7

Jalil und seine Frauen saßen ihr an einem langen dunkelbraunen Tisch gegenüber. Zwischen ihnen, in der Mitte des Tisches, standen eine Kristallvase mit frischen Ringelblumen und eine mit Wasser gefüllte Karaffe, von der Tropfen perlten. Afsoon, die rothaarige Frau, die sich ihr als Niloufars Mutter vorgestellt hatte, saß rechts von Jalil, die beiden anderen, Khadija und Nargis, links. Alle drei trugen einen dünnen schwarzen Schal, nicht etwa über dem Kopf, sondern lose im Nacken, wie einen nachträglichen Einfall. Mariam konnte sich nicht vorstellen, dass sie um Nana trauerten, und glaubte vielmehr, dass eine von ihnen oder vielleicht auch Jalil vorgeschlagen hatte, für das anstehende Gespräch mit der Hinterbliebenen etwas Schwarzes anzulegen.

Afsoon schüttete Wasser aus der Karaffe in ein Glas und stellte es vor Mariam auf einen kariert gemusterten Untersetzer. »Erst Frühling und schon so warm«, sagte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu.

»Hast du alles, was du brauchst?«, fragte Nargis, die ein kleines Kinn und schwarzes lockiges Haar hatte. »Wir hoffen, dass es dir hier gut ergangen ist. Die letzte Zeit muss hart für dich gewesen sein, sehr hart.«

Die beiden anderen nickten. Mariam betrachtete ihre Augenbrauen, das dünne tolerante Lächeln, das sie ihr schenkten. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Ihre Kehle brannte. Sie trank einen Schluck Wasser.

Im großen Fenster hinter Jalil sah Mariam eine Reihe blühender Birnbäume. Vor der Wand neben dem Fenster befand sich eine Vitrine aus dunklem Holz. Darauf standen eine Uhr und eine gerahmte Fotografie von Jalil und drei Jungen, die einen Fisch präsentierten. In den Schuppen des Fisches glitzerte Sonnenlicht. Jalil und die Jungen lachten.

»Nun«, hob Afsoon an, »ich, das heißt, wir haben dich gerufen, weil wir dir sehr gute Nachrichten mitzuteilen haben.«

Mariam blickte auf.

Sie sah, wie die Frauen Blicke tauschten, über Jalil hinweg, der auf die Karaffe starrte. Es war Khadija, die älteste der drei, die nun die Augen auf sie richtete, und Mariam ahnte, dass auch dies im Voraus abgesprochen worden war.

»Du hast einen Bewerber«, sagte Khadija.

Mariam glaubte nicht richtig zu hören. »Einen was?«, fragte sie und bekam die Lippen kaum auseinander.

»Einen khastegar. Einen Bewerber. Sein Name ist Raschid«, fuhr Khadija fort. »Er ist der Freund eines Geschäftspartners deines Vaters, ein Paschtune. Er stammt aus Kandahar, lebt aber jetzt in Kabul, im Bezirk Deh-Mazang. Dort gehört ihm ein zweigeschossiges Haus.«

Afsoon nickte. »Und er spricht Farsi, wie wir, wie du. Du müsstest also kein Paschto lernen.«

Mariam spürte, wie sich ihr die Brust zuschnürte. Vor ihren Augen geriet alles in Bewegung, der Boden unter ihren Füßen drohte wegzukippen.

»Er ist ein Schuhmacher«, sagte jetzt Khadija. »Nicht etwa ein gewöhnlicher moochi am Straßenrand, nein, nein. Er hat sein eigenes Geschäft und ist einer der renommiertesten Schuhmacher von ganz Kabul. Bei ihm bestellen Diplomaten, die Mitglieder der Präsidentenfamilie, hoch angesehene Leute. Kein Zweifel, er wird gut für dich sorgen können.«

Mariam fixierte Jalil. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Ist das wahr? Stimmt es, was sie sagen?«

Jalil aber wich ihrem Blick aus. Er knabberte an der Unterlippe und starrte auf die Karaffe.

»Zugegeben, er ist ein wenig älter als du«, erklärte Afsoon, »dürfte aber nicht älter als … vierzig sein. Höchstens fünfundvierzig. Was meinst du, Nargis?«

»Ja. Aber wir wissen ja alle, dass schon neunjährige Mädchen mit noch viel älteren Männern verheiratet werden. So etwas kommt vor. Wie alt bist du jetzt? Fünfzehn? Na also, genau das richtige Heiratsalter für ein Mädchen.« Die beiden anderen Frauen nickten zustimmend. Es entging Mariam nicht, dass ihre beiden Halbschwestern Saideh und Naheed mit keinem Wort erwähnt wurden; sie waren beide in Mariams Alter, besuchten die Mehri-Schule in Herat und hatten die Absicht, an der Universität von Kabul zu studieren. Mit ihren fünfzehn Jahren waren sie offenbar noch nicht im richtigen Heiratsalter für Mädchen.

»Übrigens hat auch er einen großen Verlust erleiden müssen«, sagte Nargis. »Seine Frau ist vor zehn Jahren im Kindbett gestorben. Und vor drei Jahren ertrank sein Sohn in einem See.«

»Wirklich traurig. Er sucht seit mehreren Jahren eine Frau für sich, hat aber bislang keine passende gefunden.«

»Ich will nicht«, sagte Mariam mit Blick auf Jalil. »Ich will das nicht. Zwingt mich bitte nicht.« Sie schämte sich für den weinerlichen, flehentlichen Klang ihrer Stimme, konnte daran aber nichts ändern.

