33
Mariam
Im Frühjahr 1993 stand Mariam eines Morgens in aller Frühe vorm Fenster des Wohnzimmers und sah Raschid das Mädchen aus dem Haus führen. Das Mädchen schleppte sich, leicht nach vorn gebeugt, voran und hielt einen Arm schützend um den Bauch gelegt, dessen kugelrunde Form sich selbst unter der Burka abzeichnete. Raschid, überaus fürsorglich und aufmerksam, stützte sie am Ellbogen und führte sie wie ein Verkehrspolizist über den Hof. Er gab ihr mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie einen Augenblick warten möge, beeilte sich, das Tor zu öffnen, hielt es mit einem Fuß auf und winkte das Mädchen zu sich. Als sie ihn erreichte, nahm er sie bei der Hand und half ihr auf die Straße. Mariam glaubte fast, ihn sagen zu hören: »Gib acht, wohin du trittst, meine Blume, meine gul.«
Am frühen Abend kehrten sie zurück.
Mariam sah Raschid als Ersten den Hof betreten. Das Tor ließ er zurückfallen; es schlug dem Mädchen fast ins Gesicht. Mit schnellen, kurzen Schritten durchquerte er den Hof. Mariam bemerkte einen Schatten auf seiner Miene, der tiefer war als die Schatten der kupfrigen Abenddämmerung. Im Haus zog er den Mantel aus und warf ihn auf die Couch. »Ich habe Hunger. Bring das Essen auf den Tisch«, knurrte er Mariam an.
Die Haustür ging auf. Mariam sah das Mädchen mit einem Bündel in der linken Armbeuge auf der Schwelle. Mit einem Fuß in der Tür bückte sie sich, um den Papierbeutel mit ihren Sachen vom Boden aufzuheben, den sie dort abgestellt hatte, um die Tür zu öffnen. Ihr war anzusehen, wie schwer es ihr fiel. Sie hob den Kopf und erblickte Mariam.
Mariam wandte sich von ihr ab und ging in die Küche, um für Raschid das Essen aufzuwärmen.
»Als würde einem ein Schraubenzieher ins Ohr gerammt«, stöhnte Raschid und rieb sich die verquollenen Augen. Er stand, nur mit einem vor dem Bauch zusammengeknoteten tumban bekleidet, in der Tür zu Mariams Zimmer. Die weißen Haare standen ihm wirr vom Kopf. »Dieses Schreien. Ich kann’s nicht länger ertragen.«
Unten ging das Mädchen mit dem Baby durch den Flur und versuchte, es mit einem Lied zu beruhigen.
»Seit zwei Monaten habe ich nicht mehr richtig durchschlafen können«, beklagte sich Raschid. »Und im Schlafzimmer stinkt’s wie auf einem Abort. Überall liegen die vollgeschissenen Windeln herum. Gestern Abend bin ich in eine reingetreten.«
Mariam empfand eine hämische Freude, die sie sich aber nicht anmerken ließ.
»Geh mit ihr nach draußen!«, brüllte Raschid nach unten. »Kannst du nicht mit ihr rausgehen?«
Das Singen verstummte. »Sie erkältet sich noch.«
»Es ist Sommer.«
»Was?«
Raschid verzog das Gesicht. »Ich sagte, draußen ist es warm genug«, brüllte er noch lauter.
»Ich gehe nicht mit ihr nach draußen.«
Das Singen setzte wieder ein.
»Irgendwann, ich schwör’s, irgendwann werde ich das Ding in einer Kiste auf dem Kabul aussetzen. Wie Moses.«
Mariam hatte ihn seine Tochter noch nie bei ihrem Namen – Aziza, die Verehrte – nennen hören. Er bezeichnete sie nur als »das Baby« oder, wenn er gereizt war, »das Ding«.
In manchen Nächten gab es Streit zwischen den Eltern. Mariam schlich dann auf Zehenspitzen an die Schlafzimmertür und lauschte. Sie hörte ihn über das Kind klagen, über das andauernde Schreien, die stinkenden Windeln und Spielzeuge, über die er immer wieder stolperte, darüber, dass er von Laila gar nicht mehr beachtet wurde, weil sich alles nur um das Ding drehte, das ständig gefüttert, gewaschen und gehalten werden wollte. Das Mädchen hingegen schimpfte, dass er im Zimmer rauchte und das Kind nicht mit in ihrem Bett schlafen ließ.
Es gab auch andere Auseinandersetzungen, ausgetragen in wütendem Flüsterton.
»Der Arzt sagt, allenfalls sechs Wochen.«
»Jetzt noch nicht, Raschid. Nein. Lass mich. Bitte. Tu’s nicht.«
»Es ist schon zwei Monate her.«
»Psst, leise. Na prima, jetzt hast du das Baby aufgeweckt.« Und mit schärferer Stimme: »Kosh shodi? Endlich zufrieden?«
Mariam war dann zurück in ihr Zimmer geschlichen.
