45
Mariam
»Ich war oben und hab mit Khala Mariam gespielt.«
»Und deine Mutter?«
»Sie war … sie war hier unten und hat mit dem Mann gesprochen.«
»Verstehe«, knurrte Raschid. »Teamarbeit.«
Mariam sah, wie sich seine Miene entspannte. Die Falte zwischen den Brauen verschwand. In seinen Augen zeigten sich Argwohn und Zweifel. Er straffte die Schultern und schien für einen Moment einfach nur nachdenklich zu sein – wie ein Schiffskapitän, der gerade den Hinweis auf eine bevorstehende Meuterei erhalten hatte und darüber nachdachte, was zu tun war.
Er blickte auf.
Mariam wollte etwas sagen, doch er hob die Hand und sagte, ohne sie anzusehen: »Zu spät, Mariam.« Und an Zalmai gewandt: »Geh nach oben, Junge.«
Zalmai war sichtlich alarmiert. Nervös sprang sein Blick zwischen den dreien hin und her. Er schien zu spüren, dass er mit seinem Plappermaul die Erwachsenen ernstlich verstört hatte.
»Sofort«, knurrte Raschid.
Er packte Zalmai beim Ellbogen und führte ihn zur Treppe.
Mariam und Laila standen reglos da. Beide starrten vor sich hin, als fürchteten sie, Raschids Argwohn Nahrung zu geben, wenn sie einander ansähen, ihm Grund zu der Annahme zu geben, dass, während er Hotelgästen, die ihn keines Blickes würdigten, die Tür aufhielt und deren Koffer schleppte, hinter seinem Rücken und in seinem Haus verschwörerische Unzucht getrieben wurde, und das in Gegenwart seines geliebten Sohnes. Keine von ihnen sagte ein Wort. Sie lauschten den Schritten im Obergeschoss, die einen bedrohlich und schwer, die anderen trippelnd wie die eines scheuen kleinen Tieres. Sie hörten die gedämpften Worte, die gewechselt wurden, ein flehentliches Fiepen, eine barsche Erwiderung. Eine Tür schlug zu, ein Schlüssel klapperte im Schloss. Und dann kamen die schweren Schritte zurück, schneller jetzt.
Mariam sah ihn die Treppe heruntereilen, sah, wie er mit der einen Hand den Schlüssel in die Tasche steckte und mit der anderen seinen Gürtel gepackt hielt. Das gelochte Ende hatte er um die Knöchel gewickelt, die Schnalle aus imitiertem Messing baumelte herab.
Sie ging auf ihn zu, um ihn aufzuhalten, wurde aber unwirsch zur Seite gestoßen. Wortlos holte er zum Schlag gegen Laila aus, so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, sich zu ducken oder auch nur eine schützende Hand zu heben. Laila befühlte mit den Fingern ihre Schläfe, sah, dass sie blutete, und schaute Raschid verwundert an. Doch die Verwunderung wich schnell einem anderen Ausdruck, dem des Hasses.
Raschid schlug wieder mit dem Gürtel zu.
Diesmal hob Laila den Unterarm vors Gesicht und versuchte, den Gürtel in der Luft abzufangen. Sie griff daneben, bekam ihn aber, als er wieder auf sie niedersauste, kurz zu fassen. Doch Raschid entriss ihn ihr und peitschte abermals auf sie ein. Laila nahm Reißaus und rannte durchs Zimmer, gefolgt von Raschid, der ihr immer wieder den Weg abschnitt, während Mariam ihn kreischend anbettelte, von Laila abzulassen. Einmal gelang es Laila, ihm einen Schlag aufs Ohr zu versetzen, worauf er einen wüsten Fluch ausstieß und umso heftiger tobte. Er packte sie, schleuderte sie an die Wand und traf mit der Gürtelschnalle auf Brust, Schulter, Arme und Hände. Laila blutete an mehreren Stellen.
Mariam war außer sich. Schreiend und händeringend irrte sie im Zimmer umher, bevor sie schließlich, ohne zu wissen, was sie tat, die Hand gegen Raschid erhob, an seinen Haaren zerrte und ihm mit ihren schartigen Fingernägeln das Gesicht zerkratzte.
Er ließ von Laila ab und wandte sich ihr zu. Es schien, als blickte er durch sie hindurch. Dann aber sah er ihr in die Augen, zuerst verblüfft, dann schockiert, kopfschüttelnd, ja fast enttäuscht, und schließlich verfinsterte sich sein Blick.
Mariam erinnerte sich an den Moment, als sie in Jalils Beisein und hinter ihrem Hochzeitsschleier zum ersten Mal Raschids Augen, von einem Spiegel reflektiert, wahrgenommen hatte, wie sich ihre Blicke auf der blanken Oberfläche trafen, er mit gleichgültiger Miene, sie zahm, fügsam, fast als wolle sie sich entschuldigen.
