47

Mariam

Nach all den Jahren, so schien es, wieder zurück in einer kolba.

Das Frauengefängnis Walayat war ein würfelförmiges graues Gebäude in Shar-e-Nau nahe der Hühnerstraße. Es befand sich inmitten eines größeren Komplexes, der Haftanstalt für Männer. Ein mit Vorhängeschlössern abgesichertes Tor trennte Mariam und die anderen Frauen von den anderen Teilen des Gefängnisses. Mariam zählte vier belegte Zellen, kleine kahle Kammern, in denen der Putz von den Wänden bröckelte. Die unverglasten Fensterluken waren vergittert und blickten auf den Innenhof, den die Frauen nach Belieben aufsuchen konnten, denn die Türen zu ihren Zellen blieben unverschlossen. Weil es keine Vorhänge vor den Fenstern gab, konnten die Wärter, die im Hof patrouillierten, ungehindert Einblick nehmen. Einige Frauen beschwerten sich darüber, dass die Wärter vor ihren Fenstern rauchten, sie, die Gefangenen, mit lüsternen Blicken begafften und zotige Witze rissen. Aus diesem Grund trugen die meisten Frauen den ganzen Tag über Burkas, die sie erst nach Sonnenuntergang ablegten, wenn die Pforte abgeschlossen war und die Wärter ihre Posten eingenommen hatten.

Nachts war es stockdunkel in der Zelle, die sich Mariam mit fünf Frauen und vier Kindern teilte. Wenn es ausnahmsweise Strom gab, wurde Naghma, eine klein gewachsene junge Frau mit flacher Brust und schwarzem krausem Haar, unter die Decke gehoben, aus der ein Stück abisoliertes Kabel heraushing. Naghma klemmte dann mit der Hand die Phasen an eine Glühbirne und sorgte so für Licht.

Die Toiletten waren so groß wie Kleiderschränke. In der Mitte des an mehreren Stellen aufgesprungenen Betonbodens befand sich ein kleines rechteckiges Loch, darunter ein Haufen Unrat. Fliegen schwirrten durch dieses Loch ein und aus.

Mitten auf dem rechteckigen Innenhof gab es eine Wasserstelle, die aber keinen Ablauf hatte, weshalb der Hof meistens verschlammt war. An einem Gewirr aus Wäscheleinen hingen Socken und Windeln zum Trocknen. Hier empfingen die Insassen auch ihre Besucher; hier wurde der Reis gekocht, den die Familien mitbrachten – das Gefängnis gab selbst kein Essen aus. Der Hof war gleichzeitig auch Spielplatz der Kinder, von denen viele, wie Mariam erfuhr, in Walayat zur Welt gekommen waren und die Welt jenseits dieser Mauern noch nie gesehen hatten. Mariam sah ihnen beim Spielen zu und wie sie auf bloßen Füßen durch den Matsch tollten. Den ganzen Tag tobten sie herum, ungeachtet des Gestanks, der dem gesamten Gelände und ihren eigenen Körpern anhaftete; auch von den Taliban nahmen sie keine Notiz, es sei denn, sie wurden geschlagen.

Mariam hatte keine Besucher. Es war das Erste und Einzige, worum sie die Gefängnisleitung gebeten hatte: keine Besucher.

Keine der anderen Frauen in Mariams Zelle saß wegen eines Gewaltverbrechens ein. Sie büßten alle dafür, von zu Hause weggelaufen zu sein, was viele Frauen versuchten. Als Mörderin genoss Mariam eine Sonderstellung. Die Frauen betrachteten sie mit Respekt, fast ehrfürchtig. Sie boten ihr ihre Decken an und rissen sich geradezu darum, sie an ihrem Essen teilhaben zu lassen.

Besonders angetan von Mariam war Naghma, die ihr mit verschränkten Armen auf Schritt und Tritt folgte. Naghma empfand offenbar ein eigentümliches Vergnügen daran, von Unglücksfällen zu berichten, die nicht zuletzt ihre eigene Person betrafen. Sie erzählte, dass ihr Vater sie einem Schneider versprochen habe, der an die dreißig Jahre älter sei als sie.

»Er stinkt wie goh und hat weniger Zähne im Mund als Finger an der Hand«, beschrieb Naghma den Schneider.

