42
Laila
Aziza packte folgende Gegenstände in eine Papiertasche: ihr geblümtes Hemd und das einzige Paar Socken, die nicht zueinander passenden Wollhandschuhe, eine alte, mit Sternen und Kometen gemusterte sandfarbene Decke, einen zerkratzten Plastikbecher, eine Banane und ihre Würfel.
Es war ein kalter Morgen im April 2001, kurz nach Lailas dreiundzwanzigstem Geburtstag. Der Himmel war grau, und ein feuchtkalter Wind rüttelte in Böen an der Fliegengittertür.
Vor wenigen Tagen hatte Laila erfahren, dass Ahmad Schah Massoud nach Frankreich geflogen war, um vor dem Europäischen Parlament zu reden. Massoud hatte sich in den Norden, seine Heimat, zurückgezogen, wo er die Nordallianz anführte, die einzig verbliebene Oppositionsgruppe, die den Taliban die Stirn bot. In Europa hatte Massoud den Westen vor Ausbildungslagern für Terroristen in Afghanistan gewarnt und die Vereinigten Staaten eindringlich gebeten, ihn im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen.
»Wenn uns Präsident Bush nicht hilft«, hatte er gesagt, »werden diese Terroristen bald auch den Vereinigten Staaten und Europa großen Schaden zufügen.«
Einen Monat zuvor war Laila zu Ohren gekommen, dass die Taliban die riesigen Buddhas in Bamiyan, die von ihnen als sündhafte Götzenbildnisse bezeichnet wurden, zerstört hatten. Von Amerika bis China war ein Aufschrei der Empörung zu hören gewesen. Staatsmänner, Historiker und Archäologen der ganzen Welt hatten die Taliban in Briefen aufgefordert, diese beiden größten noch existierenden Kulturschätze Afghanistans zu schonen. Doch davon unbeeindruckt, hatten die Taliban die zweitausend Jahre alten Buddhas mit Sprengladungen bespickt, jede Explosion mit Allah-u-akbar-Rufen gefeiert und gejubelt, sooft Teile eines Arms oder Beins der Statuen in einer Wolke aus Staub zerfielen. Laila erinnerte sich, 1987 mit Babi und Tarik bei strahlendem Sonnenschein und von einer sanften Brise umweht auf dem größten der beiden Buddhas gestanden und einen Falken beobachtet zu haben, der hoch über dem Tal seine Kreise zog. Die Nachricht von der Zerstörung der Statuen hatte sie jedoch kaltgelassen. Es war für sie nicht von Belang. Was zählten Statuen, wenn das eigene Leben zu Staub zerfiel?
Solange Raschid sie nicht aufforderte zu gehen, hockte Laila in einer Ecke des Wohnzimmers auf dem Boden, schweigend und mit versteinerter Miene, das Haar in zerzauste Fransen aufgelöst. Auch wenn sie noch so tief einzuatmen versuchte, war ihr, als bekäme sie nie ausreichend Luft.
Unterwegs nach Karteh-Seh schaukelte Zalmai auf Raschids Armen, während Mariam Aziza bei der Hand hielt, die sich beeilen musste, um Schritt zu halten. Ein scharfer Wind blies ihnen entgegen und zerrte am Schal, den das Mädchen um den Hals gewickelt hatte. Aziza blickte düster drein; mit jedem Schritt schien sie der Ahnung näher zu kommen, dass sie hinters Licht geführt wurde. Laila hatte nicht den Mut aufgebracht, die Wahrheit zu sagen, und ihr stattdessen vorgespielt, dass sie eine Schule besuchen werde, eine besondere Schule, in der die Kinder zusammen essen und schlafen und nach dem Unterricht nicht nach Hause entlassen würden. Aziza stellte Laila auch jetzt wieder all die Fragen, die sie schon seit Tagen an sie gerichtet hatte. Ob die Kinder denn in verschiedenen Räumen oder in einem großen Saal schliefen. Ob sie damit rechnen könne, Freundschaften zu schließen. Ob die Lehrer auch ganz bestimmt nett seien.
Und immer wieder: »Wie lange soll ich dort bleiben?«
Als sie sich bis auf zwei Blocks ihrem Ziel genähert hatten, blieben sie stehen.