Entschuldigen.
Mariam erkannte nun in ebendiesen Augen, wie töricht sie gewesen war.
Ob sie ihren Mann jemals getäuscht habe, fragte sie sich. Konnte man ihr den Vorwurf machen, eine selbstgefällige Frau zu sein? Eine ehrlose Frau? Lügenhaft? Vulgär? Womit hatte sie seine Beleidigungen verdient, seine Boshaftigkeit und all die Quälereien? Hatte sie ihn nicht immer gepflegt, wenn er krank war? Ihn und seine Freunde bekocht? Gehorsam und pflichtbewusst den Haushalt geführt?
Hatte sie ihm nicht ihre Jugend geopfert?
Hatte sie ihm jemals Grund für seine Gemeinheiten gegeben?
Raschid ließ den Gürtel fallen und kam auf sie zu. Manches, so schien er mit dieser Geste zum Ausdruck bringen zu wollen, ließ sich besser mit bloßen Händen erledigen.
Doch als er gerade über sie herfallen wollte, sah Mariam, wie Laila hinter ihm einen Gegenstand vom Boden aufhob, den Arm in die Höhe reckte und zuschlug. Glas splitterte. Die Scherben eines Wasserglases regneten herab. Lailas Hand war voller Blut, Blut rann aus einer Schnittwunde auf Raschids Wange und tropfte auf sein Hemd. Mit gefletschten Zähnen und aufflackerndem Blick fuhr er herum.
Laila und Raschid stürzten gemeinsam zu Boden und rangen miteinander. Er kam auf ihr zu liegen, legte ihr die Hände um den Hals.
Mariam zerrte an seinem Hemd. Sie schlug ihn, versuchte, ihn von Laila loszureißen. Sie biss ihn. Doch er ließ nicht locker. Er drückte Laila die Kehle zu, und es war klar, dass er bis zum Letzten gehen würde.
Mariam wich zurück, durch die Tür in den Flur, wo sie Klopflaute wahrnahm. Oben schlug Zalmai mit seinen kleinen Händen gegen eine verschlossene Tür. Sie rannte nach draußen, durchquerte den Hof.
Im Werkzeugschuppen langte sie nach der Schaufel.
Raschid sah sie nicht ins Wohnzimmer zurückkommen. Er saß immer noch auf Laila, hatte das Gesicht zu einer Grimasse verzogen und die Hände um ihren Hals geschlungen. Laila war blau angelaufen; sie hatte die Augen nach oben verdreht und schien sich nicht länger zu wehren. Er bringt sie um, dachte Mariam. Er meint es ernst. Doch das konnte und das wollte sie nicht zulassen. Er hatte ihr in den siebenundzwanzig Jahren ihrer Ehe schon genug weggenommen. Nicht auch noch Laila.
Mariam packte die Schaufel mit beiden Händen am Stiel und hob sie über den Kopf. Sie rief ihn beim Namen. Sie wollte sein Gesicht sehen.
»Raschid.«
Er blickte auf.
Mariam schlug zu.
Sie traf ihn über der Schläfe. Er ließ von Laila ab und kippte zur Seite.
Raschid wischte sich mit der Hand über den Kopf, sah das Blut an seinen Fingern und richtete dann den Blick auf Mariam. Es schien, dass sich seine Miene entspannte. Mariam dachte, der Schlag habe ihn vielleicht zur Besinnung gebracht. Vielleicht sah er auch etwas in ihrem Gesicht, das ihn aufmerken ließ. Vielleicht sah er Zeichen jener Selbstverleugnung, der Aufopferung und Strapazen, die sie das jahrelange Zusammenleben mit ihm gekostet hatten, ein Leben, das aus Gewalt und Zumutungen, Vorwürfen und Gemeinheiten bestand. Was war es, das sie da in seinen Augen sah? Respekt? Bedauern?
Doch dann verzog sich sein Mund zu einem tückischen Grinsen, und Mariam sah ein, dass es falsch wäre, vielleicht sogar unverantwortlich, wenn sie jetzt nachgäbe. Wenn sie ihn aufstehen ließe, würde er nicht lange fackeln, nach oben gehen und seine Pistole aus dem Zimmer holen, in dem er Zalmai eingesperrt hatte. Hätte Mariam sicher sein können, dass er nur sie erschießen und Laila verschonen würde, wäre sie womöglich eingeknickt. Doch aus Raschids Blicken sprach, dass er entschlossen war, sie beide umzubringen.
Und so holte Mariam noch einmal mit der Schaufel aus, so weit, dass das Blatt ihr Kreuz berührte. Und während sie die Schaufelkante in Schlagrichtung brachte, wurde ihr bewusst, dass sie zum allerersten Mal in ihrem Leben das Heft des Handelns selbst in die Hand nahm.
Mit diesem Gedanken führte sie den Schlag aus und setzte all ihre Kraft hinein.