21
Der Fahrer lenkte sein Taxi an den Straßenrand, um einen weiteren Konvoi sowjetischer Jeeps und Panzerfahrzeuge vorbeizulassen. Tarik beugte sich nach vorn und rief: »Pajalusta! Pajalusta!«
Ein Jeep hupte; Tarik antwortete mit schrillem Pfeifton. Er strahlte übers ganze Gesicht und winkte den Soldaten zu. »Was für Geschütze!«, rief er. »Diese Jeeps, super. Eine fantastische Armee. Zu dumm nur, dass ihr gegen einen Haufen Bauern mit Steinschleudern den Kürzeren ziehen werdet.«
Der Konvoi zog vorbei. Der Chauffeur nahm die Fahrt wieder auf.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Laila.
»Eine Stunde, höchstens«, antwortete der Taxifahrer. »Vorausgesetzt, wir werden nicht ständig aufgehalten.«
Laila, Babi und Tarik unternahmen einen Tagesausflug. Hasina hatte auch mitkommen wollen, was ihr aber von ihrem Vater verboten worden war. Die Idee zu dem Ausflug war Babis gewesen, und obwohl er es sich eigentlich kaum leisten konnte, hatte er den Chauffeur für einen ganzen Tag angeheuert. Wohin es gehen sollte, wollte er Laila nicht verraten; er hatte lediglich angedeutet, dass das Ziel ihrer Allgemeinbildung zugute komme.
Sie waren schon seit fünf Uhr in der Früh unterwegs. Schneebedeckte Berge, Wüsten, Schluchten und unter der Sonne glühende Felsmassive wechselten einander ab. Sie kamen an strohgedeckten Lehmhütten vorbei, an Feldern voller Getreidegarben. Auf staubigem Gelände entdeckte Laila hier und da die schwarzen Zelte der Koochi-Nomaden, häufiger noch ausgebrannte Wracks sowjetischer Panzer und abgeschossener Hubschrauber. Das also, dachte sie, war das Afghanistan ihrer Brüder. Hier, in diesen Provinzen, wurden die Schlachten ausgetragen. Nicht in Kabul. In Kabul blieb es meist friedlich, und wären dort nicht gelegentlich Maschinengewehrsalven zu hören und sowjetische Soldaten zu sehen, die rauchend über die Gehwege schlenderten oder in ihren Jeeps über die Straßen rollten, hätte man den Krieg für ein Gerücht halten können.
Am späten Vormittag erreichten sie, nachdem sie zwei weitere Kontrollpunkte hatten passieren müssen, ein Flusstal, wo Babi seine Tochter auf Ruinen in der Ferne aufmerksam machte, die aus uralter Zeit zu stammen schienen und rötlich unter der Sonne schimmerten.
»Das ist Shahr-e-Zohak. Die rote Stadt. Sie war einmal eine Festung und wurde vor rund neunhundert Jahren errichtet, um das Tal vor Eindringlingen zu schützen. Der Enkel von Dschingis Khan hatte sie im 13. Jahrhundert einzunehmen versucht, wurde aber abgewehrt und getötet. Es war schließlich Dschingis Khan selbst, der sie zerstörte.«
»Tja, meine jungen Freunde, das ist das Schicksal unseres Landes«, sagte der Chauffeur und schnippte eine Zigarettenkippe aus dem Fenster. »Ein Eroberungsfeldzug nach dem anderen. Mazedonier, Sassaniden, Araber, Mongolen. Und jetzt die Russen. Aber wir sind wie die Festungsmauern da drüben. Ramponiert und kein schöner Anblick, aber immer noch stehend. Hab ich nicht recht, badar?«
»So ist es«, antwortete Babi.
Eine halbe Stunde später hielt der Fahrer an.
»Kommt«, sagte Babi. »Kommt und seht euch das an.«
Sie stiegen aus dem Auto. Babi streckte den Arm aus. »Da sind sie. Schaut.«
Tarik schnappte unwillkürlich nach Luft. So auch Laila. Ihr war auf Anhieb klar, dass sie vor einem Wunderwerk standen, das auf der ganzen Welt seinesgleichen suchte.