»Zalmai und ich warten hier«, sagte Raschid. »Oh, bevor ich’s vergesse.«
Er holte einen Kaugummi aus der Tasche, ein Abschiedsgeschenk, das er Aziza in steifer Großmutsgeste reichte. Aziza nahm es an und bedankte sich murmelnd. Laila staunte über die Freundlichkeit ihrer Tochter, über deren ungewöhnlich große Nachsicht, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Vor Kummer schnürte sich ihr das Herz zu, und mit Schmerzen dachte sie daran, dass Aziza an diesem Nachmittag nicht neben ihr schlafen würde, dass sie darauf würde verzichten müssen, ihre zarte Hand auf der Brust, ihren Kopf in der Armbeuge, ihren warmen Atem auf der Haut und ihre Füße an den Schenkeln zu spüren.
Als Aziza weggeführt wurde, fing Zalmai zu weinen an. »Ziza! Ziza!«, rief er. Er wand sich in den Armen seines Vaters, strampelte mit den Beinen und rief nach seiner Schwester, bis der Affe eines Leierkastenmanns auf der anderen Straßenseite seine Aufmerksamkeit ablenkte.
Sie gingen die letzten Schritte allein, Mariam, Laila und Aziza. Als sie sich dem Gebäude näherten, sah Laila, dass die Fassade bröckelte, das Dach durchhing und einige der Fenster mit Brettern vernagelt waren. Neben einer baufälligen Mauer stand eine Schaukel.
Vor der Eingangstür angekommen, wiederholte Laila, was sie ihrer Tochter bereits eingeschärft hatte.
»Also, was antwortest du, wenn man dich nach deinem Vater fragt?«
»Dass er von den Mudschaheddin getötet worden ist«, sagte Aziza mit argwöhnischer Miene.
»Gut so. Verstehst du auch, warum, Aziza?«
»Weil das eine besondere Schule ist«, antwortete Aziza. Sie war vollkommen niedergeschlagen. Angesichts des trostlosen Gebäudes ließ sich nichts mehr beschönigen. Ihre Unterlippe zitterte, Tränen stiegen ihr in die Augen. Laila sah, wie schwer sie mit sich ringen musste, um tapfer zu bleiben. »Wenn ich die Wahrheit sagen würde«, fuhr Aziza mit tonloser Stimme fort, »würden sie mich nicht aufnehmen. Es ist eine besondere Schule. Ich will nach Hause.«
»Ich … ich werde dich ganz oft besuchen«, stammelte Laila. »Versprochen.«
»Ich auch«, sagte Mariam. »Wir kommen dich besuchen, Aziza jo. Und dann spielen wir miteinander, so wie immer. Es ist nur für kurze Zeit – bis dein Vater Arbeit gefunden hat.«
»Hier hast du immer genug zu essen«, sagte Laila mit bebender Stimme. Sie war froh, ihre Burka zu tragen, froh darüber, dass Aziza nicht sehen konnte, wie elend ihr zumute war. »Hier wirst du keinen Hunger haben müssen. Es gibt genügend Reis und Brot und Wasser, vielleicht sogar Früchte.«
»Aber du bist nicht da. Und Khala Mariam auch nicht.«
»Ich werde kommen und dich besuchen«, sagte Laila. »Ganz oft. Schau mich an. Aziza. Glaub mir. Ich bin deine Mutter. Ich besuche dich, und wenn es mich das Leben kostet.«
Der Direktor des Waisenhauses war ein gebückter Mann mit schmalen Schultern und freundlichem Gesicht. Er hatte kaum mehr Haare auf dem Kopf, einen zotteligen Bart und Augen wie Erbsen. Sein Name war Zaman. Er trug ein Scheitelkäppchen. Das linke Brillenglas war zersprungen.
Auf dem Weg in sein Büro fragte er die drei nach ihren Namen und erkundigte sich nach Azizas Alter. Sie gingen durch einen spärlich beleuchteten Korridor. Barfüßige Kinder traten zur Seite, um Platz zu machen, und schauten ihnen nach. Denen, die nicht kahlgeschoren waren, standen die Haare zu Berge. Sie trugen Pullover mit durchgescheuerten Ärmeln, Jeans, die an den Knien aufgerissen waren, und mit Klebestreifen geflickte Mäntel. Es roch nach Ammoniak und Urin, Seife und Talkum. Aziza war so verschreckt, dass sie zu wimmern begann.
Durch eine Tür warf Laila einen Blick auf den Hof, ein erbärmliches Geviert mit einer klapprigen Schaukel, alten Autoreifen und einem Basketball, dem die Luft ausgegangen war. In den Räumen, an denen sie vorbeikamen, waren die Fenster mit Plastikfolie verklebt. Ein kleiner Junge kam aus einem dieser Zimmer herbeigerannt, packte Laila beim Ellbogen und versuchte, auf ihren Arm zu klettern. Ein Betreuer, der gerade wegwischte, was wie eine Urinpfütze aussah, stellte seinen Mob ab und befreite Laila von dem Kleinen.