»Sei vernünftig, Mariam«, sagte eine der Frauen. Mariam achtete nicht mehr darauf, welche der drei mit ihr sprach. Sie war nur noch auf Jalil fixiert und wartete darauf, dass er das Wort ergriff, dass er sagte, das Ganze sei nur ein Scherz.

»Du kannst nicht den Rest deines Lebens hier verbringen.«

»Willst du denn nicht selbst eine Familie gründen?«

»Ja, eigene Kinder und ein Zuhause haben?«

»Du musst etwas machen aus deinem Leben.«

»Nun ja, es wäre dir bestimmt lieber, einen Hiesigen zu heiraten, einen Tajik, aber Raschid ist gesund und interessiert an dir. Er hat ein Haus und einen Beruf. Darauf kommt’s doch an, oder etwa nicht? Und Kabul ist eine schöne, aufregende Stadt. Eine solche Gelegenheit wird sich dir womöglich kein zweites Mal bieten.«

Mariam richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Frauen.

»Ich werde mit Mullah Faizullah zusammenleben«, sagte sie. »Er wird mich bei sich aufnehmen. Ich weiß es.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Khadija. »Er ist alt und …« Sie suchte nach einer treffenden Formulierung, doch Mariam hatte längst begriffen, worum es ging. Eine solche Gelegenheit wird sich dir womöglich kein zweites Mal bieten. Und Ähnliches galt für die drei Frauen. Ihnen bot sich die Gelegenheit, die Schande, die Mariams Geburt über sie gebracht hatte, ein für alle Mal zu tilgen, den skandalösen Fehltritt ihres Mannes vergessen zu machen. Sie, Mariam, sollte weggeschickt werden, weil sie der lebende Beweis ihrer Schande war.

»Er ist alt und schwach«, sagte Khadija schließlich. »Was willst du tun, wenn er nicht mehr ist? Du wärst seiner Familie bloß eine Bürde.«

So wie du uns eine bist. Mariam konnte die unausgesprochenen Worte vor Khadijas Lippen buchstäblich aufsteigen sehen wie Atemluft an kalten Tagen.

Mariam stellte sich ein Leben in Kabul vor, in der großen, fremden, übervölkerten Stadt, die, wie Jalil ihr einmal erklärt hatte, rund sechshundertfünfzig Kilometer entfernt im Osten von Herat lag. Sechshundertfünfzig Kilometer. Die zwei Kilometer von der kolba bis zu Jalils Haus waren die längste Strecke, die sie jemals zurückgelegt hatte. In Gedanken versetzte sie sich ans andere Ende dieser fast unvorstellbar weiten Entfernung, in das Haus eines Fremden, der nach Lust und Laune über sie verfügen könnte. Sie würde für diesen Raschid putzen, kochen und waschen müssen, und nicht nur das – von Nana wusste sie, was Ehemänner sonst noch von ihren Frauen verlangten. Und gerade dies stellte sie sich so entsetzlich vor, dass ihr vor Angst und Schrecken der Schweiß ausbrach.

Wieder wandte sie sich an Jalil. »Sag ihnen, dass sie so etwas nicht mit mir machen dürfen, dass du das nicht zulässt.«

»Dein Vater hat Raschid schon sein Wort gegeben«, sagte Afsoon. »Raschid ist hier, in Herat, von Kabul angereist. Morgen früh wird die nikka sein, und gegen Mittag fahrt ihr mit dem Bus nach Kabul.«

»Sag’s ihnen!«, platzte es aus Mariam heraus.

Die Frauen waren jetzt still. Mariam bemerkte, dass auch sie ihn beobachteten. Das Schweigen lastete schwer. Jalil befingerte seinen Ehering. Er wirkte gequält und hilflos. Die Uhr auf der Vitrine tickte.

»Jalil jo«, sagte schließlich eine der Frauen.

Langsam hob Jalil den Kopf. Er schaute Mariam in die Augen, wich ihrem Blick aber bald wieder aus. Er öffnete den Mund, doch alles, was er hervorbrachte, war ein schmerzliches Seufzen.

»Sag etwas«, forderte Mariam ihn auf.

Und das tat Jalil dann, mit dünner, bemühter Stimme. »Verdammt noch mal, Mariam, mach es mir doch nicht so schwer«, sagte er, als wäre er der Leidtragende.

Mariam spürte, wie sich plötzlich alle Spannung am Tisch auflöste.

Jalils Frauen sprachen Mariam wortreich und jetzt mit fast heiterer Miene Mut zu. Sie selbst hatte den Blick gesenkt und musterte die schlanken Tischbeine, die gerundeten Kanten der Platte, den spiegelnden Glanz der polierten dunkelbraunen Oberfläche. Ihr fiel auf, dass, sooft sie ausatmete, die Oberfläche sich eintrübte und ihr Abbild darauf verschwand.

Afsoon geleitete sie zurück in ihr Zimmer. Als Afsoon die Tür zugezogen hatte, hörte Mariam, wie von außen ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.