27
Mariam
»Weißt du, wer ich bin?«
Die Lider des Mädchens flatterten.
»Weißt du, was passiert ist?«
Ihre Lippen zitterten. Sie schloss die Augen. Schluckte. Sie fuhr mit der Hand über die linke Wange, versuchte, etwas zu sagen.
Mariam beugte sich über sie.
»Das Ohr«, hauchte das Mädchen. »Ich kann nicht hören.«
Während der ersten Woche schlief das Mädchen fast nur, ruhiggestellt von den pinkfarbenen Pillen, die Raschid im Krankenhaus erstanden hatte. Es murmelte im Schlaf, redete manchmal wirres Zeug, schrie auf und rief Namen, die Mariam nicht kannte. Es weinte auch im Schlaf, wurde hektisch und zerwühlte die Decken; Mariam musste es dann festhalten. Es kam vor, dass es sich übergab und alles erbrach, was Mariam ihm zu essen gegeben hatte.
Wenn es ruhig war, lag das Mädchen einfach nur da und starrte aus stumpfen Augen an die Zimmerdecke. Auf Mariams und Raschids Fragen antwortete es flüsternd und mit knappen Worten. An manchen Tagen war es wie ein Kind und warf den Kopf hin und her, wenn Mariam oder Raschid versuchten, es zu füttern. Wenn ihm der Löffel zum Mund geführt wurde, biss es die Zähne aufeinander und erstarrte, gab aber schließlich aus Mattigkeit dem hartnäckigen Drängen der beiden nach. Danach schluchzte es untröstlich.
Auf Raschids Rat behandelte Mariam die Schnittwunden im Gesicht und am Hals des Mädchens mit einer antibiotisch wirkenden Salbe, auch die Nähte an der Schulter, den Unterarmen und Unterschenkeln, die Mariam anschließend mit stets frisch gewaschenen Verbänden umwickelte. Wenn sich das Mädchen übergeben musste, hielt Mariam seinen Kopf gefasst und achtete darauf, dass ihm keine Haare ins Gesicht fielen.
»Wie lange wird sie bleiben?«, fragte Mariam ihren Mann.
»Bis es ihr besser geht. Sieh sie dir an. In ihrer Verfassung kann sie nicht gehen. Armes Ding.«
Es war Raschid gewesen, der das Mädchen gefunden und unter den Trümmern hervorgezogen hatte.
»Ein Glück, dass ich zu Hause war«, sagte er ihm. Er saß auf einem Klappstuhl neben Mariams Bett, in dem das Mädchen lag. »Glück für dich, meine ich. Ich habe dich eigenhändig aus den Trümmern befreit. Da war ein Metallsplitter, so dick …« Er deutete mit Daumen und Zeigefinger die Stärke des Splitters an und übertrieb dabei, wie Mariam fand. »So dick. Der steckte dir in der Schulter. Richtig tief. Zuerst dachte ich, den kann man nur mit einer Kneifzange rausziehen. Na ja, ist ja noch mal gut gegangen. Bald wirst du wieder nau socha sein. So gut wie neu.«
Es war auch Raschid gewesen, der einen kleinen Teil von Hakims Büchern geborgen hatte.
»Die meisten sind verbrannt. Der Rest, fürchte ich, wurde geplündert.«
In der ersten Woche half er seiner Frau dabei, das Mädchen zu versorgen. Einmal kam er mit einer neuen Decke und einem neuen Kopfkissen von der Arbeit nach Hause. Ein anderes Mal brachte er ein Fläschchen mit Pillen mit.
»Vitamine«, sagte er.
Es war Raschid, der Laila mitteilte, dass das Haus ihres Freundes Tarik inzwischen wieder bewohnt sei.
»Einer von Sayyafs Kommandeuren hat es dreien seiner Männer zum Geschenk gemacht. Einfach so. Ha!«
Die drei »Männer« waren im Grunde noch junge Burschen mit sonnengebräunten knabenhaften Gesichtern. Mariam sah sie manchmal, wenn sie an dem Haus vorbeikam. Sie trugen immer Kampfanzüge, hockten vor der Eingangstür, spielten Karten und rauchten. Ihre Kalaschnikows lehnten an der Wand. Ihr Anführer war ein stämmiger Kerl mit selbstgefälliger, grimmiger Miene. Der jüngste von ihnen machte einen zurückhaltenden Eindruck und schien das Draufgängertum seiner Freunde mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Er lächelte und grüßte mit einem Kopfnicken, wenn Mariam vorüberging. Dann zeigte sich ihr unter seiner rauen Oberfläche ein menschliches Gesicht, das noch unverdorben war.