Zaman schien den Waisenkindern wohlgesinnt zu sein. Er tätschelte sie im Vorbeigehen, richtete ein paar freundliche Worte an sie und fuhr ihnen mit der Hand durchs Haar, ohne dass er dabei herablassend gewirkt hätte. Den Kindern gefiel sein Zuspruch. Alle blickten hoffnungsvoll zu ihm auf.
Er zeigte den Frauen sein Büro, einen Raum, in dem nur drei Klappstühle standen und ein unaufgeräumter Schreibtisch, auf dem sich Akten stapelten.
»Sie sind aus Herat, nicht wahr?«, sagte er zu Mariam. »Das hört man an Ihrem Akzent.«
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, faltete die Hände über dem Bauch und erwähnte, dass einer seiner Schwäger dort gelebt habe. Auf Laila machte Zaman einen angestrengten Eindruck; selbst kleinste Gesten schienen ihn Kraft zu kosten. Obwohl er freundlich lächelte, meinte sie deutlich spüren zu können, dass ihn große Sorgen plagten. Es schien, als versuchte er manche Enttäuschung und Niederlage mit einer aufgesetzt heiteren Miene zu vertuschen.
»Er war Glasbläser«, sagte er, »und machte diese wunderschönen jadegrünen Schwäne. Wenn man sie in die Sonne hält, funkeln sie im Innern, und es scheint, als steckten in dem Glas viele winzig kleine Edelsteinsplitter. Waren Sie mal wieder in der Heimat?«
Mariam verneinte.
»Ich selbst stamme aus Kandahar. Sind Sie schon einmal dort gewesen, hamshira? Nein? Eine herrliche Stadt. Diese Gärten! Und die Weintrauben erst, ja, das sind Trauben! Sie verzaubern den Gaumen.«
Einige Kinder hatten sich draußen im Flur versammelt und lugten zur Tür herein. Zaman verscheuchte sie mit ein paar liebevollen Worten auf Paschto.
»Herat ist natürlich auch wunderschön. Die Stadt der Künstler und Schriftsteller, Sufis und Mystiker. Vielleicht kennen Sie den alten Spruch, wonach man in Herat kein Bein ausstrecken kann, ohne dabei einem Dichter in den Hintern zu treten.«
Aziza kicherte.
Zaman schnappte künstlich nach Luft. »Oh, mir scheint, ich habe dich zum Lachen gebracht, kleine hamshira. Das ist für gewöhnlich gar nicht so einfach, und ich habe mir schon überlegt, wie ich’s anstellen könnte, und daran gedacht, wie ein Huhn zu gackern oder wie ein Esel zu schreien. Aber es geht ja auch so. Und wie schön du bist, wenn du lachst.«
Er rief einen Betreuer und bat ihn, mit Aziza eine Weile nach draußen zu gehen. Aziza sprang auf Mariams Schoß und klammerte sich an ihr fest.
»Wir wollen uns nur ein bisschen unterhalten, meine Liebe«, versuchte Laila zu beschwichtigen. »Ich bin die ganze Zeit hier. In Ordnung? Ich bin hier.«
»Komm, wir gehen für eine Minute nach draußen, Aziza jo«, sagte Mariam. »Deine Mutter hat mit Kaka Zaman noch einiges zu besprechen. Nur für eine Minute. Komm jetzt.«
Als sie allein waren, wollte Zaman Azizas Geburtsdatum wissen, welche Kinderkrankheiten sie gehabt hatte und ob sie gegen irgendetwas allergisch war. Er erkundigte sich nach Azizas Vater, und Laila hatte bei ihrer Antwort das seltsame Gefühl, eine Lüge vorzutragen, die im Grunde der Wahrheit entsprach. Zaman hörte zu, und seine Miene verriet keinerlei Zweifel. Er leite das Waisenhaus ehrenamtlich, sagte er. Wenn eine hamshira sage, dass ihr Mann tot sei und sie nicht allein für ihre Kinder sorgen könne, werde er das nicht in Frage stellen.
Laila fing zu weinen an.
Zaman legte seinen Stift ab.
»Ich schäme mich so«, schluchzte Laila und presste eine Hand auf den Mund.
