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Eine der am weitesten zurückreichenden Erinnerungen von Mariam war das Geräusch eisenbeschlagener Karrenräder auf felsigem Grund. Einmal im Monat kam dieser Karren, beladen mit Reis, Mehl, Tee, Zucker, Speiseöl, Seife und Zahnpasta. Er wurde geschoben von zwei Halbbrüdern Mariams, meist von Muhsin und Ramin, manchmal auch von Ramin und Farhad. Auf der steilen Strecke bergan wechselten sich die Jungen beim Schieben ab, bis sie den Fluss erreichten, wo der Karren geleert und seine Ladung per Hand übers Wasser getragen wurde. Dann brachten die Brüder auch den Karren auf die andere Uferseite, beluden ihn erneut und schoben ihn die restlichen zweihundert Meter zur kolba, nun durch dichtes, hohes Gras und vorbei an dornigen Büschen, schreckten dabei Frösche auf und wischten sich Stechmücken von den verschwitzten Gesichtern.

»Er hat doch Dienstboten«, sagte Mariam. »Warum schickt er die nicht?«

»Das ist seine Art von Buße«, antwortete Nana.

Die Geräusche des Karrens lockten Mariam und Nana ins Freie. Unvergessen für Mariam blieb, wie Nana an solchen Tagen der monatlichen Zuteilung aussah: eine groß gewachsene, hagere Frau, barfüßig wartend vor der Türschwelle, das lidlahme Auge spöttisch bis zu einem Schlitz verengt, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt und ihr kurz geschorenes krauses Haar unverhüllt im Sonnenlicht. Das übergroße Hemd war bis zum Hals zugeknöpft. In den Taschen steckten walnussgroße Steine.

Die Jungen hockten wartend am Ufer, während Mariam und Nana den Proviant in die kolba trugen. Sie wagten es nicht, näher als bis auf dreißig Schritt heranzukommen, obwohl sie wussten, dass Nana weder gut zielen noch weit werfen konnte. Wenn sie die Sachen schleppte, brüllte sie die Jungen an und bedachte sie mit Ausdrücken, die Mariam nicht verstand. Sie verfluchte deren Mütter und schnitt hasserfüllte Grimassen. Die Jungen antworteten auf ihre Beleidigungen nie.

Mariam hatte Mitleid mit ihren Halbbrüdern. Wie müde und erschöpft sie nach diesem langen, beschwerlichen Weg doch sein mussten, dachte sie und wünschte, sie dürfte ihnen zumindest einen Schluck Wasser anbieten. Aber sie sagte nie etwas, und wenn sie ihr zuwinkten, verzichtete sie darauf, zurückzuwinken. Um ihrer Mutter zu gefallen, brüllte sie Muhsin sogar einmal zu, dass sein Mund wie der Arsch einer Echse aussehe – und war danach voller Schuldgefühle, Scham und Angst, sie könnten Jalil davon berichten. Nana aber lachte so ausgelassen, dass ihre faulenden Schneidezähne sichtbar wurden und Mariam befürchte, sie könnte wieder einen ihrer Anfälle bekommen. Als sie sich beruhigt hatte, richtete sie ihren Blick auf Mariam und sagte: »Du bist eine gute Tochter.«

Wenn der Karren geleert war, zogen die Jungen wieder ab. Mariam schaute ihnen nach, bis sie im hohen Gras und den blühenden Kräutern verschwunden waren.

»Kommst du?«

»Ja, Nana.«

»Sie lachen über dich. Das tun sie. Ich hör’s.«

»Ich komme.«

»Glaubst du mir etwa nicht?«

»Ich bin da.«

»Du weißt, wie sehr ich dich liebe, Mariam jo

Morgens weckte sie das ferne Blöken von Schafen und das helle Pfeifen einer Flöte, wenn die Schäfer von Gul Daman ihre Herde auf den Berghang führten. Mariam und Nana melkten ihre Ziegen, fütterten die Hühner und sammelten Eier ein. Gemeinsam backten sie Brot. Nana zeigte ihr, wie der Teig zu kneten, der tandoor zu befeuern und die Teigfladen auf die Innenseite der tönernen Ofenwand zu kleben waren. Nana brachte ihr auch bei, zu nähen, Reis zu kochen und all die verschiedenen Beilagen zuzubereiten: shalqam Eintopf mit Rüben, Spinat-sabzi oder Blumenkohl mit Ingwer.