Eines Morgens schlugen Raketen in das Haus ein, abgefeuert, wie es hieß, von den Hazaras der Wahdat-Fraktion. Noch Tage später fand man Glieder und Körperteile der Jungen.
»Sie haben’s nicht anders verdient«, sagte Raschid.
Das Mädchen habe außerordentlich großes Glück gehabt, fand Mariam. Dass es mit nur leichten Verletzungen davongekommen war, während die Rakete das Elternhaus in Schutt und Asche verwandelt hatte, kam wahrhaftig einem Wunder gleich. Allmählich erholte es sich. Es aß jetzt besser, bürstete sich die Haare und wusch sich wieder selbst. Seine Mahlzeiten nahm es bald unten mit Mariam und Raschid ein.
Doch dann flackerten immer wieder ungebetene Erinnerungen auf; es verstummte oder wurde reizbar. Es zog sich zurück. Zusammenbrüche. Leere Blicke. Albträume und plötzliche Anfälle abgrundtiefer Trauer, die bis zum Erbrechen führten.
Manchmal überkam sie Reue.
»Ich dürfte gar nicht hier sein«, sagte sie eines Tages.
Mariam wechselte die Laken. Das Mädchen hockte mit angezogenen Knien auf dem Boden und schaute ihr dabei zu.
»Mein Vater wollte die Kartons mit den Büchern nach draußen bringen. Er sagte, sie seien zu schwer für mich. Aber ich habe mich nicht davon abbringen lassen. Ich wollte es unbedingt selbst tun, hätte aber eigentlich im Haus sein sollen, als es passierte.«
Mariam schlug das frische Laken aus und ließ es aufs Bett fallen. Sie betrachtete das Mädchen, seine blonden Locken, den schlanken Hals und die grünen Augen, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen. Mariam erinnerte sich, sie auf der Straße gesehen zu haben, schon vor Jahren, als sie noch ein Kind war, mit der Mutter auf dem Weg zum tandoor, auf den Schultern ihres älteren Bruders und begleitet von dem jüngeren, von dem Mariam noch wusste, dass er ein Haarbüschel am Ohr gehabt hatte. Und mit dem Tischlersohn hatte sie immer Murmeln gespielt.
Das Mädchen blickte sie an, als hoffte es darauf, irgendein kluges oder aufmunterndes Wort aus Mariams Mund zu hören. Aber was hätte sie ihm zum Trost oder zur Aufmunterung sagen können? Mariam dachte zurück an den Tag, an dem Nana beigesetzt worden war; die von Mullah Faizullah zitierten Koranworte hatten sie kaum trösten können. Segensreich ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft ruht, Der über alle Dinge Macht hat, Der Tod und Leben geschaffen hat, damit Er dich prüfe. Und zu ihren Selbstvorwürfen hatte er gesagt: »Solche Gedanken führen zu nichts, Mariam jo. Hörst du? Sie quälen dich nur. Es war nicht deine Schuld. Es war nicht deine Schuld.«
Mit welchen Worten hätte sie nun das Mädchen entlasten können?
Doch bevor sie etwas sagen konnte, verzog sich das Gesicht des Mädchens. Es kauerte plötzlich auf allen vieren und sagte, dass sich ihm der Magen umdrehe.
»Warte! Augenblick. Ich hole einen Eimer. Nicht auf den Boden. Ich habe gerade sauber gemacht … Oh, oh. Khodaya. Gott.«
Ungefähr einen Monat nach dem Raketeneinschlag, der die Eltern des Mädchens getötet hatte, klopfte ein Mann an die Tür. Mariam machte ihm auf. Er erklärte ihr sein Anliegen.
»Hier ist jemand, der dich sprechen möchte«, sagte Mariam.
Das Mädchen hob den Kopf vom Kissen.
»Sein Name ist Abdul Sharif.«
»Ich kenne keinen Abdul Sharif.«
»Nun, er fragt nach dir. Du solltest nach unten kommen und mit ihm reden.«