25

Laila konnte sich nicht rühren; sie war wie versteinert. Die an sie gerichteten Worte erreichten sie kaum. Als Tarik sprach, sah Laila ihr Leben wie ein morsches Seil ausfransen, zerfasern und reißen.

Es war ein heißer, stickiger Nachmittag im August 1992. Sie saßen im Wohnzimmer. Mami hatte seit den frühen Morgenstunden so schlimme Bauchschmerzen, dass Babi mit ihr trotz der Raketen, die Hekmatyar aus dem Süden abfeuern ließ, zum Arzt gefahren war. Und nun saß Tarik neben Laila auf der Couch, den Blick gesenkt und die Hände zwischen den Knien.

Er sagte, dass er wegziehen werde.

Nicht nur aus der Nachbarschaft oder Kabul. Er werde das Land verlassen.

Laila konnte es nicht fassen.

»Wohin? Wohin gehst du?«

»Zuerst nach Pakistan. Peschawar. Und danach …, wer weiß? Vielleicht nach Indien. Oder in den Iran.«

»Wie lange …«

»Ich weiß nicht.«

»Ich meine, wie lange denkst du schon daran, wegzugehen?«

»Schon seit einiger Zeit. Ich wollte es dir längst gesagt haben, ehrlich, hab’s aber nicht über mich gebracht.«

»Wann?«

»Morgen.«

»Morgen?«

»Laila, sieh mich an.«

»Morgen.«

»Mein Vater drängt. Er ist krank, wie du weißt. Er kann all das Kämpfen und Morden nicht länger verkraften.«

Laila vergrub ihr Gesicht in den Händen. Das Herz schnürte sich in ihrer Brust zusammen.

Sie hätte es ahnen können, dachte sie. Es waren schon so viele gegangen, und jetzt, nur vier Monate nach Ausbruch der Kämpfe zwischen den Mudschaheddin, begegnete ihr auf der Straße kaum mehr ein bekanntes Gesicht. Hasinas Familie war im Mai nach Teheran geflohen. Wajma hatte sich mit ihrem Clan im gleichen Monat nach Islamabad abgesetzt. Gitis Eltern und Geschwister waren im Juni, kurz nach Gitis Tod, abgereist. Laila wusste nicht einmal, wohin. Es hieß, dass sie nach Mashad in den Iran hatten gehen wollen. Nach dem Auszug der Nachbarn blieben ihre Häuser für ein paar Tage leer; dann zogen entweder Milizionäre oder fremde Zivilisten ein.

Alle flohen. Nun auch Tarik.

»Und meine Mutter ist nicht mehr die Jüngste«, sagte er. »Die beiden haben nur noch Angst. Laila, sieh mich an.«

»Du hättest es mir sagen sollen.«

»Bitte, sieh mich an.«

Laila wimmerte, schluchzte und fing dann zu weinen an. Als er mit dem Daumen die Tränen abzuwischen versuchte, stieß sie seine Hand von sich, empört und wütend darüber, dass er sie im Stich ließ, Tarik, der wie ein Teil von ihr war und in all ihren Gedanken auftauchte. Wie konnte er sie verlassen? Sie schlug ihn. Sie schlug ihn und zerrte an seinen Haaren, bis er sie bei den Handgelenken packte und festhielt. Er versuchte, auf sie einzureden, klang ruhig und vernünftig dabei, doch sie hörte ihm nicht zu. Er kam ihr näher, so nahe, dass sie wieder seinen Atem auf ihren Lippen spürte.

Und als er sie dann küsste, ließ sie es sich gefallen.

Alles genau in Erinnerung zu behalten, was dann geschah, wurde ihr wichtigstes Anliegen in den nächsten Tagen und Wochen. Wie ein Kunstliebhaber, der einem brennenden Museum entfliehen muss, versuchte sie, alles, was ihr wertvoll erschien, festzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren – möglichst jeden Blick, jede Empfindung, jedes geflüsterte Wort. Doch die Zeit ist ein verheerendes Feuer, und am Ende konnte sie nur weniges retten: den jähen, heftigen Schmerz; das schräg auf den Teppich fallende Sonnenlicht; die hastig abgeschnallte Prothese, die neben ihnen lag; seine Ellbogen in ihren Händen; das Muttermal unter seinem Schlüsselbein – die auf dem Kopf stehende Mandoline – rot erglüht; sein Gesicht dicht vor ihren Augen; seine herabhängenden schwarzen Locken, ihre Wangen kitzelnd; die Angst, ertappt zu werden; das ungläubige Staunen über den eigenen Wagemut; die seltsame, unbeschreibliche Wonne, vermischt mit Schmerz; den vielfältigen Ausdruck in Tariks Blicken: Scheu, Sorge, Zärtlichkeit, Verlegenheit, vor allem aber Hunger.