Die beiden Buddhas waren riesig und wirkten noch viel kolossaler als auf den Fotos, die sie von ihnen gesehen hatte. Eingemeißelt in den von der Sonne gebleichten Fels, blickten sie auf die kleine Gruppe herab wie schon vor fast zweitausend Jahren, als, wie es sich Laila vorzustellen versuchte, durch dieses Tal der Seidenstraße Handelskarawanen gezogen waren. Zahllose Höhlen markierten die überhängenden Steilwände zu beiden Seiten.
»Daneben kommt man sich ja winzig klein vor«, sagte Tarik.
»Wie wär’s? Steigen wir rauf?«, schlug Babi vor.
»Auf die Statuen?«, fragte Laila. »Ist das denn möglich?«
Babi lächelte und streckte seine Hand aus. »Auf geht’s.«
Tarik musste sich von Laila und Babi helfen lassen, als sie im Halbdunkel durch einen engen gewundenen Treppenschacht nach oben stiegen. Immer wieder kamen sie an Höhlen und Nischen vorbei, die wie Bienenwaben den Fels durchsetzten.
»Passt gut auf«, sagte Babi. Seine Stimme hallte von den Wänden wider. »Die Stufen sind tückisch.«
An manchen Stellen öffnete sich der Schacht und gab einen Blick auf die Buddhas frei.
»Nicht nach unten blicken, Kinder. Die Augen immer geradeaus.«
Babi erzählte, dass Bamiyan einst ein blühendes buddhistisches Zentrum gewesen sei, bevor es im 9. Jahrhundert unter die Herrschaft islamischer Araber geriet. Buddhistische Mönche hatten Höhlen in den Sandstein gegraben, die ihnen selbst als Wohnung oder durchreisenden Pilgern als Zuflucht dienten. Früher, erklärte Babi, seien die Wände und Gewölbe mit prächtigen Fresken ausgemalt gewesen.
»In der Blütezeit haben hier an die fünftausend Mönche gelebt«, sagte er.
Tarik war völlig erschöpft, als sie oben anlangten. Auch Babi keuchte heftig. Seine Augen aber strahlten vor Begeisterung.
»Wir stehen hier auf dem Kopf des Buddhas«, sagte er und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Da drüben ist ein Balkon, von dem sich ein herrlicher Ausblick bietet.«
Vorsichtig rückten sie weiter vor, bis auf einen Felssims, wo sie Babi in ihre Mitte nahmen und aufs Tal hinabblickten.
»Seht euch das an!«, staunte Laila.
Babi lächelte.
Ein Teppich aus üppig grünen Feldern breitete sich unter ihnen aus. Babi sagte, dass dort Winterweizen, Luzerne und Kartoffeln angebaut würden. Pappeln säumten die Felder, die von Bewässerungsgräben und Bachläufen durchzogen waren. An den Ufern hockten Wäsche waschende Frauen. Babi machte auf die terrassierten Reis- und Gerstenfelder an den Berghängen aufmerksam. Es war Herbst. Auf den Flachdächern der Lehmziegelhäuser wurde die Ernte zum Trocknen ausgelegt. Pappeln säumten auch die Straße, die durch die Ortschaft führte. Es gab dort kleine Geschäfte, Teehäuser und Barbiere, die ihre Kunden unter freiem Himmel bedienten. Die Bergausläufer jenseits der Ortschaft und des Flusses waren kahl und staubbraun. Dahinter erhoben sich, wie überall in Afghanistan, die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch.
Über das gesamte Panorama spannte sich ein makellos blauer Himmel.
»Wie still es hier ist«, flüsterte Laila. Auf der Talsohle waren winzige Schafe und Pferde auszumachen, aber auch von ihnen drang kein Laut herauf.
»Ja, das ist mir auch immer aufgefallen, sooft ich hier war«, bestätigte Babi. »Die Stille, die friedliche Stimmung. Diesen Eindruck wollte ich euch vermitteln. Aber ich wollte euch auch einen Teil der reichen Geschichte unseres Landes zeigen, Kinder. Wie ihr seht, kann ich euch noch einiges beibringen. Etwas, das man nicht aus Büchern lernt, das man einfach mit eigenen Augen sehen und mit allen Sinnen erfahren muss.«
»Seht mal«, sagte Tarik.
