28
Laila
Laila saß einem dünnen Mann mit kleinem Kopf und klobiger Nase gegenüber. Sein Gesicht war von Narben zerklüftet. Die kurzen braunen Haare standen ihm vom Kopf ab wie Nadeln auf einem Nadelkissen.
»Ich bitte um Verzeihung, hamshira«, sagte Abdul Sharif. Er richtete seinen losen Kragen und betupfte sich mit einem Taschentuch die Stirn. »Es ist so, dass ich immer noch nicht voll auf der Höhe bin. Noch fünf Tage muss ich diese Tabletten nehmen, diese – wie heißen sie gleich? – Sulfonamide.«
Laila drehte den Kopf ein wenig und wandte ihm das rechte Ohr zu, mit dem sie besser hören konnte. »Waren Sie ein Freund meiner Eltern?«
»Nein, nein«, beeilte sich Abdul Sharif zu sagen. »Verzeih mir.« Er hob einen Finger und nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das Mariam vor ihm auf den Tisch gestellt hatte.
»Tja, wo soll ich anfangen? Das Beste wäre, ich hole ein wenig aus.« Er wischte sich die Lippen und betupfte sich wieder die Stirn. »Ich bin Geschäftsmann und besitze mehrere Geschäfte für Bekleidung, hauptsächlich Herrenbekleidung. Chapans, Hüte, tumbans, Anzüge, Krawatten, was auch immer. Zwei Geschäfte hier in Kabul, eins in Taimani, das andere in Shar-e-Nau. Von denen habe ich mich allerdings gerade getrennt. Geblieben sind nur die beiden Filialen in Pakistan, in Peschawar. Da befindet sich auch mein Warenlager. Ich bin also viel unterwegs. Und das ist in diesen Tagen …« – er schüttelte den Kopf und lächelte müde –, »sagen wir: ziemlich abenteuerlich.
Vor kurzem noch war ich in Peschawar, um Aufträge entgegenzunehmen und das Inventar durchzugehen. Das Übliche. Natürlich auch, um meine Familie zu besuchen. Wir haben drei Töchter, alhamdulellah. Ich habe sie und meine Frau nach Peschawar gebracht, als die Mudschaheddin damit anfingen, sich gegenseitig zu bekriegen. Ich will nicht, dass eine meiner Lieben auf der shaheed-Liste erscheint. Davor hüte ich mich auch selbst. Bald werde ich wieder bei ihnen sein, inschallah.
Wie dem auch sei, eigentlich hätte ich schon Mittwoch vorletzter Woche in Kabul sein sollen, aber wie es der Zufall wollte, wurde ich krank. Ich will dir die Einzelheiten ersparen, hamshira. Es reicht zu sagen, dass mir beim Wasserlassen war, als würde ich Glassplitter ausscheiden. So etwas wünsche ich nicht einmal diesem Hekmatyar. Meine Frau Nadia jan, Allah segne sie, drängte mich dazu, einen Arzt aufzusuchen, doch ich glaubte, die Sache mit Aspirin und viel Wasser selbst in den Griff bekommen zu können. Nadia jan bestand darauf, und ich weigerte mich. So ging es hin und her. Du kennst vielleicht das Sprichwort: Ein störrischer Esel braucht einen störrischen Treiber. In unserem Fall hat sich am Ende der Esel durchgesetzt. Und der bin ich.«
Er trank das restliche Wasser und reichte Mariam das Glas. »Wenn ich bitten dürfte, ohne allzu zahmat zu erscheinen.«
Mariam nahm das Glas entgegen, um es wieder aufzufüllen.
»Ich hätte natürlich auf sie hören sollen. Sie war immer schon die Vernünftigere von uns beiden, Gott schenke ihr ein langes Leben. Als ich schließlich im Krankenhaus war, hatte ich hohes Fieber und zitterte wie ein beid-Baum im Wind. Ich konnte mich kaum mehr auf den Beinen halten. Die Ärztin bescheinigte mir eine akute Blutvergiftung und sagte, dass, wenn ich zwei oder drei Tage länger gewartet hätte, meine Frau jetzt Witwe wäre.
