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Mariam hatte nie zuvor eine Burka getragen. Beim Anziehen musste sie sich von Raschid helfen lassen. Die in das Kopfteil eingenähte Kappe legte sich eng um ihre Stirn, und es mutete sie seltsam an, die Welt durch ein Gitternetz zu betrachten. Um sich daran zu gewöhnen, trug sie die Burka im Haus, trat aber ständig auf den Saum und geriet ins Stolpern. Der eingeschränkte Blickwinkel verunsicherte sie zusätzlich, und das über den Mund fallende Tuch hinderte sie daran, frei zu atmen.

»Na bitte«, sagt Raschid. »Ich wette, mit der Zeit magst du gar nichts anderes mehr tragen.«

Mit einem Bus fuhren sie zu einer Parkanlage, dem Shar-e-Nau, wie Raschid sagte. Kinder stießen sich gegenseitig auf Schaukeln an oder schlugen Volleybälle über zerrissene Netze, die zwischen Bäume gespannt waren. Seite an Seite schlenderten Raschid und Mariam umher und sahen zu, wie Jungen Drachen steigen ließen. Immer wieder stolperte sie über den Saum der Burka. Um die Mittagszeit führte Raschid sie in ein kleines Kebab-Haus nahe einer Moschee, die, wie sie von ihm erfuhr, nach Hadschi Jakob benannt worden war. Der Boden war klebrig, die Luft voller Rauch. Es roch nach rohem Fleisch, und die Musik – Raschid bezeichnete sie als logari – dröhnte ihr in den Ohren. Die Köche, dünne Burschen, schürten mit der einen Hand das Feuer unter den Spießen und versuchten mit der anderen, die Fliegen zu vertreiben. Mariam war zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Restaurant und fand es anfangs seltsam, unter so vielen Fremden zu sitzen und die Burka zu lüften, um sich einen Happen in den Mund zu stecken. Sie verspürte einen Anflug derselben Angst, die sie vor dem öffentlichen tandoor ausgestanden hatte, sah sich aber ein wenig beruhigt durch Raschids Anwesenheit, und nach einer Weile waren ihr die Musik, der Rauch, ja selbst die vielen Menschen erträglich. Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie nun die Burka durchaus angenehm zu tragen. Das Gitternetz war wie ein Fenster, durch das sie selbst alles beobachten konnte, ohne den neugierigen Blicken anderer ausgesetzt zu sein. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr darum zu machen, dass man sie wiedererkennen und die schändlichen Geheimnisse ihrer Vergangenheit durchschauen könnte.

Unterwegs machte Raschid sie auf wichtige Gebäude aufmerksam, auf die amerikanische Botschaft und das Außenministerium. Er deutete auf Autos und nannte die Namen ihrer Hersteller: sowjetische Wolgas, amerikanische Chevrolets, deutsche Opel.

»Welches gefällt dir am besten?«, fragte er.

Nach kurzem Zögern zeigte Mariam auf einen Wolga. Raschid lachte.

Kabul war sehr viel dichter bevölkert als das, was Mariam von Herat gesehen hatte. Bäume und von Pferden gezogene garis sah man hier nur vereinzelt; dafür gab es jede Menge Autos, höhere Gebäude, zahllose Verkehrsampeln und asphaltierte Straßen. Die Stadtbewohner sprachen in einem eigentümlichen Dialekt. Jo, was so viel wie »lieb« bedeutete, hieß hier jan; aus hamshireh – Schwester – wurde hamshira.

Raschid kaufte einem Straßenhändler zwei Becher Eiscreme ab. Für Mariam war es das erste Mal, dass sie Eis aß, und dass es so lecker schmeckte, hätte sie kaum für möglich gehalten. Obenauf lagen klein gehackte Pistazien, der Boden bestand aus Puffreis. Genüsslich löffelte sie ihren Becher leer und staunte über den süßen Schmelz auf der Zunge.

Sie gelangten an einen Ort, der Kocheh-Morgha hieß, Hühnerstraße. Es war ein enger, überfüllter Basar am Rand jenes Wohnviertels, von dem Raschid sagte, dass es zu den vornehmeren Teilen Kabuls zählte.

»Da wohnen die ausländischen Diplomaten, reiche Geschäftsleute und Mitglieder der Königsfamilie. Solche Leute. Keine Gegend für unsereins.«

»Ich sehe hier gar keine Hühner«, sagte Mariam.