»Schauen Sie mich an, hamshira.«
»Was ist das nur für eine Mutter, die ihr eigenes Kind im Stich lässt?«
»Schauen Sie mich an.«
Laila blickte auf.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Hören Sie? Sie trifft keine Schuld. Es sind diese Wilden, diese wahshis, die an den Pranger gehören. Sie bringen Schande über mich als Paschtunen. Sie haben den Namen meines Volkes in den Schmutz gezogen. Und Sie, hamshira, sind wahrhaftig keine Ausnahme. Uns suchen viele Mütter auf, sehr viele, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil es ihnen die Taliban verwehren, einer Arbeit nachzugehen und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Also, geben Sie sich nicht selbst die Schuld. Hier ist niemand, der Ihnen etwas vorwerfen würde. Ich kann Sie gut verstehen.« Er beugte sich vor. »Hamshira. Ich habe Verständnis für Sie.«
Laila wischte sich mit dem Ärmel der Burka die Augen.
»Was dieses Haus betrifft …« Seufzend deutete Zaman mit der Hand im Kreis. »Sie sehen ja selbst, in welch beklagenswertem Zustand es ist. Wir erhalten nur wenig Spenden und müssen uns nach der Decke strecken und improvisieren. Von den Taliban ist nur wenig oder keine Unterstützung zu erwarten. Aber wir schaffen’s auch ohne. Wie Sie, hamshira, wissen auch wir, was zu tun ist. Allah ist gut und freundlich, Allah sorgt für uns, und solange er das tut, werde ich mich darum kümmern, dass Aziza ausreichend zu essen bekommt und anständig gekleidet ist. So viel kann ich Ihnen versichern.«
Laila nickte.
»In Ordnung?« Er lächelte. »Weinen Sie nicht, hamshira. Zeigen Sie Ihrer Tochter nicht, dass Sie weinen.«
Laila wischte sich wieder die Augen. »Gott segne Sie«, flüsterte sie. »Gott segne Sie, Bruder.«
Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, kam es zu der grauenvollen Szene, die Laila befürchtet hatte.
Aziza geriet in Panik.
Auf dem Nachhauseweg und noch Stunden später hallten Laila die Schreie ihrer Tochter im Kopf nach. Sie sah Zaman mit den Händen nach Aziza greifen, sie zunächst mit sanftem Nachdruck, dann aber mit Gewalt von ihr losreißen, und sie sah Aziza, in Zamans Armen gefangen, mit den Füßen austreten, als er sich beeilte, mit ihr hinter der nächsten Ecke zu verschwinden. Die Kleine schrie, als fürchtete sie, von der Hölle verschluckt zu werden. Und Laila sah sich selbst, wie sie mit gesenktem Kopf und einem in der Kehle erstickten Schrei den Korridor entlanglief.
»Ich rieche sie«, sagte Laila zu Mariam, als sie zu Hause angekommen waren. Aus tränennassen Augen schaute sie, ohne etwas zu sehen, über Mariams Schulter hinweg in den Hof, auf die Mauern und zu den Bergen, die so braun waren wie der Auswurf eines Rauchers. »Ich habe ihren Duft in der Nase, den Duft, wenn sie schläft. Du nicht auch? Riechst du’s nicht auch?«
»Oh, Laila jo«, sagte Mariam. »Hör auf damit. Zu was wäre es gut? Zu was?«
Anfangs gab Raschid Lailas Drängen nach und begleitete sie – Laila, Mariam und Zalmai –, wenn sie loszogen, um Aziza im Waisenhaus zu besuchen. Unterwegs dorthin stellte er jedes Mal sicher, dass sie seinen gequälten, leidenden Blick bemerkte und dass sie zu Ohren bekam, welche Beschwernis er ihretwegen auf sich nahm und wie sehr ihn von dem langen Marsch zum Waisenhaus und zurück seine Beine, der Rücken und die Füße schmerzten. Er ließ keine Möglichkeit aus, ihr deutlich zu machen, wie schrecklich schwer er es hatte.
»Ich bin kein junger Mann mehr«, jammerte er. »Aber das kümmert dich ja nicht. Wenn es nach dir ginge, würdest du mich in Grund und Boden rennen. Aber merke dir, Laila, es geht nicht nach deinen Wünschen.«
Zwei Blocks vor dem Waisenhaus blieb er zurück und sagte, dass er ihnen eine Viertelstunde gebe. »Keine Minute länger«, betonte er. »Sonst könnt ihr ohne mich zurücklaufen, denn ich bin dann weg.«
Laila flehte ihn an, ihr doch ein bisschen mehr Zeit mit Aziza zu gönnen, und nicht nur ihr, sondern auch Mariam, die untröstlich war über Azizas Abwesenheit, aber wie immer im Stillen darunter litt. Und auch Zalmai zuliebe, der tagtäglich fragte, wo seine Schwester sei, und in Wutanfälle ausbrach, die häufig in Weinkrämpfen endeten, denen nicht beizukommen war.