Jetzt jammerte Raschid: »Kannst du nicht irgendwie helfen?«
»Ich kenne mich mit Babys nicht aus«, antwortete Mariam.
»Raschid! Bringst du mal das Fläschchen? Es steht auf der almari. Sie will nicht trinken. Ich muss es mit der Flasche versuchen.«
Das Baby fing wieder zu schreien an.
Raschid schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Dieses Ding ist ein Warlord. Ich sag’s dir, Laila hat einen zweiten Gulbuddin Hekmatyar zur Welt gebracht.«
Mariam sah, dass das Mädchen ausschließlich mit dem Baby beschäftigt war. Es musste geschaukelt, unterhalten und in regelmäßigen Abständen gestillt werden. Wenn es schlief, waren Windeln zu waschen. Das Mädchen ließ sie in einem Trog einweichen und benutzte dafür ein Desinfektionsmittel, das Raschid auf ihr Drängen hin besorgt hatte. Sie feilte der Kleinen die Fingernägel mit feinem Sandpapier, wusch die Strampler und Nachthemdchen und hängte sie zum Trocknen auf. Auch wegen dieser Sachen gab es immer wieder Streit.
»Was ist dagegen einzuwenden?«, wollte Raschid wissen.
»Es sind Sachen für Jungen. Für einen bacha.«
»Glaubst du etwa, ihr würde der Unterschied auffallen? Ich habe für das ganze Zeug gutes Geld ausgegeben. Und noch etwas: Mir gefällt dein Ton nicht. Versteh meinen Hinweis als Warnung.«
Regelmäßig einmal in der Woche erhitzte das Mädchen eine kleine Pfanne überm Feuer, röstete darin eine Prise Rautensamen und fächerte den daraus aufsteigenden espandi-Rauch ihrem Kind zu, um es vor bösen Einflüssen zu schützen.
Mariam konnte die Begeisterung des Mädchens für das Kind kaum ertragen, musste sich aber eingestehen, dass sie auch so etwas wie Bewunderung empfand. Sie bemerkte, wie die Augen des Mädchens geradezu ehrfürchtig leuchteten, selbst morgens nach schlafloser Nacht, wenn ihr Gesicht abgespannt aussah und die Haut wächsern. Das Mädchen konnte herzhaft lachen, wenn das Baby pupste. Die winzigste Veränderung entzückte sie, und jede Regung des Kindes war für sie ein spektakuläres Ereignis.
»Sieh nur! Sie greift nach der Rassel. Wie clever sie ist.«
»Ich sollte wohl die Presse rufen«, knurrte Raschid.
Abends gab es immer kleine Vorführungen, und wenn das Mädchen darauf bestand, dass Raschid Kenntnis davon nahm, hob er das Kinn und warf seinen mürrischen Blick über den blau geäderten Haken seiner Nase.
»Schau. Schau, wie sie lacht, wenn ich mit den Fingern schnippe. Da. Hast du’s gesehen?«
Raschid gab dann meist einen Grunzlaut von sich und stocherte weiter in seinem Essen herum. Mariam erinnerte sich, dass ihn vor nicht allzu langer Zeit allein schon die Anwesenheit des Mädchens überwältigt hatte. Jedes Wort von ihr war ihm eine Offenbarung gewesen, jede Geste ein Grund, aufzumerken und anerkennend mit dem Kopf zu nicken.
Dass das Mädchen bei ihm in Ungnade gefallen war, hätte Mariam mit einem Gefühl von Triumph quittieren können, was sich aber seltsamerweise nicht einstellen wollte. Zu ihrer eigenen Überraschung empfand Mariam Mitleid mit dem Mädchen.
Das Mädchen war immerzu von Sorgen geplagt, die es allabendlich am Esstisch wortreich zum Ausdruck brachte. An erster Stelle stand die Befürchtung, das Kind könnte an einer Lungenentzündung erkranken, und jedes noch so kleine Husten bestärkte sie darin. Wenn es Durchfall hatte, sah sie schon das Gespenst der Ruhr vor Augen, und jeder Hautausschlag deutete für sie auf Windpocken oder Masern hin.
»Du solltest dein Herz nicht so sehr daran hängen«, sagte Raschid eines Abends.