Nana machte kein Hehl daraus, dass sie nicht besucht werden wollte. Im Grunde war ihr niemand willkommen, ausgenommen einige wenige, so etwa das Oberhaupt von Gul Daman, der Dorf-arbab Habib Khan, ein bärtiger Mann mit kleinem Kopf und großem Bauch, der einmal im Monat kam, begleitet von einer Dienerin, die ein Hühnchen mitbrachte, manchmal einen Topf kichiri-Reis oder ein Körbchen voll gefärbter Eier für Mariam.

Dann war da eine kugelrunde Frau, die von Nana Bibi jo genannt wurde; ihr verstorbener Mann, ein Steinmetz, war ein Freund von Nanas Vater gewesen. Bibi jo kam immer in Begleitung einer ihrer sechs Schwiegertöchter und eines oder zweier Enkelkindern. Sie humpelte und keuchte über die Lichtung und nahm dann mit großem Getue und schmerzhaftem Seufzen auf dem von Nana zurechtgerückten Stuhl Platz. Auch Bibi jo brachte Mariam immer etwas mit, eine Schachtel dishlemeh-Bonbons oder einen Korb mit Quitten. Nana bekam zunächst Klagen über Bibis angegriffene Gesundheit zu hören, dann den neuesten Klatsch aus Herat und Gul Daman, in aller Ausführlichkeit genüsslich vorgetragen, während die Schwiegertochter ehrerbietig hinter ihr saß und schwieg.

Am meisten freute sich Mariam, abgesehen von Jalil, auf Mullah Faizullah, den akhund des Dorfes, den Koranlehrer. Er kam ein- oder zweimal in der Woche, um sie in den fünf täglichen namaz-Gebeten zu unterweisen und ihr den Koran näherzubringen; er hatte auch schon Nana unterrichtet, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Mullah Faizullah hatte Mariam zu lesen beigebracht und ihr geduldig über die Schulter geschaut, wenn ihre Lippen die Silben tonlos formulierten und der Zeigefinger unter jedem Wort verharrte, so fest aufs Papier gedrückt, dass das Nagelbett weiß wurde. Es schien, als versuchte sie, die Bedeutung aus den Zeichen herauszupressen. Mullah Faizullah war es gewesen, der ihr die Hand gehalten und den Stift geführt hatte, bei der Aufwärtsbewegung eines jeden alef, der Kurve eines jeden beh und den drei Punkten eines jeden seh.

Er war ein hagerer, vornübergebeugter alter Mann mit zahnlosem Lächeln und einem weißen Bart, der ihm bis zum Nabel reichte. Für gewöhnlich kam er allein, manchmal aber auch in Begleitung seines Sohnes Hamza, der ein paar Jahre älter war als Mariam und rotblondes Haar hatte. Wenn Mullah Faizullah die kolba betrat, küsste Mariam ihm die Hand, die sich unter ihren Lippen anfühlte wie ein mit dünnem Papier überzogenes Bündel Zweige. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor sie am Tisch Platz nahmen und mit der Lektion begannen. Danach setzten sie sich vor die Hütte, knabberten Pinienkerne, tranken grünen Tee und beobachteten die von Baum zu Baum schwirrenden Bülbül. Manchmal spazierten sie über das bronzefarbene Laub, vorbei an den Erlenbüschen und den Fluss entlang auf die Berge zu. Unterwegs befingerte er die Perlen seines tasbeh-Rosenkranzes und erzählte Mariam mit zitternder Stimme aus seiner Jugend, von der zweiköpfigen Schlange, die er im iranischen Isfahan auf der Brücke mit ihren dreiunddreißig Bögen entdeckt hatte, oder von der Wassermelone, die er vor der blauen Moschee in Mazar aufgeschnitten und die Samenkörner darin so vorgefunden hatte, dass sie auf der einen Seite das Wort »Allah« bildeten und auf der anderen das Wort »Akbar«.

Mullah Faizullah gab Mariam gegenüber zu, dass er den Sinn der arabischen Worte im Koran nicht verstehe, wohl aber ihren Klang zu schätzen wisse. Er sagte, sie trösteten ihn und erleichterten sein Herz.

»Auch dich werden sie trösten, Mariam jo«, sagte er. »Du kannst sie aufrufen, wenn du Kummer hast. Und du wirst nicht enttäuscht sein, denn Gottes Worte täuschen nie, mein Mädchen.«

Mullah Faizullah konnte nicht nur gut erzählen, sondern auch zuhören. Wenn Mariam redete, war er immer ganz Ohr. Er wiegte dabei langsam den Kopf, lächelte und zeigte sich so dankbar, als würde ihm ein großes Privileg gewährt. Ihm konnte Mariam bedenkenlos anvertrauen, was sie Nana nicht zu sagen gewagt hätte.