Manchmal blieb Raschid auf halbem Weg zum Waisenhaus stehen, klagte über Schmerzen im Bein und machte kehrt, um mit überraschend forschem, sicherem Schritt nach Hause zurückzueilen. Oder er schnalzte mit der Zunge und ächzte: »Meine Lungen, Laila. Ich bekomme kaum mehr Luft. Morgen geht’s mir vielleicht wieder besser, oder übermorgen. Mal sehen.« Er gab sich dann nicht einmal die Mühe, Atemnot vorzutäuschen. Im Gegenteil, kaum hatte er ihr den Rücken gekehrt, steckte er sich meist eine Zigarette an. Laila, hilflos und zitternd vor Wut, blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Eines Tages eröffnete er ihr, dass er ihr als Begleiter nicht mehr zur Verfügung stehen werde. »Diese Wege machen mich so müde, dass ich es nicht mehr schaffe, mich nach Arbeit umzusehen.«
»Dann werde ich allein gehen«, sagte Laila. »Du kannst mich nicht aufhalten, Raschid. Verstehst du mich? Ich besuche meine Tochter, und wenn du mich noch so sehr prügelst.«
»Mach, was du willst. An den Taliban kommst du aber nicht vorbei. Und behaupte nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Ich komme mit dir«, sagte Mariam.
Laila lehnte das Angebot ab. »Bleib du mit Zalmai zu Hause. Ich möchte ihm ersparen mitzuerleben, was passiert, wenn sie uns aufgreifen.«
In der Folgezeit drehten sich Lailas Gedanken fast ausschließlich um die Frage, welche Wege einzuschlagen waren, um zu Aziza zu gelangen und ein paar Minuten bei ihr sein zu können. Häufig schaffte sie es nicht bis zum Waisenhaus. Immer wieder wurde sie von Taliban aufgehalten, mit Fragen traktiert – »Wie heißt du? Wo willst du hin? Warum bist du allein, wo ist dein mahram?« – und nach Hause zurückgeschickt. Wenn sie Glück hatte, blieb es bei einer Standpauke, einem Tritt ins Hinterteil oder einem Stoß in den Rücken. Manchmal musste sie aber auch Prügel einstecken und bekam Knüppel, frische Zweige, Peitschen, Fäuste oder Ohrfeigen zu spüren.
Eines Tages hieb ein junger Talib mit einer Autoantenne auf sie ein. Am Ende versetzte er ihr noch einen Schlag in den Nacken und sagte: »Wenn ich dich noch einmal erwische, verprügele ich dich, bis dir die Muttermilch durch die Knochen sickert.«
An diesem Tag kehrte sie vorzeitig nach Hause zurück, warf sich aufs Bett, fühlte sich wie ein törichtes, jämmerliches Tier und winselte vor Schmerzen, als ihr Mariam die blutigen Striemen auf Rücken und Schenkeln mit feuchten Tüchern abdeckte. Für gewöhnlich aber gab Laila nicht so schnell auf. Sie tat zwar so, als kehrte sie nach Hause zurück, versuchte aber dann auf Umwegen zum Waisenhaus zu gelangen. Es kam vor, dass sie an einem einzigen Tag drei- bis viermal aufgegriffen, verhört und geprügelt wurde. Von Peitschen und Antennen blutig geschlagen, schleppte sie sich dann nach Hause, ohne Aziza gesehen zu haben. Bald ging Laila dazu über, trotz des heißen Wetters zwei oder drei Pullover als Schutzpolster unter der Burka zu tragen.
Doch für Laila lohnten sich alle Strapazen, wenn sie denn nur Aziza sehen konnte. Manchmal blieb sie stundenlang bei ihr. Sie saßen im Hof neben der Schaukel, zusammen mit anderen Kindern und Müttern, und sprachen über das, was Aziza in der vergangenen Woche gelernt hatte.
Aziza sagte, dass Kaka Zaman ihnen jeden Tag etwas Neues beibrächte. Meist lernten sie Lesen, Schreiben und Rechnen; er unterrichtete aber auch Erdkunde, Geschichte oder ein Fach, das sich mit Pflanzen und Tieren befasste.