Ein Falke kreiste in weiten Bögen über die Ortschaft.
»Bist du auch mal mit Mami hier gewesen?«, wollte Laila wissen.
»Oh ja, oft. Schon vor, aber auch nach der Geburt deiner Brüder. Deine Mutter war damals sehr unternehmungslustig und … voller Leben. Der lebendigste, fröhlichste Mensch, der mir je begegnet ist.« Er lächelte wehmütig. »Sie hatte ein unwiderstehliches Lachen. Ich glaube, deswegen habe ich sie geheiratet, wegen ihres Lachens. Wenn sie lachte, musste man zwangsläufig mitlachen. Dagegen war kein Kraut gewachsen.«
Laila spürte ein warmes Gefühl der Zuneigung in sich aufwallen. In diesem Moment prägte sich ihr ein Bild von Babi ein, an das sie sich auch nach Jahren noch erinnern sollte: wie er dastand und von Mami schwärmte, die Ellbogen auf den Fels gestützt und das Kinn auf beide Hände gelegt, die Haare vom Wind zerzaust und mit blinzelnden, von der Sonne beschienenen Augen.
»Ich will mir mal eine dieser Höhlen ansehen«, sagte Tarik.
»Sei vorsichtig«, mahnte Babi.
»Keine Sorge, kaka jan. Ich pass schon auf.«
Laila beobachtete drei Männer in der Tiefe, die neben einer angepflockten Kuh standen und sich miteinander unterhielten. Die welkenden Bäume ringsum schimmerten in Braun-, Gelb- und Rottönen.
»Weißt du, ich vermisse die Jungen auch«, sagte Babi mit feuchten Augen. Sein Kinn zitterte. »Vielleicht kann ich … Nun, bei deiner Mutter sind Freude und Traurigkeit immer schon extrem gewesen. Sie kann beides nicht verbergen. Das konnte sie noch nie. Ich bin in der Hinsicht wohl etwas anders. Ich neige dazu … Aber der Tod der Jungen hat auch mich gebrochen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht … Ach, es ist sehr schwer, Laila, sehr schwer.« Er drückte Daumen und Zeigefinger auf die Nasenwurzel. Als er wieder zu sprechen versuchte, kippte ihm die Stimme weg. Er presste die Lippen aufeinander und wartete, holte dann tief Luft und schaute sie an. »Ich bin froh, dass ich dich habe. Dafür danke ich Gott tagtäglich. Manchmal, wenn deine Mutter ihre ganz dunklen Tage hat, drängt sich mir das Gefühl auf, dass du, Laila, alles bist, was ich habe.«
Laila schmiegte sich an ihn und legte ihre Wange auf seine Brust, was ihn zu verunsichern schien, denn im Unterschied zu Mami zeigte er seine Zuneigung nur selten unmittelbar. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und drückte sie auf seine linkische Art an sich. So standen sie für eine Weile da und blickten ins Tal.
»Sosehr ich dieses Land auch liebe, spiele ich doch oft mit dem Gedanken auszuwandern«, sagte er.
»Wohin?«
»Wo es mir leichter fallen würde zu vergessen. Vielleicht zuerst nach Pakistan, für ein, zwei Jahre, um von dort aus alle Formalitäten zu erledigen.«
»Und dann?«
»Und dann, nun, die Welt ist groß. Vielleicht nach Amerika. Irgendwo am Meer. Zum Beispiel Kalifornien.«
Babi sagte, die Amerikaner seien besonders großzügig. Man würde sie dort für eine Weile unterstützen, bis sie auf eigenen Füßen stehen könnten.
»Ich würde mir Arbeit suchen und nach ein paar Jahren, wenn wir genug angespart hätten, ein Restaurant eröffnen. Nichts Besonderes – ein bescheidenes kleines Restaurant mit ein paar Tischen und Teppichen. An den Wänden vielleicht Bilder von Kabul. Und unser Essen wird so zubereitet, dass es auch den Amerikanern schmeckt. Die Kochkünste deiner Mutter werden dafür sorgen, dass die Gäste auf der Straße Schlange stehen.