»Sie sind ungefähr das Einzige, was man in der Hühnerstraße nicht finden kann«, lachte Raschid.

Rechts und links der Straße reihte sich ein Laden oder Verkaufsstand an den anderen. Verkauft wurden unter anderem Lammfellkappen und vielfarbige chapans. Raschid bewunderte in einem der Geschäfte einen schmuckvoll ziselierten silbernen Dolch, in einem anderen ein altes Gewehr, das, wie ihm der Verkäufer versicherte, noch aus dem ersten Krieg gegen die Briten stammte.

»Und ich bin Mosche Dajan«, murmelte Raschid und verzog das Gesicht zu einem Lächeln, von dem Mariam annahm, dass es ihr gewidmet sei. Ein ganz privates Lächeln unter Eheleuten.

Sie kamen an Teppichhändlern vorbei, an kleinen Handwerksbetrieben, Zuckerbäckern, Blumenläden und Geschäften, in denen Herrenanzüge und Damenkleider verkauft wurden. Hinter Vorhängen aus dünner Spitze sah Mariam junge Frauen Knöpfe annähen oder Hemdkragen bügeln. Ab und zu grüßte Raschid einen der Händler, mal auf Farsi, mal auf Paschto. Wenn sie sich die Hand gaben und auf die Wange küssten, hielt Mariam immer ein paar Schritte Abstand. Kein einziges Mal winkte Raschid sie zu sich, um sie einem Bekannten vorzustellen.

Vor einer Stickerei forderte er sie auf, draußen auf ihn zu warten. »Ich kenne den Besitzer«, erklärte er, »und will ihm nur kurz Salaam sagen.«

Mariam wartete auf dem überfüllten Gehweg. Autos krochen durch die verstopfte Hühnerstraße und verscheuchten Kinder und Esel, die sich nicht rühren wollten, mit lautem Gehupe. Händler standen mit gelangweilter Miene hinter ihren Verkaufsständen, rauchten oder spuckten in Näpfe aus Messing. Wenn sich jemand für ihre Stoffe oder pelzbesetzten poostin-Mäntel zu interessieren schien, tauchten ihre Gesichter aus dem Halbdunkel auf.

Mariams ganz besondere Aufmerksamkeit aber galt den Frauen.

Im Vergleich mit den Frauen aus ärmeren Nachbarschaften wie jenem Viertel, in dem sie und Raschid wohnten und wo die Burka gebräuchlich war, schienen die Frauen in diesem Teil Kabuls aus einer gänzlich anderen Welt zu stammen. Sie waren … Welches Wort hatte Raschid verwendet? Modern. Ja, es waren moderne afghanische Frauen, verheiratet mit modernen afghanischen Männern, denen es nichts ausmachte, dass sich ihre Frauen mit geschminkten Gesichtern und barhäuptig in der Öffentlichkeit zeigten. Sie flanierten ganz unbefangen die Straße entlang, ob mit oder ohne Mann an ihrer Seite. Manche waren in Begleitung von Kindern mit rosigen Wangen, blank geputzten Schuhen und Armbanduhren. Sie schoben Fahrräder mit hochgezogener Lenkstange und gold lackierten Speichen – so ganz anders als die Kinder in Deh-Mazang, deren Gesichter von Sandmücken zerstochen waren und die mit Stöcken verbeulte Fahrradfelgen vor sich hertrieben.

All diese Frauen hier trugen Handtaschen und raschelnde Röcke. Mariam sah sogar eine, die hinter dem Steuer eines Autos saß und rauchte. Die Fingernägel dieser Frauen waren lang, rosa oder orangefarben lackiert, die Lippen so rot wie Tulpen. Sie stolzierten auf hohen Absätzen und mit schnellen Schritten, als ob sie immerzu dringliche Geschäfte zu erledigen hätten. Viele trugen dunkle Sonnenbrillen, und wenn sie vorbeirauschten, zogen sie eine Wolke von Parfüm hinter sich her. Mariam stellte sich vor, dass sie alle ein Diplom der Universität in der Tasche hatten, in einem der Bürohochhäuser arbeiteten, womöglich am eigenen Schreibtisch, wo sie Texte in eine Schreibmaschine tippten, rauchten oder wichtige Telefonate führten. Mariam war tief beeindruckt von ihnen. Gleichzeitig führten sie ihr aber auch die eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen, ihr schlichtes Aussehen, ihren Mangel an Ehrgeiz und ihre Unwissenheit in so vielen Dingen.