»Wir müssen die Vorhänge zuziehen«, sagte Aziza, »damit uns die Taliban nicht sehen.« Für den Fall einer Kontrolle halte Kaka Zaman immer Strickzeug bereit, erklärte sie. »Dann verstecken wir schnell die Bücher und tun so, als strickten wir.«
Eines Tages sah Laila eine Frau mittleren Alters, die, von drei Jungen und einem Mädchen begleitet, zu Besuch im Waisenhaus war. Sie hatte das Kopfteil ihrer Burka gelüftet, und obwohl ihr Haar grau geworden und der Mund eingefallen war, erkannte Laila sie auf den ersten Blick wieder. Das scharf geschnittene Gesicht und die dichten Augenbrauen waren unverändert. Laila erinnerte sich an die Schals, die schwarzen Kleider und die brüske Stimme, daran, wie diese Frau ihr pechschwarzes Haar zu einem so straffen Knoten zusammengefasst hatte, dass die Nackenhärchen sichtbar waren. Diese Frau hatte einst, wie sich Laila erinnerte, ihren Schülerinnen verboten, sich zu verschleiern, auf die Gleichheit von Mann und Frau gepocht und erklärt, dass es keinen Grund gebe, warum Frauen ihr Gesicht verhüllen sollten, wenn Männer dies nicht täten.
Einmal trafen sich ihre Blicke, doch Laila sah in den Augen von Khala Rangmaal, ihrer alten Lehrerin, keinen Hinweis darauf, dass sie in ihr die Schülerin von damals wiedererkannte.
»In der Erdkruste gibt es Bruchstellen«, sagte Aziza. »Die nennt man Verwerfungen.«
Es war an einem warmen Freitagnachmittag im Juni 2001. Sie saßen im Hinterhof des Waisenhauses, alle vier: Laila, Zalmai, Mariam und Aziza. Raschid hatte sich ausnahmsweise bequemt, sie zu begleiten. Er wartete vor der Bushaltestelle weiter unten an der Straße.
Barfüßige Kinder lungerten um sie herum und kickten lustlos einen platten Fußball hin und her.
»Zu beiden Seiten der Verwerfungen liegen Gesteinsschichten aufeinander; das ist die Erdkruste«, führte Aziza aus.
Jemand hatte ihr die Haare aus dem Gesicht gekämmt, zu Zöpfen geflochten und am Kopf festgesteckt. Laila beneidete alle, denen es vergönnt war, hinter ihrer Tochter zu sitzen, das Haar zu teilen, zu flechten und sie aufzufordern stillzuhalten.
Aziza demonstrierte mit nach oben geöffneten Händen die Reibung der Platten. Zalmai schaute mit großem Interesse zu.
»Kektonische Platten, so heißen sie, oder?«
»Tektonische«, korrigierte Laila. Zu sprechen tat ihr weh. Kiefer, Hals und Nacken schmerzten. Die Lippe war geschwollen, und die Zunge fuhr immer wieder in die Lücke des unteren Schneidezahns, den Raschid ihr zwei Tage zuvor ausgeschlagen hatte. Bis zum Tod ihrer Eltern, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, hätte Laila nicht für möglich gehalten, dass ein menschlicher Körper so viel brutale Schläge aushalten konnte und trotzdem noch zu funktionieren im Stande war.
»Genau. Und wenn sie aneinander entlangschaben, bleiben sie immer wieder hängen und rutschen dann weiter, siehst du, Mami, und dabei wird Energie frei, die die Erdoberfläche durcheinanderschüttelt.«
»Wie gescheit du schon bist!«, lobte Mariam. »Viel gescheiter als deine dumme khala!«
Azizas Miene verfinsterte sich. »Du bist nicht dumm, Khala Mariam. Und Kaka Zaman sagt, dass sich die Felsen auch ganz tief im Innern bewegen, dass da gewaltige, unheimliche Kräfte wirken, die wir aber hier oben nur als ein kleines Zittern wahrnehmen. Nur ein kleines Zittern.«
Beim letzten Besuch hatte Aziza von Sauerstoffatomen in der Atmosphäre berichtet, die das Sonnenlicht bläulich erscheinen ließen. »Wenn es keine Atmosphäre gäbe«, hatte sie fast atemlos gesagt, »wäre der Himmel nicht blau, sondern ein stockdunkles Meer und die Sonne darin ein großer heller Stern.«
»Kommt Aziza diesmal mit, wenn wir nach Hause gehen?«, fragte Zalmai.