»Was soll das heißen?«
»Ich habe vor kurzem einen Radiobericht gehört. Von Voice of America. Da wurde eine interessante Statistik genannt. Es heißt, dass in Afghanistan von vier Kindern eines nicht älter wird als fünf. Das spricht wohl für sich – he, was ist? Wo willst du hin? Komm zurück. Komm sofort zurück!«
Er warf Mariam einen irritierten Blick zu. »Was hat sie bloß?«
Als Mariam im Bett lag, brach das Gezänk wieder aus. Es war eine heiße, trockene Sommernacht, typisch für den Monat Saratan in Kabul. Mariam hatte das Fenster geöffnet, dann aber wieder geschlossen, weil statt der erwünschten kühlen Brise nur Stechmücken kamen. Sie spürte, wie die Hitze draußen vom Boden aufstieg, die Außenmauer hinaufkroch und mit den faulen Gerüchen des Abtritts in ihr Zimmer drang.
Normalerweise hatten sich die Streitereien nach wenigen Minuten erschöpft, doch jetzt war schon über eine halbe Stunde vergangen, und die Wut eskalierte. Mariam hörte Raschid aus vollem Hals brüllen. Die Stimme des Mädchens klang ängstlich und schrill. Bald fing auch das Baby zu schreien an.
Dann hörte Mariam, dass die Schlafzimmertür mit Wucht aufgestoßen wurde – am nächsten Morgen sollte sie eine tiefe Delle vorfinden, mit der sich der Türknauf in der Wand abgebildet hatte. Sie saß bereits aufrecht im Bett, als ihre eigene Tür aufflog und Raschid hereingestürmt kam.
Er trug weiße Unterwäsche mit dunklen Schweißflecken unter den Achseln. Seine Füße steckten in Gummilatschen. Er hielt den braunen Gürtel in der Hand, den er sich zur nikka gekauft hatte. Das gelochte Ende war um seine Faust gewickelt.
»Du steckst dahinter. Hab ich’s mir doch gedacht«, knurrte er und rückte näher.
Mariam schlüpfte aus dem Bett und wich zurück, die Arme schützend vor der Brust, weil er dort immer zuerst hinschlug.
»Wovon redest du?«, stammelte sie.
»Von ihrer Ablehnung. Das hat sie von dir.«
Mit den Jahren hatte Mariam gelernt, sich gegen seine Wutausbrüche und Vorwürfe, seine Verhöhnungen und Zurechtweisungen abzuhärten. Aber die Furcht vor ihm war geblieben. Selbst nach all den Jahren zitterte sie vor Angst, wenn er so vor ihr stand, mit hasserfülltem Gesicht, den Gürtel um die Faust geschlungen und die geröteten Augen voller Boshaftigkeit. Es war die Angst einer Ziege, eingesperrt in einem Tigerkäfig, wenn der Tiger seinen Kopf von den Tatzen erhebt und zu knurren anfängt.
Jetzt kam auch das Mädchen ins Zimmer, die Augen weit aufgerissen und die Hände ringend.
»Ich hätte wissen müssen, dass du sie gegen mich aufhetzt«, spuckte Raschid aus. Er hob den Gürtel und ließ ihn auf den eigenen Schenkel klatschen. Die Schnalle klirrte.
»Hör auf, bas!«, sagte das Mädchen. »Lass das, Raschid.«
»Verschwinde.«
Mariam wich weiter zurück.
»Nein! Tu’s nicht!«
»Ich werd’s dir zeigen.«
Wieder hob er den Gürtel und holte zum Schlag gegen Mariam aus.
Und dann geschah etwas Erstaunliches: Das Mädchen fiel über ihn her. Mit beiden Händen packte sie seinen Arm und hängte ihr ganzes Gewicht daran, um ihn nach unten zu zwingen, was ihr aber nicht gelang. Immerhin schaffte sie es, den Schlag zu verhindern.
»Lass los!«, brüllte Raschid.
»Du hast gewonnen. Du hast gewonnen. Tu es nicht. Bitte, Raschid, schlag sie nicht. Bitte nicht.«
So rangen die beiden miteinander. Das Mädchen hielt seinen Arm umklammert und flehte ihn an, während Raschid sie abzuschütteln versuchte, ohne Mariam aus den Augen zu lassen, die wie gelähmt vor ihm stand.
Am Ende wusste Mariam, dass es keine Schläge geben würde, nicht in dieser Nacht. Er hatte sich auch so durchgesetzt. Seine Brust ging keuchend auf und ab, und auf der Stirn hatte sich Schweiß gebildet. Langsam senkte er den Arm. Die Füße des Mädchens berührten den Boden. Es schien ihm nicht zu trauen und hielt sich an Raschid fest. Er musste seinen Arm mit Gewalt losreißen.
»Sieh dich vor!«, sagte er und warf den Gürtel über die Schulter. »Seht euch beide vor! Ich lasse mich nicht zum ahmaq machen, zum Narren in meinem eigenen Haus.«
Er schleuderte Mariam einen letzten harten Blick zu und stieß das Mädchen nach draußen.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, stieg Mariam ins Bett zurück, vergrub ihr Gesicht im Kissen und wartete darauf, dass das Zittern aufhörte.