Sie hatte mit einem jungen Mann, dem Sohn eines Mullahs, nach Gardez zu fliehen versucht, war aber nicht weit gekommen. Nach ihrer Gefangennahme war der Mullah-Sohn ausgepeitscht worden, bis er sich reuig zeigte und sagte, dass Naghma ihn mit ihren weiblichen Reizen verführt habe. Er sei von ihr in eine Art Bann geschlagen worden, sagte er und versprach, sich hinfort voll und ganz dem Studium des Koran zu widmen. Er wurde freigelassen, Naghma zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Hier im Gefängnis sei sie wenigstens in Sicherheit, sagte sie; ihr Vater habe geschworen, ihr am Tag ihrer Freilassung die Kehle aufzuschlitzen.

Als Naghma dies erzählte, fühlte sich Mariam an jenen Morgen vor langer Zeit zurückversetzt, als vor verlöschenden kalten Sternen rosarote Wolkenschlieren über das Safid-koh-Gebirge zogen und Nana zu ihr sagte: »So wie eine Kompassnadel immer nach Norden zeigt, wird der anklagende Finger eines Mannes immer eine Frau finden. Immer. Denk daran, Mariam.«

Mariams Prozess hatte vor einer Woche stattgefunden. Es gab keine Verhandlung, keine Rechtsberatung, keine Beweisaufnahme, keinen Einspruch. Mariam verzichtete auf die Aussage von Entlastungszeugen. Das gesamte Verfahren dauerte nicht länger als eine Viertelstunde.

Ihr saßen drei Männer gegenüber; der in der Mitte, ein gebrechlicher alter Talib, war allem Anschein nach der vorsitzende Richter. Er war außergewöhnlich hager, hatte eine gelbliche, lederne Haut und einen krausen roten Bart. Er trug eine Brille, die seine Augen vergrößerte und erkennen ließ, dass sich das Weiß der Augäpfel gelb verfärbt hatte. Der dünne Hals schien kaum geeignet, den Kopf samt sorgsam gewickeltem Turban tragen zu können.

»Sie sind geständig, hamshira?«, fragte er mit müder Stimme.

»Ja«, antwortete Mariam.

Der Mann nickte. Vielleicht auch nicht. Das Zittern seiner Hände und des Kopfes erinnerten Mariam an Mullah Faizullahs Tremor. Wenn er einen Schluck Tee trinken wollte, ließ er sich von dem stämmigen Mann zu seiner Linken das Glas an die Lippen führen. Dann schloss er die Augen und dankte mit stummer, vornehmer Geste.

Er hatte, wie Mariam fand, etwas Entwaffnendes an sich. Wenn er sprach, schwangen sowohl Arglist als auch Zärtlichkeit in seiner Stimme mit. Er lächelte geduldig und blickte nicht mit Verachtung auf Mariam herab. Seine an sie gerichteten Worte waren ohne Gehässigkeit oder Vorwurf, ja sogar in einem eher entschuldigenden Ton vorgetragen.

»Ist Ihnen klar, was das heißt?«, fragte der knochige Talib zu seiner Rechten. Er war der jüngste der drei, redete sehr schnell und überheblich und gab sich besonders selbstsicher. Es irritierte ihn, dass Mariam kein Paschto sprach. Auf sie machte er den Eindruck eines jener streitsüchtigen jungen Männer, die es genießen, Macht auszuüben, überall Verstöße sehen und es für ihr Geburtsrecht halten, Urteile zu fällen.

»Ja«, antwortete Mariam.

»Ich weiß nicht«, entgegnete der junge Talib. »Nach Gottes Willen sind Mann und Frau verschieden. Unsere Gehirne funktionieren anders. Ihr Frauen könnt unseren Gedanken nicht folgen. Das ist von westlichen Ärzten und Wissenschaftlern nachgewiesen worden. Darum hat für uns die Aussage eines Mannes ebenso viel Gewicht wie die von zwei Frauen.«

»Ich habe meine Tat gestanden, Bruder«, sagte Mariam. »Aber hätte ich sie nicht begangen, wäre sie nun tot. Er hat sie gewürgt.«

»Das sagten Sie bereits. Aber Frauen behaupten vieles.«

»Es ist die Wahrheit.«

»Haben Sie, abgesehen von Ihrer ambagh, irgendwelche Zeugen?«

»Nein.«

»Na dann …« Er warf die Hände in die Luft und verzog das Gesicht.

