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Tarik leidet an Kopfschmerzen.

Manchmal wacht Laila mitten in der Nacht auf und sieht ihn, das Unterhemd über den Kopf gezogen, auf der Bettkante sitzen und vor- und zurückschaukeln. Es habe in Nasir Bagh angefangen, sagt er, und sei im Gefängnis schlimmer geworden. Mitunter muss er vor Schmerzen erbrechen und kann nur noch auf einem Auge sehen. Er sagt, es fühle sich an, als würde ein Messer in die Schläfe eindringen, das Gehirn zerreißen und auf der anderen Seite austreten.

»Ich bilde mir sogar ein, den Metallgeschmack wahrnehmen zu können, wenn die Schmerzen einsetzen.«

Laila legt ihm dann ein feuchtes Tuch auf die Stirn, was die Schmerzen ein wenig lindert. Auch die kleinen weißen Pillen, die Tarik von Sajids Arzt bekommen hat, tun ihre Wirkung. Aber in manchen Nächten sind die Anfälle so heftig, dass nichts mehr hilft. Dann hält er sich den Kopf und stöhnt; die Augen sind blutunterlaufen und die Nase tropft. Laila setzt sich in solchen Momenten an seine Seite, massiert ihm den Nacken und nimmt seine Hände in ihre.

Sie heirateten am Tag ihrer Ankunft in Murree. Sajid war sichtlich erleichtert, als er von ihrem Vorhaben hörte. Er hätte sich schwer damit getan, ein unverheiratetes Paar in seinem Hotel wohnen zu lassen. Sajid sieht ganz anders aus, als Laila ihn sich vorgestellt hat. Weder stehen seine Augen eng zusammen, noch hat er eine rötliche Gesichtsfärbung. Er trägt einen adrett gezwirbelten melierten Schnauzbart und langes graues Haar, das er aus der Stirn zurückkämmt. Er ist ein freundlicher Mann mit guten Manieren, gewählter Sprache und anmutigen Bewegungen.

Es war Sajid, der einen befreundeten Mullah zur nikka bestellt hatte und Tarik beiseite nahm, um ihm Geld zuzustecken. Tarik wollte es nicht annehmen, doch Sajid bestand darauf. Also ging er in die Mall und kehrte mit zwei schlichten schmalen Eheringen zurück. Sie heirateten am Abend, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren.

Durch den grünen Schleier, den ihnen der Mullah über die Köpfe gelegt hatte, trafen sich Lailas und Tariks Blicke im Spiegel. Es gab keine Tränen, keine strahlenden Mienen, keine geflüsterten Treueschwüre. Schweigend betrachtete Laila das gemeinsame Spiegelbild, Gesichter, auf denen die Jahre Spuren hinterlassen hatten. Tarik öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam, wurde ihnen der Schleier weggezogen.

Im Beisein der Kinder, die im Etagenbett unter ihnen schliefen, lagen sie in dieser Nacht als Mann und Frau zusammen. Laila erinnerte sich, wie unbeschwert sie in jüngeren Jahren miteinander geplaudert hatten, wie sie einander ins Wort gefallen waren und an den Kragen gezerrt hatten, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Wie leicht es ihnen damals gefallen war, den anderen zum Lachen zu bringen. Es hatte sich seit diesen Kindertagen so vieles zugetragen, das ausgesprochen werden wollte, doch in dieser ersten Nacht kam ihnen kaum ein Wort über die Lippen. Es war ihnen ein Segen, zusammen zu sein, die Wärme des anderen zu spüren, Stirn an Stirn zu legen und einander die Hand zu halten.

Als Laila mitten in der Nacht aufwachte, weil sie Durst hatte, sah sie die Hände immer noch fest ineinander verschränkt wie bei Kindern, die den Bindfaden eines Luftballons festhalten.

Laila genießt die kühlen, nebelverhangenen Morgenstunden in Murree, den funkelnden Sternenhimmel bei Nacht, das Grün der Kiefern, in denen Eichhörnchen turnen, und die plötzlichen Regenschauer, die die Besucher der Mall unter den Markisen der Geschäfte Zuflucht suchen lassen. Ihr gefallen die Souvenirläden, ja sogar die Touristenhotels, auch wenn sich die Einheimischen über die vielen Neubauten beklagen, die, wie sie meinen, die natürliche Schönheit des Ortes verschandeln. Laila findet es seltsam, dass sich Leute an der Errichtung von Bauwerken stören. In Kabul würde man dies feiern.