Ich wurde auf eine Station gebracht, wo, wie ich glaube, ausnahmslos Schwerkranke liegen. »Oh, tashakor.« Er nahm das gefüllte Glas von Mariam entgegen und holte eine große weiße Pille aus der Jackentasche. »Schrecklich groß, diese Dinger.«
Laila sah ihn die Pille schlucken. Sie spürte, wie sich ihr Atem beschleunigte. Die Beine waren ihr schwer geworden und schienen wie von Gewichten belastet zu sein. Sie ahnte, dass er auf das eigentliche Thema noch nicht zu sprechen gekommen war, gleich aber damit herausrücken würde. Sie musste an sich halten, um nicht aufzustehen und zu gehen, denn sie fürchtete, dass er ihr etwas zu sagen hatte, was sie nicht hören wollte.
Abdul Sharif stellte das Glas auf dem Tisch ab.
»Und dort, im Krankenhaus, habe ich deinen Freund Mohammad Tarik Walizai kennengelernt.«
Laila stockte der Atem. Tarik, in einem Krankenhaus. Auf einer Station für Schwerkranke.
Sie schluckte trockenen Speichel und straffte die Schultern. Sie musste sich zusammenreißen. Wenn sie es nicht täte, würde sie womöglich die Fassung verlieren. Sie versuchte, sich abzulenken, und dachte daran, dass ihr Tariks voller Name vor vielen Jahren das letzte Mal zu Ohren gekommen war, nämlich während jenes Sprachkurses im Winter, den sie beide belegt hatten, um Farsi zu lernen. Die Lehrerin, die zu Anfang einer jeden Stunde prüfte, welche Schüler anwesend waren, hatte genau so seinen Namen aufgerufen. Mohammad Tarik Walizai. Seinen vollständigen Namen zu hören war ihr damals komisch vorgekommen, so förmlich.
»Von einer der Schwestern habe ich erfahren, was mit ihm passiert ist«, fuhr Abdul Sharif fort und klopfte sich mit der Faust auf die Brust, um, wie es schien, der geschluckten Pille den Weg nach unten zu bahnen. »Ich halte mich so oft in Peschawar auf, dass mir Urdu inzwischen durchaus geläufig ist. Kurzum, mir wurde gesagt, dass dein Freund mit zweiundzwanzig anderen Flüchtlingen auf einem Lastwagen in Richtung Peschawar unterwegs war. In der Nähe der Grenze sind sie in ein Gefecht geraten. Der Lastwagen wurde von einer Rakete getroffen, angeblich einem Irrläufer, aber bei diesen Leuten weiß man ja nie. Nur sechs überlebten. Sie sind alle in dasselbe Krankenhaus gekommen. Drei von ihnen starben kurze Zeit später. Zwei Schwestern konnten, wenn ich richtig verstanden habe, schon bald entlassen werden. Übrig blieb nur dein Freund, der junge Walizai. Er war schon seit fast drei Wochen dort, als ich eingeliefert wurde.«
Also lebte er. Aber wie schwer mochte er verletzt sein, fragte sich Laila verzweifelt. Wie schwer? Dass er auf einer besonderen Station lag, ließ Schlimmes befürchten. Laila spürte, dass ihr der Schweiß ausbrach. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, etwas Angenehmes, an den Ausflug nach Bamiyan etwa, wo sie mit Tarik und Babi die Buddhas bestaunt hatte. Stattdessen aber drängte sich ihr ein Bild von Tariks Eltern auf: die Mutter, unter dem umgekippten Lastwagen begraben, nach ihrem Sohn schreiend, von Flammen und Rauch bedroht, die Perücke auf dem Kopf zerschmelzend …
Laila musste tief durchatmen.
»Er lag im Bett neben mir. Zwischen uns war nur ein Vorhang, so dass ich ihn sehen konnte.«
Abdul Sharif befingerte seinen Ehering. Er sprach jetzt langsamer.