Raschid tippte ihr auf die Schulter und reichte ihr etwas.

»Hier.«

Es war ein dunkelbrauner Seidenschal mit perlenverzierten Fransen und goldener Saumstickerei.

»Gefällt er dir?«

Mariam blickte zu Raschid auf und war von seiner Reaktion gerührt. Er blinzelte und wich ihrem Blick aus.

Sie dachte an Jalil und die auftrumpfende Art, mit der er sie immer beschenkt und so sehr eingeschüchtert hatte, dass sie nur ein zaghaftes Danke hervorbringen konnte. Nana hatte recht, was Jalils Geschenke anging. Sie waren halbherzige Zeichen von Reue, unaufrichtige Gesten, mit denen er weniger ihr als sich selbst einen Gefallen zu tun und Abbitte zu leisten versuchte. Dieser Schal dagegen war ein wahres Geschenk.

»Er ist wunderschön«, sagte sie.

Am Abend desselben Tages besuchte Raschid sie wieder in ihrem Zimmer. Aber anstatt im Türrahmen stehen zu bleiben und zu rauchen, kam er herein und setzte sich zu ihr aufs Bett. Die Federn knarrten, und das Gestell neigte sich unter seinem Gewicht.

Er zögerte einen Moment, schob ihr dann seine Hand in den Nacken und fuhr mit seinen fleischigen Fingern über ihre Halswirbel. Mit dem Daumen strich er über das Schlüsselbein, die Höhlung darüber. Mariam fing zu zittern an. Die Hand drängte tiefer. Die schartigen Fingernägel verhakten sich im Baumwollstoff ihrer Bluse.

»Ich kann nicht«, krächzte sie und starrte in sein vom Mondlicht beschienenes Gesicht, auf die massigen Schultern, die breite Brust und das aus dem Kragenausschnitt wuchernde dichte graue Haar.

Seine Hand lag jetzt auf ihrer rechten Brust und drückte zu. Sie hörte ihn tief durch die Nase einatmen.

Er schlüpfte zu ihr unter die Decke. Sie spürte, wie er sich zuerst am eigenen Gürtel und dann an der Kordel ihrer Hose zu schaffen machte. Sie selbst verkrallte die Finger im Laken. Er wälzte sich auf sie, rutschte hin und her. Mariam schloss die Augen und biss die Zähne aufeinander.

Der Schmerz kam plötzlich und überraschend heftig. Sie riss die Augen auf, schnappte nach Luft und biss sich auf den Knöchel des Daumens. Sie schlug mit dem freien Arm aus, bekam Raschids Hemd am Rücken zu fassen und zerrte daran.

Raschid hatte sein Gesicht in ihrem Kissen vergraben, während Mariam mit weit aufgesperrten Augen an seiner Schulter vorbei an die Decke starrte, seinen heißen Atem im Nacken spürte und am ganzen Körper zitterte. Die Luft zwischen ihnen roch nach Tabak, Zwiebeln und dem gegrillten Lammfleisch, das sie zum Abend gegessen hatten. Als seine Wange ihre Ohrmuschel streifte, bemerkte sie, dass er sich rasiert hatte.

Als es vorbei war, ließ er keuchend von ihr ab, wälzte sich zur Seite und legte den Unterarm auf die Stirn. Im Dunkeln sah sie die blau leuchtenden Zeiger seiner Armbanduhr. Für eine Weile lagen beide reglos Seite an Seite auf dem Rücken, ohne einander anzusehen.

»Du brauchst dich für nichts zu schämen, Mariam«, sagte er mit leicht schleppender Zunge. »So etwas machen Mann und Frau, wenn sie verheiratet sind. Das haben selbst der Prophet und seine Frauen gemacht. Es ist nichts Schlimmes dabei.«

Bald darauf schlug er die Decke zurück, stand auf und ging. Zurück blieben für sie der Schmerz im Unterleib, der Anblick am Himmel festgefrorener Sterne und eine Wolke, die wie ein Brautschleier den Mond verhüllte.