Danach herrschte helle Aufregung. Mit fliegenden Fingern wurden Hemden zugeknöpft, Haare gekämmt und Gürtel geschnallt. Schließlich saßen sie wieder Seite an Seite auf der Couch, die Gesichter gerötet und beide sprachlos über das, was geschehen war. Was sie getan hatten.

Laila entdeckte drei Tropfen Blut auf dem Teppich, ihr Blut, und stellte sich die Eltern vor, wenn sie später auf dieser Couch säßen, ohne etwas von der Sünde zu ahnen, die sie, ihre Tochter, begangen hatte. Scham und Schuldgefühle überkamen sie jetzt, und oben tickte die Uhr, überlaut für Lailas Ohren. Wie das unablässige Klopfen eines Richterhammers zu ihrer Verurteilung.

Tarik sagte: »Komm mit mir.«

Laila glaubte fast für einen Moment, dass es ihr möglich wäre, zusammen mit Tarik und seinen Eltern auszuwandern, ihre Taschen zu packen, einen Bus zu besteigen und alle Gewalt hinter sich zu lassen, um ein neues Leben an Tariks Seite zu beginnen, auf Gedeih oder Verderb. Ohne ihn bliebe ihr nur trostlose Einsamkeit.

Ja, es wäre ihr möglich. Sie könnten zusammen gehen.

Es würde weitere solcher Nachmittage geben.

»Ich will dich heiraten, Laila.«

Erst jetzt hob sie den Blick, um ihm in die Augen zu schauen. Sie versuchte, seine Gedanken zu erforschen. Diesmal zeigte sich nichts von jenem clever einstudierten vieldeutigen Mienenspiel, dass er sonst so gut beherrschte. Er wirkte vielmehr ungewohnt ernst und entschlossen.

»Tarik …«

»Ich will dich zur Frau, Laila. Wir könnten heute noch heiraten.«

Er wollte noch mehr sagen, ihr vorschlagen, eine Moschee aufzusuchen, einen Mullah und zwei Trauzeugen ausfindig zu machen, eine nikka auf die Schnelle …

Doch Laila dachte an Mami, die in ihrem Groll und in ihrer Verzweiflung so unnachgiebig und kompromisslos war wie die Mudschaheddin. Sie dachte an Babi, der seiner Frau nichts entgegenzusetzen und längst aufgegeben hatte.

Manchmal … drängt sich mir das Gefühl auf, dass du, Laila, alles bist, was ich habe.

Dies waren die unüberwindlichen Umstände ihres Lebens.

»Ich werde bei Kaka Hakim um deine Hand anhalten. Sein Segen ist uns gewiss, Laila; davon bin ich überzeugt.«

Tarik hatte recht. Babi würde zustimmen. Aber es würde ihn auch zerbrechen lassen.

Tarik redete weiter, mal mit gedämpfter Stimme, flehend, dann mit Nachdruck und vernünftigen Argumenten, seine Miene mal hoffnungsvoll, mal verzweifelt.

»Ich kann nicht«, sagte Laila.

»Sag so etwas nicht. Ich liebe dich.«

»Es tut mir leid …«

»Ich liebe dich.«

Wie lange hatte sie darauf gewartet, diese Worte von ihm zu hören? Wie oft hatte sie geträumt, dass er sie ausspräche? Jetzt endlich tat er es, und die Ironie der Umstände stieß ihr bitter auf.

»Es ist wegen meines Vaters«, versuchte Laila zu erklären. »Ich bin sein Ein und Alles. Er würde es nicht verkraften, wenn ich ginge.«

Tarik wusste es. Er wusste, dass sie sich über manche Dinge im Leben ebenso wenig hinwegsetzen konnte wie er. Trotzdem ging es noch eine Weile hin und her mit seinen Bitten und ihrer Ablehnung, mit seinen Vorschlägen und ihren Entschuldigungen, mit seinen und ihren Tränen.

Am Ende musste Laila ihn drängen zu gehen.

Vor der Tür nahm sie ihm das Versprechen ab, auf einen Abschied zu verzichten. Sie schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sein Pochen von außen ging ihr durch Mark und Bein. Mit einem Arm hielt sie den Bauch umfasst, und die Hand vor den Mund gepresst, hörte sie ihn beteuern, dass er zu ihr zurückkehren würde. Sie rührte sich nicht, bis er endlich, müde geworden, aufgab und ging. Sie lauschte seinen hinkenden Schritten, bis nichts mehr zu vernehmen war außer dem Gewehrfeuer in den Bergen und den eigenen Herzschlägen, die ihren ganzen Körper vibrieren ließen.