»Dein Freund war schwer verwundet, sehr schwer. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Schläuche in ihm steckten. Zuerst …« Er räusperte sich. »Zuerst dachte ich, er hätte bei dem Anschlag beide Beine verloren, doch dann sagte eine Schwester, dass der rechte Stumpf schon älter sei. Er hatte auch innere Verletzungen und musste dreimal operiert werden. Man hat ihm Teile des Darms entfernt. Genaueres weiß ich nicht. Außerdem hatte er Verbrennungen. Ziemlich schlimme. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Es dürfte ohnehin genug sein, hamshira. Mehr als genug.«
Tarik hatte keine Beine mehr. Er war ein Torso mit zwei Stümpfen. Ohne Beine. Laila fürchtete zusammenzubrechen. Es wollte ihr das Herz zerreißen. In verzweifelter Anstrengung versuchte sie, ihre Gedanken Reißaus nehmen zu lassen, fort von diesem Mann, hinaus aus dem Fenster, über die Stadt hinweg, die Stadt mit ihren Basaren, labyrinthischen Straßen und zerschossenen Wohnhäusern.
»Er stand meist unter Drogen, wegen der Schmerzen, versteht sich, hatte aber auch klare Momente, selbst wenn ihm dann die Schmerzen schrecklich zusetzten. Immerhin konnten wir uns unterhalten. Ich habe ihm gesagt, wer ich bin und von wo ich komme. Mir schien, dass er froh war, einen hamwatan in seiner Nähe zu wissen.
Meist habe ich geredet. Ihm fiel das Sprechen schwer. Seine Stimme war heiser, und ich glaube, es tat ihm weh, die Lippen zu bewegen. Also habe ich ihm von meinen Töchtern erzählt, von unserem Haus in Peschawar und der Veranda, die mein Schwager und ich im Hof gerade aufzubauen versuchen. Ich habe ihm von dem Verkauf der Geschäfte in Kabul berichtet und gesagt, dass ich noch einmal dorthin fahren müsse, um den Papierkram zu erledigen. Es war nicht viel, was ich ihm sagen konnte, aber es hat ihm, glaube ich, gutgetan, zuzuhören. Das hoffe ich zumindest.
Manchmal hat er auch etwas gesagt. Er war schwer zu verstehen, trotzdem konnte ich einiges aufschnappen. Er hat mir das Haus seiner Eltern beschrieben und von seinem Onkel in Ghazni gesprochen, von den Kochkünsten seiner Mutter geschwärmt und gesagt, dass sein Vater Tischler war und Akkordeon spielen konnte.
Am meisten aber hat er von dir erzählt, hamshira. Er sagte, du seist … wie hat er sich ausgedrückt? … seine jüngste Erinnerung? Ja, ich glaube, das waren seine Worte. Fest steht jedenfalls, dass du ihm viel bedeutet hast. Balay, das war deutlich. Aber er sagte auch, er sei froh darüber, dass du zurückgeblieben bist und ihn in diesem Zustand nicht zu sehen brauchst.«
Laila fühlte sich wieder wie von schweren Gewichten niedergedrückt, ohnmächtig und wie ausgeblutet. Aber ihr Geist hatte sich abgesetzt und flog frei und leicht über Kabul hinweg, über zerklüftete braune Hügel, Wüsten voller Salbei, über tiefe, in rötliche Felsen gegrabene Schluchten und schneebedeckte Berge …
»Als ich ihm sagte, dass ich nach Kabul zurückfahre, bat er mich, dich aufzusuchen und dir mitzuteilen, dass er an dich denkt. Dass er dich vermisst. Ich hab’s ihm versprochen. Er war mir nämlich auf Anhieb sympathisch, verstehst du. Ein anständiger Junge, kein Zweifel.«
Abdul Sharif wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn.