Es gefällt ihr, dass sie ein Badezimmer haben, keine Außentoilette, sondern ein richtiges Badezimmer mit Wasserklosett, einer Dusche und einem Waschbecken mit zwei Wasserhähnen, aus denen buchstäblich im Handumdrehen kaltes und heißes Wasser kommt. Es gefällt ihr, beim Erwachen am Morgen Alyona meckern und Abida, die mürrische, aber harmlose Köchin, die in der Küche Wunder bewirkt, mit dem Geschirr klappern zu hören.

Manchmal, wenn Laila Tarik und die Kinder schlafen sieht, überkommt sie ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, das ihr aber wie ein Kloß im Hals steckt und Tränen in die Augen treibt.

Vormittags bringen Laila und Tarik die Hotelzimmer in Ordnung. An Tariks Gürtel klimpert ein Schlüsselring; daneben hängt ein Sprühreiniger für die Fensterscheiben. Laila trägt einen Putzeimer, ein Desinfektionsmittel, eine Toilettenbürste und Holzpolitur für die Kommoden. Auch Aziza hilft; sie hält einen Mob in der einen Hand und die mit Bohnen ausgestopfte Puppe von Mariam in der anderen. Zalmai folgt den dreien, widerwillig und schmollend.

Laila saugt, macht die Betten und wischt Staub. Tarik säubert Waschbecken und Toiletten und putzt die Linoleumböden. Er füllt die Regale mit frischen Handtüchern, kleinen Shampooflaschen und Seifestücken auf, die nach Mandeln duften. Aziza hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fenster zu putzen. Ihre Puppe ist immer dabei.

Wenige Tage nach der nikka hat Laila ihre Tochter über Tarik aufgeklärt.

Wie die beiden aufeinander eingehen, verwundert Laila immer wieder. Aziza vervollständigt seine Sätze, er die ihren. Sie reicht ihm Dinge, bevor er darum gebeten hat. Die Blicke, die sie einander über den Esstisch zuwerfen, sind so zutraulich, dass man den Eindruck haben könnte, sie seien alte Freunde, die nach langer Trennung wieder vereint sind.

Als Laila ihr sagte, wer Tarik sei, betrachtete Aziza mit nachdenklicher Miene ihre Hände.

»Ich mag ihn«, erwiderte sie nach längerem Schweigen.

»Er liebt dich.«

»Sagt er das?«

»Das braucht er gar nicht, Aziza.«

»Erzähl mir den Rest, Mami. Ich will Bescheid wissen.«

Laila ließ sich nicht lange bitten.

»Dein Vater ist ein guter Mann, der beste, der mir je begegnet ist.«

»Was, wenn er uns verlässt?«, fragte Aziza.

»Er wird uns nicht verlassen. Schau mich an, Aziza. Dein Vater wird dir niemals wehtun und immer bei uns bleiben.«

Die Erleichterung auf Azizas Gesicht ging Laila zu Herzen.

Tarik hat für Zalmai ein Schaukelpferd besorgt und einen kleinen Handwagen gebastelt. Von einem Mitgefangenen hat er gelernt, Tiere aus Papier zu falten, und so verwandelt er, um Zalmai eine Freude zu machen, zahllose Blätter in Löwen und Kängurus, in Pferde und bunte Vögel. Zalmai aber zeigt sich unbeeindruckt und weist seine Geschenke meist gelangweilt, manchmal zornig zurück.

»Du bist ein Esel!«, schreit er. »Ich will dein Zeugs nicht.«

»Zalmai!«, schreckt Laila auf.