Eines Tages, als sie wieder einmal spazieren gingen, sagte Mariam, dass sie sich wünschte, die Schule besuchen zu dürfen.

»Ich meine eine wirkliche Schule, akhund sahib. In einem Klassenzimmer. Wie auch die anderen Kinder meines Vaters.«

Mullah Faizullah blieb stehen.

Zwei Wochen zuvor hatte Bibi jo berichtet, Jalils Töchter Saideh und Naheed seien von der Mehri-Schule für Mädchen in Herat aufgenommen worden. Seither spukten Bilder von Schulbänken und Lehrern durch Mariams Kopf, Bilder von Heften mit linierten Seiten, Spalten voller Zahlen und Tinte, die dunkle Zeichen auf dem Papier hinterließ. Sie malte sich aus, mit anderen Mädchen ihres Alters in einem Klassenzimmer zu sitzen, und sehnte sich danach, ein Lineal aufs Heft legen und wichtig aussehende Zeilen unterstreichen zu können.

»Ist dir das ein ernster Wunsch?«, fragte Mullah Faizullah und betrachtete sie mit seinen sanften wässrigen Augen. Er hatte die Hände hinter dem krummen Rücken verschränkt, und der Schatten seines Turbans fiel auf einen Flecken leuchtender Butterblumen.

»Ja.«

»Und jetzt willst du, dass ich deine Mutter um Erlaubnis bitte, nicht wahr?«

Mariam lächelte. Außer Jalil gab es, wie sie dachte, keinen Menschen auf der Welt, der sie so gut verstand wie ihr alter Lehrer.

»Was bliebe mir also anderes übrig? Gott in seiner Weisheit hat jedem von uns Schwächen mit auf den Weg gegeben, und die größte meiner vielen Schwächen ist, dass ich dir, Mariam jo, nichts ausschlagen kann«, erwiderte er und tippte ihr mit einem gichtigen Finger auf die Wange.

Doch als er sich später an Nana wandte, ließ diese das Messer fallen, mit dem sie gerade Zwiebeln schnitt, und fragte: »Wozu?«

»Lass das Mädchen lernen, wenn es das möchte. Gib ihr die Chance auf eine Ausbildung, meine Teure.«

»Lernen? Was denn, Mullah sahib?«, entgegnete Nana in scharfem Tonfall. »Was gäbe es da zu lernen?« Sie warf ihrer Tochter einen grimmigen Blick zu.

Mariam schaute zu Boden.

»Was für einen Sinn hätte es, ein Mädchen wie dich zu unterrichten. Genauso gut könnte man einen Spucknapf polieren. Außerdem kann man in diesen Lehranstalten nichts lernen, was von Wert wäre. Es gibt nur eines, was Frauen wie wir in diesem Leben können müssen, und das bekommt man nicht in der Schule beigebracht. Sieh mich an.«

»Du solltest so nicht mit ihr reden, mein Kind«, sagte Mullah Faizullah.

»Sieh mich an!«

Mariam gehorchte.

»Nur eines muss sie können. Und das ist: tahamul. Aushalten.«

»Aushalten? Was denn, Nana?«

»Ach, machen Sie sich mal darüber keine Sorgen«, antwortete Nana. »Da fände sich einiges, und das nicht zu knapp.«

Und dann beschwerte sie sich darüber, von Jalils Frauen als hässliche, armselige Steinmetztochter beschimpft worden zu sein, oder wie man sie gezwungen habe, bei Frost Wäsche zu waschen, bis ihr das Gesicht abgefroren sei und die Fingerspitzen gebrannt hätten.

»Das ist unser Los, Mariam. Das Los von Frauen wie uns. Wir müssen aushalten. Mehr ist nicht drin. Verstanden? Außerdem würden sie dich in der Schule doch nur auslachen. Glaub mir. Sie würden dich einen harami nennen und die hässlichsten Dinge über dich sagen. Das lasse ich nicht zu.«

Mariam nickte.

»Von Schule will ich nichts mehr hören. Du bist alles, was ich habe. Dich will ich nicht an die anderen verlieren. Sieh mich an. Kein Wort mehr über Schule.«

»Sei vernünftig. Ich bitte dich. Wenn ein Mädchen den Wunsch hat …«

»Und Sie, akhund sahib, bei allem Respekt, Sie sollten sich hüten, ihr solche Flausen einzureden. Wenn Ihnen wirklich an ihr gelegen ist, sollten Sie ihr klarmachen, dass sie hierher gehört, zu ihrer Mutter. Da draußen ist nichts für sie zu holen. Nichts außer Ablehnung und Schmerz. Ich weiß, wovon ich spreche, akhund sahib. Ich weiß es.«