Als Nächstes sprach der kränkliche Talib.

»Ich bin bei einem Arzt in Peschawar in Behandlung«, sagte er. »Er ist ein sehr tüchtiger junger Pakistani. Erst letzte Woche war ich bei ihm. Ich bat ihn, mir die Wahrheit zu sagen, Freund, und er antwortete: ›Ich gebe Ihnen drei Monate, Mullah sahib, höchstens sechs, wenn Gott will.‹«

Er nickte dem Mann zur Linken zu und nahm einen weiteren Schluck Tee aus dem gereichten Trinkglas. Mit dem Rücken der zitternden Hand wischte er sich über den Mund. »Es macht mir keine Angst, aus diesem Leben zu scheiden. Mein einziger Sohn ist mir schon vor fünf Jahren vorausgegangen. Dieses Leben bereitet uns Kummer über Kummer, bis wir daran zerbrechen. Nein. Ich glaube, ich darf glücklich sein, dass ich bald daraus entlassen werde.

Was mich allerdings beunruhigt, hamshira, ist, dass ich vor Gott treten werde und er mich fragen wird: ›Warum hast du nicht getan, was ich von dir verlangt habe, Mullah? Warum hast du meinen Gesetzen nicht gehorcht?‹ Wie werde ich mich Ihm gegenüber rechtfertigen können, hamshira? Wie entlaste ich mich von dem Vorwurf, ungehorsam gewesen zu sein? Alles, was ich tun kann – was wir in der uns verbleibenden Zeit tun können –, ist, den Gesetzen zu entsprechen, die Er uns gegeben hat. Je deutlicher ich mein Ende vor Augen sehe, hamshira, je näher der Tag meines Todes heranrückt, desto entschlossener bin ich, Sein Wort zu erfüllen. So schmerzlich es auch sein mag.«

Er rutschte ächzend auf seinem Stuhl hin und her. Seine Kollegen richteten das bestickte Kissen, auf dem er saß.

»Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Ihr Mann sehr jähzornig war«, fuhr er fort und fixierte Mariam durch seine dicke Brille. Sein Blick war ernst und mitfühlend zugleich. »Nichtsdestotrotz schockiert mich die Brutalität Ihrer Tat, hamshira. Mich entsetzt, was Sie getan haben, während sein kleiner Junge im Schlafzimmer eingeschlossen war und weinte.

Ich bin müde und dem Tod geweiht. Ich würde gern Gnade walten lassen und Ihnen vergeben. Aber wenn Gott mich ruft und sagt, ›Es war nicht dein Amt, zu vergeben, Mullah‹, was soll ich dann antworten?«

Seine Kollegen nickten und sahen ihn bewundernd an.

»Sie machen auf mich nicht den Eindruck einer verruchten Frau, hamshira. Und doch haben Sie eine verruchte Tat begangen. Dafür müssen Sie büßen. Die Scharia schreibt für solche Fälle ein klares Urteil vor. Sie sagt, dass ich Sie, hamshira, dorthin schicken muss, wo ich selbst bald sein werde.

Verstehen Sie mich, hamshira

Mariam blickte auf ihre Hände und bejahte seine Frage.

»Möge Allah Ihnen vergeben.«

Bevor man sie abführte, wurde ihr das schriftliche Urteil des Mullahs vorgelegt. Unter den Augen der drei Taliban unterzeichnete Mariam mit ihrem Namen – meem, reh, yah, meem –, und während sie schrieb, erinnerte sie sich an ihre letzte Unterschrift vor siebenundzwanzig Jahren, an Jalils Tisch und unter den aufmerksamen Blicken eines anderen Mullahs.

Mariam verbrachte insgesamt zehn Tage in Haft. Sie hockte in der Zelle vor dem Fenster und schaute auf den Hof hinaus. Wenn der Sommerwind wehte, wirbelten Staub und Papierfetzen bis über die Gefängnismauern auf und tanzten in Strudeln wie Irrwische durch den Hof. Alle – die Wärter, die Kinder, die Inhaftierten und Mariam – vergruben dann das Gesicht in der Armbeuge, doch der Staub ließ sich nicht aufhalten. Er drang in Ohren und Nase, in Augen, Hautfalten und Mund, wo er zwischen den Zähnen knirschte. Gegen Abend flauten die Stürme ab, und die Brisen in der Nacht waren so lau, als schämten sie sich für die Auswüchse ihrer Geschwister bei Tage.