»Diesmal noch nicht, aber bald, mein Liebling«, antwortete Laila. »Bald.«
Laila sah ihn auf die Schaukel zugehen. Er bewegte sich wie sein Vater: ein wenig nach vorn gebeugt und die Fußspitzen nach innen gekehrt. Er brachte den leeren Sitz der Schaukel in Schwung, setzte sich dann auf den Betonboden und zupfte Unkraut aus einem Spalt.
»Aus den Blättern verdunstet Wasser, Mami, wusstest du das? So wie aus der Wäsche, die zum Trocknen an der Leine hängt. Und das Wasser steigt in den Bäumen auf, aus der Erde und durch die Wurzeln, durch den Stamm und die Äste bis hin zu den Blättern. Das nennt man Transpiration.«
Laila fragte sich immer wieder, was wohl geschähe, wenn die Taliban Kaka Zaman dabei ertappten, dass er die Kinder heimlich unterrichtete.
Während der Besuche ließ Aziza keinen Moment Ruhe aufkommen. Sie redete unablässig, führte mit hoher, heller Stimme aus, was sie im Unterricht gelernt hatte, und gestikulierte mit hektischen Handbewegungen, die so gar nicht typisch für sie waren. Sie lachte auch anders. Es war im Grunde weniger ein Lachen als ein nervöses Zeichensetzen, mit dem sie sich, wie Laila vermutete, Mut zu machen versuchte.
Auffällig waren auch andere Veränderungen. Laila bemerkte, dass sie immer schmutzige Fingernägel hatte. Wenn Aziza sah, dass ihr die Mutter auf die Finger schaute, beeilte sie sich, die Hände unter den Schenkeln zu verstecken. Wenn einem schreienden Kind der Schnodder auf den Lippen hing oder wenn eines mit bloßem Hinterteil und vor Dreck starrendem Haar an ihnen vorbeikam, verdrehte Aziza die Augen und entschuldigte sich für das Kind. Sie verhielt sich wie eine Gastgeberin, die sich vor ihren Gästen für ihr schmutziges Haus und die ungezogenen Kinder schämte.
Wenn sie gefragt wurde, wie es ihr in diesem Haus ergehe, gab sie jedes Mal eine heitere Antwort, die kaum überzeugen konnte.
»Prima, Khala. Mir geht’s gut.«
Ob sie von den anderen gehänselt werde?
»Nein, Mami. Sie sind alle nett.«
Ob sie genug zu essen bekäme und gut schlafen könne?
»Ja. Gestern Abend gab’s Lammfleisch. Oder war’s letzte Woche? Und schlafen kann ich auch.«
Bei solchen Antworten hörte Laila Mariam aus ihrer Tochter sprechen.
Aziza stotterte, was Mariam als Erste bemerkte. Es war ein leichtes, aber wahrnehmbares Stottern und fiel vor allem bei Wörtern auf, die mit einem T anfingen. Laila sprach Zaman darauf an. Er runzelte die Stirn und sagte: »Ich dachte, das hätte sie immer schon getan.«
An diesem Freitagnachmittag verließen sie mit Aziza das Waisenhaus, um einen Ausflug mit ihr zu unternehmen. Als Zalmai seinen Vater an der Bushaltestelle warten sah, quiekte er vor Vergnügen und wand sich voller Ungeduld in Lailas Armen. Azizas Gruß war knapp, aber nicht unfreundlich. Sie hegte keinen Groll gegen Raschid.
Raschid sagte, sie sollten sich beeilen; er habe nur zwei Stunden Zeit und müsse sich dann an seinem Arbeitsplatz zurückmelden. Er war Anfang der Woche als Portier beim Intercontinental angestellt worden. An sechs Tagen in der Woche musste er von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends Autotüren aufhalten, Koffer tragen und den Eingangsbereich sauber halten. Nach getaner Arbeit ließ ihn der Koch des Selbstbedienungsrestaurants Essensreste für zu Hause einpacken: kalte, ölige Fleischbällchen, gebratene, ausgetrocknete Hähnchenflügel, von denen die knusprige Haut abgefallen war, verklebte Nudeltaschen oder steif gewordenen Reis. Voraussetzung für die Gefälligkeit war, dass er Stillschweigen darüber bewahrte. Raschid hatte Laila versprochen, dass Aziza nach Hause zurückkommen könne, sobald er etwas Geld angespart habe.