»Ist schon gut«, sagt Tarik. »Lass ihn nur.«

»Du bist nicht mein Baba jan. Mein wirklicher Baba jan ist verreist, und wenn er zurückkommt, haut er dich. Und du wirst ihm nicht weglaufen können, denn er hat zwei Beine und du hast nur eins.«

Abends hebt Laila ihren Sohn auf den Schoß und spricht mit ihm die Babalu-Gebete. Seinen Fragen weicht sie jedes Mal aufs Neue aus und antwortet, dass sein Baba jan weggefahren sei und sie nicht wisse, wann er zurückkommt. Es ist ihr schrecklich, das Kind zu täuschen.

Laila glaubt an dieser beschämenden Lüge festhalten zu müssen. Zalmai fragt immer wieder, er fragt, wenn er von einer Schaukel springt oder von einem Mittagsschlaf erwacht. Auch später, wenn er so alt ist, dass er sich selbst die Schuhe schnüren kann und zur Schule geht, wird sie ihn belügen müssen.

Irgendwann, so hofft Laila, wird er aufhören zu fragen, wo sein Vater geblieben sei und warum er ihn im Stich gelassen habe. Er wird ihn nicht mehr in all den älteren Männern wiederzuerkennen meinen, die gebückt über die Straße schlurfen oder unter den Vordächern von Samowarhäusern Tee trinken. Irgendwann einmal wird er, wenn er an einem Fluss entlangwandert oder über ein verschneites Feld schaut, feststellen, dass ihn das Verschwinden seines Vaters nicht länger beunruhigt und der Verlust verschmerzt ist. Dann werden die Erinnerungen an ihn vielleicht etwas Angenehmes sein, das es zu bewahren und zu ehren gilt.

Laila ist glücklich hier in Murree. Doch dieses Glück fliegt ihr nicht zu, es hat seinen Preis.

Wenn er frei hat, besucht Tarik mit Laila und den Kindern die Mall mit ihren Souvenirläden und der anglikanischen Kirche, die Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Von einem Straßenhändler kauft Tarik für sie scharf gewürzte chapli-Kebabs. Sie spazieren durch die Menge der Einheimischen, der europäischen Touristen mit ihren Mobiltelefonen und Digitalkameras und der Punjabi, die hierhergekommen sind, um der Hitze des Flachlands zu entfliehen.

Manchmal fahren sie mit dem Bus nach Kashmir Point. Von dort zeigt ihnen Tarik das Flusstal des Jhelum und die üppig grünen Hänge und Hügel, wo in den Kiefernwäldern, wie er sagt, Affen von Ast zu Ast springen. Oder sie fahren bis nach Nathia Gali, das dreißig Kilometer von Murree entfernt liegt. Dort nimmt dann Tarik Laila bei der Hand und führt sie und die Kinder über eine von Ahornbäumen gesäumte Straße zum Haus des Gouverneurs. Sie machen vor dem alten britischen Friedhof Rast oder fahren mit einem Taxi auf den Gipfel eines Berges, der eine herrliche Aussicht über das grüne, häufig nebelverhangene Tal bietet.

Wenn sie auf solchen Ausflügen an einem spiegelnden Fensterglas vorbeikommen, sieht Laila das Abbild von Mann, Frau, Tochter und Sohn. Fremden, so glaubt sie, werden sie wie eine ganz gewöhnliche Familie vorkommen, unbeschwert von Geheimnissen, Lügen und Leid.

Aziza wird manchmal von Albträumen heimgesucht, aus denen sie schreiend aufschreckt. Laila legt sich zu ihr auf die Matratze, trocknet ihre Wangen mit dem Ärmel und spricht ihr Trost zu, bis sie wieder eingeschlafen ist.

Auch Laila hat ihre Träume. Darin kehrt sie immer wieder in das Haus in Kabul zurück, geht durch den Flur und die Treppe hinauf. Sie ist allein, hört aber hinter den Türen ein Bügeleisen zischen und das Schnappen von Bettlaken, die mit einem Ruck gestrafft und dann zusammengelegt werden. Mitunter hört sie auch eine dunkle Frauenstimme ein altes Herati-Lied summen. Doch wenn sie die Tür öffnet, blickt sie in einen leeren Raum. Es ist niemand da.

Wenn sie aus solchen Träumen aufwacht, ist Laila schweißgebadet, und in den Augen brennen heiße Tränen. Sie ist jedes Mal erschüttert.