An Mariams letztem Tag im Walayat schenkte ihr Naghma eine Mandarine. Sie drückte sie ihr in die Hand und schloss die Finger darüber.

»Du bist die beste Freundin, die ich jemals hatte«, sagte Naghma und brach in Tränen aus.

Auch den Rest des Tages verbrachte Mariam vor dem vergitterten Fenster und blickte nach draußen. Jemand kochte. Nach Kreuzkümmel duftender Rauch und warme Luft drängten in die Zelle. Kinder versuchten einander mit verbundenen Augen zu fangen. Zwei kleine Mädchen sagten einen Reim auf, der Mariam daran erinnerte, dass ihr ebendieser Vers von Jalil beigebracht worden war, als sie am Ufer des Flusses gesessen und geangelt hatten.

Eine Vogeltränke, klitzeklein,

war gehöhlt in einen Stein.

Stichling saß am Rand und trank,

rutschte aus und – plumps – versank.

Mariam hatte in der vergangenen Nacht ein buntes Kaleidoskop aus Bildern zusammengeträumt: elf vertikal angeordnete Kieselsteine; Jalil, wieder jung, mit gewinnendem Lächeln, dem Kinngrübchen, Schweißflecken unter den Achseln und dem über die Schulter geworfenen Jackett, auf dem Weg zu seiner Tochter, um sie zu einem Ausflug in seinem blank polierten schwarzen Buick Roadmaster einzuladen; Mullah Faizullah, der seinen Rosenkranz befingert und mit ihr am Flussufer entlangschlendert, gefolgt von ihrer beider Schatten, die über das Wasser gleiten; und die begraste Uferböschung, auf der lavendelblaue Schwertlilien wachsen, die im Traum wie Nelken riechen. Sie träumte von Nana im Eingang der kolba, hörte sie von ferne zu Tisch rufen, während Mariam im kühlen wuchernden Gras krabbelnde Ameisen, Käfer und Heuschrecken inmitten einer Vielzahl von Grüntönen beobachtete. Das Rad eines Karrens, der über den staubigen Weg bergan geschoben wurde, knarrte. Kuhglocken läuteten. Auf einem Hügel blökten Schafe.

Unterwegs zum Ghazi-Stadion wurde Mariam auf der Pritsche eines Lastwagens, der durch Schlaglöcher polterte und Kies aufspritzen ließ, so heftig durcheinandergeschüttelt, dass ihr das Steißbein wehtat. Ein junger bewaffneter Talib behielt sie im Auge.

Mariam fragte sich, ob er ihr Scharfrichter sein würde, dieser freundlich aussehende junge Mann mit den tief liegenden hellen Augen und leicht zugespitztem Gesicht, der mit dem schwarz angelaufenen Fingernagel seines Zeigefingers an das Seitenblech klopfte.

»Hast du Hunger, Mutter?«, fragte er.

Mariam schüttelte den Kopf.

»Ich hätte einen Keks. Schmeckt gut. Du kannst ihn haben, wenn du Hunger hast.«

»Nein. Tashakor, Bruder.«

Er zuckte mit den Achseln und lächelte. »Hast du Angst, Mutter?«

Ihr Hals war wie zugeschnürt. Mit zitternder Stimme sagte Mariam die Wahrheit. »Ja. Große Angst.«

»Ich habe ein Bild von meinem Vater«, erklärte er. »Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Er hat früher Fahrräder repariert, so viel weiß ich, nicht aber, wie er sich bewegt hat, wie er gelacht oder wie seine Stimme geklungen hat, wenn du verstehst, was ich meine.« Er schaute zur Seite, richtete aber gleich darauf seinen Blick wieder auf Mariam. »Meine Mutter sagte immer, er sei der tapferste Mann, den sie kenne. Wie ein Löwe, sagte sie. Aber als ihn eines Morgens die Kommunisten abholten, habe er geweint wie ein Kind. Damit will ich dir sagen, dass es ganz normal ist, Angst zu haben. Dafür braucht man sich nicht zu schämen, Mutter.«

Zum ersten Mal an diesem Tag weinte Mariam ein wenig.