Dreimal wurde Mariam in dieser Nacht aus dem Schlaf gerissen. Zuerst waren es die Raketen im Westen, abgefeuert in der Gegend um Karteh-Char. Dann wurde sie vom Schreien des Säuglings, den Beruhigungsversuchen des Mädchens und dem Klappern eines Löffels an der Milchflasche geweckt. Schließlich war es der Durst, der sie aus dem Bett holte.
Das Wohnzimmer war dunkel bis auf einen Mondstrahl, der durchs Fenster fiel. Mariam hörte irgendwo eine Fliege summen, sah die Umrisse des gusseisernen Ofens in der Ecke, dessen Rohr knapp unter der Decke rechtwinklig abgebogen war.
Auf dem Weg in die Küche stolperte Mariam über ein Hindernis am Boden. Als sie den Blick darauf richtete, erkannte sie das Mädchen, ausgestreckt auf einer Steppdecke, den Säugling im Arm.
Das Mädchen lag auf der Seite und schnarchte leise. Das Baby war wach. Mariam zündete die Kerosinlampe auf dem Tisch an und ging in die Hocke. Im Schein der Lampe betrachtete sie das Kind zum ersten Mal aus der Nähe, seinen dunklen Haarschopf, die langen Wimpern, haselnussbraunen Augen, rosigen Wangen und Lippen, die so rot wie reife Granatäpfel waren.
Mariam hatte den Eindruck, dass auch das Baby sie mit forschendem Blick betrachtete. Es lag auf dem Rücken, hatte den Kopf ein wenig zur Seite gedreht und schaute zu ihr auf, amüsiert, verwirrt und argwöhnisch zugleich. Mariam fragte sich, ob sie der Kleinen womöglich Angst machte, doch dann quiekte das Baby freudig, und Mariam wusste, dass ihr Anblick erwünscht war.
»Psst«, flüsterte Mariam. »Du weckst noch deine Mutter, todmüde, wie sie ist.«
Das Kind ballte eine Hand zur Faust, die hin und her ruckte, aber dann den Weg zum Mund fand. Die Finger zwischen den zahnlosen Gaumen, lächelte es Mariam an und brachte prustend Speichelblasen zwischen den Mundwinkeln hervor.
»Sieh dich an. Was für ein trauriges Bild du abgibst, angezogen wie ein Junge. Und so dick eingepackt bei dieser Hitze! Kein Wunder, dass du wach bist.«
Mariam schlug die Decke beiseite, fand zu ihrem Schrecken eine zweite darunter und lüftete auch diese, wobei sie mit der Zunge schnalzte. Das Kind lachte erleichtert und schwang die Arme wie ein Vogel.
»Besser, oder?«
Als sich Mariam aufzurichten versuchte, ergriff das Kind ihren kleinen Finger und hielt ihn fest umklammert. Seine kleine Hand war warm, weich und feucht vom Speichel.
»Gunuh«, sagte es.
»Gut jetzt, bas, lass los.«
Das Kind hielt fest und strampelte mit den Beinen.
Mariam zog ihren Finger frei. Das Baby strahlte, gab gurgelnde Laute von sich und führte die Hand wieder zum Mund.
»Worüber freust du dich so? He? Warum lachst du? Anscheinend bist du doch nicht so clever, wie deine Mutter behauptet. Du hast einen Rohling als Vater und eine Närrin als Mutter. Wenn dir das klar wäre, würde dir das Lachen vergehen. Glaub mir. Und jetzt versuch zu schlafen. Na los.«
Mariam stand auf und wandte sich zur Tür. »Eh, eh, eh«, machte das Kind und signalisierte damit, dass es gleich zu schreien anfangen würde. Mariam kehrte zu ihm zurück.
»Was ist? Was willst du von mir?«
Das Kind strahlte übers ganze Gesicht.
Mariam seufzte. Sie setzte sich auf den Boden, gab dem Kind ihren kleinen Finger wieder zum Spielen und sah, wie es sich freute, die kleinen runden Beinchen in die Luft hob und zu strampeln anfing. Mariam schaute ihm zu, bis es die Augen schloss und eingeschlafen war.
Draußen fingen die Drosseln zu zwitschern an, und wenn sie aufflatterten, sah Mariam ihre Flügel im bläulichen Licht des Mondes schwingen, der durch die Wolken strahlte. Und obwohl ihre Kehle vor Durst wie ausgetrocknet war und ihre Beine einzuschlafen drohten, blieb sie noch lange am Boden hocken, bevor sie ihren Finger vorsichtig aus der Hand des Säuglings befreite und aufstand.