»Ich bin eines Nachts aufgewacht«, fuhr er fort und beschäftigte sich wieder mit seinem Ring, »jedenfalls glaube ich, dass es Nacht war. Das weiß man an solchen Orten nie so genau. Ich wachte auf und bemerkte, dass sich am Bett nebenan einiges tat. Du musst wissen, ich stand selbst unter Drogen, war nie so ganz bei mir und wusste oft nicht, ob ich träumte oder wachte. Ich erinnere mich nur, dass Alarmsignale zu hören waren und Ärzte am Bett standen, die einen ziemlich hektischen Eindruck machten und mit Spritzen hantierten.
Am Morgen war das Bett leer. Ich habe eine Schwester gefragt. Sie sagte, dass er sehr tapfer gekämpft habe.«
Laila nahm nur am Rande wahr, dass sie nickte. Sie hatte es geahnt. Schon in dem Moment, als sie vor diesem fremden Mann Platz genommen hatte, war ihr klar gewesen, welche Nachricht er ihr bringen würde.
»Weißt du, anfangs habe ich gar nicht geglaubt, dass es dich gibt«, sagte er. »Ich dachte, er fantasiert bloß. Vielleicht habe ich sogar gehofft, dass es dich nicht gibt. Es ist mir nämlich ein Graus, schlimme Nachrichten überbringen zu müssen. Aber ich habe es ihm versprochen. Und wie gesagt, er war mir sehr sympathisch. Ich bin vor wenigen Tagen in Kabul angekommen, habe mich nach dir erkundigt und mit Nachbarn gesprochen. Sie haben mir gesagt, wo ich dich finden kann. Sie sagten mir auch, was deinen Eltern zugestoßen ist. Als ich das hörte, habe ich auf dem Absatz kehrtgemacht. Ich wollte dir eigentlich nichts sagen, dir nicht noch mehr zumuten. Ich hatte Angst, du könntest es nicht verkraften. Das kann man doch auch kaum.«
Abdul Sharif beugte sich vor und legte ihr eine Hand aufs Knie. »Ich bin dann trotzdem gekommen, ihm zuliebe. Er hätte es so gewollt. Das glaube ich. Es tut mir schrecklich leid. Ich wünschte …«
Laila hörte nicht mehr zu. Sie erinnerte sich an den Tag, als der Mann aus dem Pandschir-Tal mit der Nachricht vom Tod ihrer Brüder gekommen war. Sie dachte an Babi, in sich zusammengesunken und bleich im Gesicht, und an Mami, wie sie die Hand vor den Mund schlug, als sie das Schreckliche hörte. Zu sehen, wie es Mami an diesem Tag das Herz zerriss, hatte ihr Angst gemacht, doch Trauer zu empfinden war ihr kaum möglich gewesen. Sie hatte den Verlust nicht nachempfinden können. Jetzt war wieder ein Fremder mit einer Todesnachricht gekommen. Jetzt saß sie ihm gegenüber. Sollte dies etwa eine Strafe dafür sein, dass sie sich damals über den Kummer ihrer Mutter hinweggesetzt hatte?
Laila erinnerte sich, wie ihre Mutter schreiend zu Boden gesunken war und sich die Haare gerauft hatte. Aber nicht einmal dazu war Laila nun im Stande. Sie konnte sich nicht rühren, kaum einen Muskel bewegen.
Stattdessen saß sie reglos auf dem Stuhl, die schlaffen Hände im Schoß, die Augen ins Leere gerichtet und mit losgelöstem Verstand. Sie ließ die Gedanken schweifen, bis sie einen guten und sicheren Platz fanden, wo Gerstenfelder grünten, klare Bäche sprudelten und Myriaden fedriger Pappelsamen durch die Luft schwirrten; wo Babi, unter einer Akazie sitzend, aus einem Buch vorlas und Tarik, die Hände auf der Brust gefaltet, ein Nickerchen machte; wo sie, die Füße ins Wasser getaucht, unter der Wacht uralter Götter, der von der Sonne gebleichten Felsen, von schönen Dingen träumen konnte.