Loch.
Schweißüberströmt wachte Laila auf, den Geschmack von Staub auf der Zunge.