Er trug seine Livree, einen burgunderroten Anzug aus Polyester, ein weißes Hemd, eine Ansteckkrawatte und eine Schirmmütze, gegen die sich sein weißes Kraushaar sträubte. In dieser Uniform war Raschid wie ausgewechselt und kaum wiederzuerkennen. Er wirkte darin verletzlich und verwirrt, geradezu erbärmlich und harmlos, wie jemand, der die entwürdigenden Zumutungen, die das Leben für ihn bereithielt, ohne jeden Protest hinnahm und in seiner Fügsamkeit lächerlich und bewundernswert zugleich war.
Mit dem Bus fuhren sie zur sogenannten Titanic City, jenem wild auswuchernden Markt, wo sich zu beiden Seiten des ausgetrockneten Flussbettes ein provisorischer Verkaufsstand an den anderen reihte. Nahe der Brücke hing unter einem Kranausleger ein Toter mit abgeschnittenen Ohren und gebrochenem Genick an einem Seil. Unmittelbar daneben führten die Treppenstufen entlang, auf denen Raschid und seine Familie die Uferböschung hinabstiegen. Unten im Wadi erwartete sie ein Gewimmel von Menschen, Käufern und Verkäufern, Geldwechslern und Spendensammlern, Zigarettenhändlern und verschleierten Frauen, die gefälschte Rezepte für Antibiotika feilboten und um Almosen bettelten. Naswar kauende Taliban passten mit gezückten Peitschen darauf auf, dass niemand unanständig lachte und keine Frau den Schleier lüftete.
Zwischen einem Händler von poosteen-Mänteln und einem Stand mit künstlichen Blumen entdeckte Zalmai einen Kiosk voller Spielzeug und griff zielstrebig nach einem Basketball mit gelben und blauen Wirbelmustern.
»Such dir auch was aus«, sagte Raschid zu Aziza.
Aziza reagierte sichtlich verlegen und zögerte.
»Beeilung. Ich muss in einer Stunde wieder arbeiten.«
Aziza deutete auf die Spielzeugversion eines Kaugummiautomaten voller Süßigkeiten, die sich nach dem Einwurf einer Spielmarke Stück für Stück entnehmen ließen.
Raschid kniff die Brauen zusammen, als der Händler ihm den Preis nannte. Nachdem die beiden eine Weile gefeilscht hatten, wandte sich Raschid an Aziza und herrschte sie an, als wäre sie es, die ihn zu übervorteilen versuchte. »Nach dem Ball kann ich mir das nicht auch noch leisten.«
Auf dem Rückweg wurde Aziza immer schweigsamer und ernster, je näher sie dem Waisenhaus kamen. Es war nun an Laila und Mariam, das Gespräch in Gang zu halten, angestrengt zu lachen und die gedrückte Stimmung zu heben.
Als sich Raschid von ihnen getrennt hatte und in einen Bus gestiegen war, um zur Arbeit zu gelangen, nahmen auch Laila, Mariam und Zalmai von Aziza Abschied. Laila sah, wie sich Aziza, nachdem sie ihnen noch einmal nachgewinkt hatte, mit eingezogenen Schultern an der Mauer des Hinterhofes vorbeidrückte. Sie dachte an Azizas Stottern und auch an das, was sie über Verwerfungen und die mächtigen Kollisionen im Erdinnern gesagt hatte, von denen man an der Oberfläche manchmal nur ein leichtes Zittern wahrnehmen konnte.
»Geh weg, du!«, zeterte Zalmai.
»Ruhig«, sagte Mariam. »Wen meinst du mit deinem Geschrei?«
Er streckte die Hand aus. »Da. Der Mann.«
Laila folgte mit dem Blick und sah einen Mann vorm Haus, der an der Eingangstür lehnte. Als er sie kommen sah, richtete er sich auf und kam ein paar Schritte auf sie zugehinkt.
Laila erstarrte.
Ihr war, als schnürte sich ihr die Kehle zu. Die Knie drohten unter ihr wegzuknicken. Es drängte sie danach, sich an Mariam anzulehnen und festzuklammern, aber sie tat es nicht. Sie wagte es nicht. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, Luft zu holen oder auch nur mit der Wimper zu zucken, aus Angst, dass sie nur einem Trugbild aufsaß, einer flüchtigen Illusion, die sich bei der kleinsten Erschütterung auflösen würde. Sie stand wie angewurzelt da und blickte Tarik entgegen, bis ihre Brust nach Luft schrie und die Augen zu brennen anfingen. Und als sie endlich Atem schöpfte und mit den Augen blinzelte, stand er wundersamerweise immer noch an derselben Stelle. Es war tatsächlich Tarik, der da vor ihrer Haustür stand.
Laila ging einen Schritt auf ihn zu. Einen zweiten. Noch einen. Und dann rannte sie.