Auf den Tribünen waren Tausende Augenpaare auf sie gerichtet. Man reckte die Hälse, um besser sehen zu können. Gebete wurden gemurmelt. Viele schnalzten mit der Zunge. Ein Raunen ging durchs Stadion, als Mariam von dem Lastwagen heruntergeholt wurde. Sie stellte sich vor, dass in der Menge alle den Kopf schüttelten, als über Lautsprecher bekannt gegeben wurde, welches Verbrechen ihr zur Last gelegt wurde. Aber sie blickte nicht auf, um zu sehen, ob dieses Kopfschütteln missbilligend oder wohlmeinend war, vorwurfsvoll oder mitfühlend. Mariam blendete die Zuschauer aus.

Vor ein paar Stunden hatte sie noch gefürchtet, sich lächerlich zu machen als jemand, der um Gnade winselte, in Schreikrämpfe ausbrach, sich erbrach oder gar einnässte, dass sie am Ende auch noch den letzten Rest Würde verlieren und tierischen Instinkten nachgeben würde. Doch als ihr von dem Lastwagen heruntergeholfen wurde, gaben ihre Beine nicht nach. Sie rang nicht mit den Händen und musste auch nicht zur Hinrichtungsstelle geschleift werden. Als sie spürte, dass sie ins Wanken zu geraten drohte, dachte sie an Zalmai, dem sie den geliebten Vater geraubt hatte, worunter er nun zeit seines Lebens würde leiden müssen. Dann raffte sie sich wieder auf und ging mit sicherem Schritt weiter.

Ein bewaffneter Mann kam ihr entgegen und wies ihr den Weg in Richtung der Torpfosten auf der Südseite des Spielfeldes. Mariam glaubte, die angespannte Erwartung der Menge spüren zu können. Sie blickte nicht auf. Sie schaute zu Boden, auf ihren Schatten und den des Scharfrichters, der ihr folgte.

Mariam blickte auf ein Leben zurück, das ihr, von einigen wenigen schönen Momenten abgesehen, übel mitgespielt hatte. Doch als sie ihre letzten zwanzig Schritte setzte, wollte sie trotz allem an diesem Leben festhalten. Sie wünschte, Laila noch einmal sehen zu können, wünschte, sie lachen zu hören, mit ihr unter einem Sternenhimmel chai zu trinken und halwa-Reste zu essen. Sie bedauerte, nicht miterleben zu dürfen, wie Aziza zu einer schönen jungen Frau heranwuchs, dass es ihr nicht vergönnt sein würde, Azizas Hände mit Henna zu bemalen und zu ihrer Hochzeit noqul-Bonbons unter die Gäste zu werfen. Sie würde nie mit Azizas Kindern spielen.

Kurz vor dem Torpfosten forderte sie der Mann auf, stehen zu bleiben. Mariam gehorchte. Durch den Sehschlitz ihrer Burka sah sie den Schatten seines Arms, mit dem er seine Kalaschnikow anhob.

In diesen letzten Momenten wünschte sich Mariam vieles. Als sie aber die Augen schloss, wich ihr Leid dem Empfinden grenzenlosen Friedens. Sie dachte an ihren Eintritt in diese Welt als harami einer geringen Dörflerin, als ungewünschtes Ding und bedauernswerter Unfall, als Unkraut. Und doch verließ sie diese Welt als eine Frau, die liebte und geliebt wurde. Sie ging als Freundin und Begleiterin, Beschützerin und Mutter. Als eine Person von Belang. Nein, dachte Mariam, es war nicht so schlecht, auf diese Weise zu sterben. Es war das legitime Ende eines Lebens, das illegitim begonnen hatte.

Mariams letzte Gedanken richteten sich auf einen Koranvers, den sie unter angehaltenem Atem vor sich hin murmelte:

»Er hat Himmel und Erde der Wahrheit gemäß erschaffen. Er lässt die Nacht über den Tag und den Tag über die Nacht rollen. Er hat die Sonne und den Mond dienstbar gemacht. Jeder läuft in seiner Bahn für eine bestimmte Zeit. Er ist der Allmächtige, der Allvergebende.«

»Knie nieder!«, sagte der Talib.

»Oh, mein Herr! Vergib mir und sei mir gnädig, du, Allerbarmer.«

»Knie nieder, hamshira. Und halte den Kopf gesenkt!«

Mariam gehorchte ein letztes Mal.