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Laila

Tags darauf blieb Laila den ganzen Tag über im Bett. Sie lag unter der Decke, als Raschid morgens den Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte, dass er zum Friseur gehe. Sie war immer noch im Bett, als er am späten Nachmittag zurückkehrte und ihr seinen neuen Haarschnitt vorführte, einen neuen dunkelblauen Nadelstreifenanzug aus zweiter Hand und den Ehering, den er für sie gekauft hatte.

Er setzte sich zu ihr aufs Bett, löste langsam und mit großer Gebärde die Schleife der Verpackung, öffnete das Kästchen und zupfte mit spitzen Fingern den Ring daraus hervor. Er habe Mariams alten Ehering dafür eingetauscht, erklärte er.

»Das macht ihr nichts aus. Glaub mir. Sie wird es nicht einmal bemerken.«

Laila verkroch sich auf die andere Seite des Bettes. Sie konnte Mariam hören, die unten Wäsche bügelte.

»Sie hat ihn ohnehin nie getragen«, sagte Raschid.

»Ich will ihn nicht«, flüsterte Laila. »Nicht unter diesen Umständen. Sie sollten ihn zurückbringen.«

»Zurückbringen?« In seinem Blick flackerte Missmut auf, der aber sogleich wieder verschwand. Er lächelte. »Ich musste noch dazuzahlen, und das nicht zu knapp. Es ist ein sehr viel besserer Ring. Zweiundzwanzig Karat Gold. Fühl mal, wie schwer. Na los, nimm ihn in die Hand. Nein?« Er schloss das Kästchen. »Wie wär’s mit Blumen? Das würde dir doch gefallen, oder? Hast du irgendwelche Lieblingsblumen? Margeriten, Tulpen, Flieder? Keine Blumen? Gut. Ich kann auch nichts damit anfangen. Ich dachte nur … Nun, ich kenne da einen Schneider in Deh-Mazang. Da sollten wir morgen vielleicht mal hingehen und dir ein schönes Kleid anpassen lassen.«

Laila schüttelte den Kopf.

Raschid kniff die Brauen zusammen.

»Mir wär’s lieber …«, hob Laila an.

Er legte ihr eine Hand in den Nacken. Laila zuckte unwillkürlich zusammen und wimmerte. Seine Berührung fühlte sich an wie ein kratziger feuchter Wollpullover auf nackter Haut.

»Ja?«

»Mir wär’s lieber, wir brächten die Sache möglichst schnell hinter uns.«

Raschid riss den Mund auf. Dann grinste er und zeigte gelbe Zähne. »Du kannst es wohl kaum erwarten«, sagte er.

In den Tagen vor Abdul Sharifs Erscheinen war Laila fest entschlossen gewesen, nach Pakistan auszuwandern. Auch danach hätte sie den Mut noch aufgebracht wegzufahren, irgendwohin, möglichst weit weg von dieser Stadt, wo an jeder Straßenecke eine Falle zu befürchten war und in jeder Gasse ein Gespenst lauerte, das wie ein Springteufel über sie herzufallen drohte. Sie hätte die Risiken auf sich genommen.

Jetzt aber gab es diese Möglichkeit nicht mehr.

Nicht mit der täglichen Übelkeit, den schwellenden Brüsten und der Gewissheit, dass die Regel ausgesetzt hatte.

Laila sah sich im Geiste in einem Flüchtlingslager, auf steinigem Wüstengelände zwischen Tausenden von provisorischen Zelten aus Plastikplanen, an denen ein kalter Wind zerrte. Sie malte sich aus, in einem dieser Zelte ein Kind, Tariks Kind, zur Welt zu bringen, einen leblosen Wurm mit bläulich grauer Haut. Sie stellte sich vor, wie dieser winzige Körper von Fremden gewaschen und, mit einem gelbbraunen Tuch umhüllt, auf freiem Feld und unter kreisenden Geiern in ein ausgehobenes Loch gelegt würde.

Wie sollte es ihr jetzt noch möglich sein zu fliehen?

Mit düsterem Sinn machte Laila eine Bestandsaufnahme der Menschen in ihrem Leben: Ahmad und Noor, beide gefallen; Hasina, verschwunden; Giti, tot, so auch Mami und Babi. Jetzt Tarik …

Aus ihrem früheren Leben aber war etwas auf wundersame Weise zurückgeblieben, eine letzte Verbindung zu damals, zu einer Zeit, in der sie noch nicht so schrecklich einsam und allein gewesen war wie jetzt. Ein Teil von Tarik war noch am Leben, in ihr, wuchs heran und bildete kleine Arme aus und winzige durchscheinende Hände mit Fingerknospen. Wie könnte sie das Einzige, was ihr von ihm und ihrem früheren Leben geblieben war, durch eine Flucht gefährden?

Sie traf ihre Entscheidung schnell. Sechs Wochen waren seit jenem Nachmittag mit Tarik vergangen. Falls sie länger wartete, würde Raschid Verdacht schöpfen.

Sie wusste um die Fragwürdigkeit ihrer Absicht. Was sie zu tun beschlossen hatte, war ehrlos, unredlich und schändlich. Ganz und gar unfair gegenüber Mariam. Zwar war das Kind in ihr noch nicht viel größer als eine Maulbeere, doch ahnte Laila bereits, zu welchen Aufopferungen eine Mutter bereit sein musste. Die Preisgabe der Tugend war nur eines der ersten Opfer.

Sie legte eine Hand auf ihren Unterleib und schloss die Augen.

An die Zeremonie sollte sich Laila später nur vage und in Bruchstücken erinnern: an die cremefarbenen Streifen auf Raschids Anzug; den aufdringlichen Geruch seines Haarwassers; die kleine Rasiermesserwunde über dem Adamsapfel; die rauen Kuppen seiner vom Nikotin verfärbten Finger, als er ihr den Ring aufsteckte; an den nicht funktionierenden Stift; die Suche nach Ersatz; den Vertrag; die Unterschrift – seine mit fester Hand, während ihre zitterte; die Gebete; daran, dass er, wie ihr im Spiegel auffiel, seine Augenbrauen getrimmt hatte.

Und irgendwo im Raum stand Mariam, erniedrigt und voller Gram.

Laila brachte es nicht über sich, dem Blick der älteren Frau zu begegnen.

Von seinem kalten Bett aus sah sie ihn in dieser Nacht die Vorhänge zuziehen. Sie zitterte schon, ehe er ihr Hemd aufknöpfte und an der Kordel ihres Hosenbundes zog. Er war erregt und so fahrig, dass er Mühe hatte, das eigene Hemd aufzuknöpfen und den Gürtel zu lösen. Laila bekam seine schlaffen Brüste zu Gesicht, den hervortretenden Bauchnabel mit der kleinen dunkelblauen Ader in der Mitte, den Wust weißer Haare auf Brust, Schultern und Oberarmen. Seine Blicke lechzten nach ihr.

»Gott hilf mir, ich glaube, ich liebe dich«, sagte er.

Ihre Zähne klapperten, als sie ihn bat, das Licht zu löschen.

Später, als sie sicher sein konnte, dass er schlief, langte Laila nach dem Messer, das sie unter der Matratze versteckt hatte. Mit der Spitze stach sie sich in die Kuppe des Zeigefingers. Dann hob sie die Decke und ließ Blut auf die Stelle tropfen, an der er auf ihr gelegen hatte.