Und du, du würdest natürlich weiter zur Schule gehen. Du weißt ja, wie wichtig mir das ist. Dir eine gute Ausbildung zukommen zu lassen, zuerst auf der Highschool und dann auf dem College, hat absolute Priorität. In deiner Freizeit könntest du im Restaurant aushelfen, aber nur, wenn du willst, Bestellungen entgegennehmen, Wasserkrüge auffüllen und so weiter.«
Babi sagte, dass in dem Restaurant Geburtstage, Verlobungen oder Silvesterpartys gefeiert würden und dass sich dort andere Afghanen, die wie sie dem Krieg entflohen waren, treffen könnten. Wenn dann in der Nacht der letzte Gast gegangen und alles aufgeräumt wäre, würden sie zu dritt inmitten des leeren Raumes müde beieinander sitzen, Tee trinken und dem günstigen Schicksal danken.
Nach diesen Worten wurde Babi still. Auch Laila sagte nichts. Beide wussten, dass für Mami eine Ausreise nie und nimmer in Betracht kam. Selbst wenn Ahmad und Noor noch lebten, hätte sie eine solche Möglichkeit strikt abgelehnt. Jetzt auszuwandern wäre für sie wie ein Betrug, ein Verrat an ihren Söhnen, die als shaheed den Opfertod gestorben waren.
Wie kannst du so etwas nur denken?, hörte Laila ihre Mutter im Geiste sagen. Bedeutet dir ihr Tod denn gar nichts, Vetter? Mein einziger Trost ist es, zu wissen, dass sie nicht umsonst ihr Blut vergossen haben für dieses Land, in dem ich lebe. Nein. Niemals.
Und Laila wusste, Babi würde sie nie im Stich lassen, obwohl sie ihm so wenig Frau war wie ihr eine Mutter. Sie würden also bleiben, egal, wie lange der Krieg noch dauerte, und egal, was danach käme.
Laila erinnerte sich an einen Streit zwischen ihren Eltern, in dessen Verlauf Babi von Mami als Mann ohne Überzeugungen gescholten wurde. Wenn sie aber einmal in den Spiegel blickte, würde ihr, so dachte Laila, eine unverrückbare Überzeugung seines Lebens entgegenblicken.
Später aßen sie gekochte Eier, Kartoffeln und Brot zu Mittag. Danach legte sich Tarik zum Schlafen unter einen Baum am Ufer eines plätschernden Baches, den Kopf auf seinen zusammengerollten Mantel gebettet und die Hände über dem Bauch gefaltet. Der Chauffeur ging in den Ort, um Mandeln zu kaufen. Babi setzte sich an den Stamm einer großen Akazie und schlug ein Buch auf. Laila kannte das Buch; er hatte ihr schon daraus vorgelesen. Es erzählte die Geschichte eines alten Fischers namens Santiago, der einen mächtigen Fisch an der Angel hat, von dem aber, als der Fischer sein Boot endlich in Sicherheit bringen kann, nur das Skelett übrig geblieben ist, weil er von Haien zerrissen worden war.
Laila setzte sich ans Ufer und tauchte die Füße ins kühle Wasser. Mücken schwirrten umher, und die Luft war voller Pappelsamen. Eine Libelle schnurrte vorbei. Laila sah sie von Grashalm zu Grashalm fliegen und die Sonne auf ihren Flügeln glitzern, violett, grün und gelbrot. Auf der anderen Seite des Baches sammelten Hazara-Jungen getrocknete Kuhfladen vom Boden auf, die sie in Säcke stopften und auf dem Rücken davontrugen. Irgendwo schrie ein Esel. Ein Stromgenerator fing zu knattern an.
Laila dachte an Babis Traum. Irgendwo am Meer.
Oben auf dem Buddha hatte sie ihm gegenüber eines unerwähnt gelassen: dass es ihr nämlich in einer wichtigen Hinsicht durchaus recht wäre, wenn aus diesem Traum nichts werden sollte. Sie würde Giti und ihre verkniffene Ernsthaftigkeit vermissen, ja sogar auch Hasina mit ihrem schrillen Lachen und den unbekümmerten Albereien. Vor allem aber erinnerte sich Laila noch allzu gut an die unerträglichen vier Wochen ohne Tarik, als er in Ghazni gewesen war, wie zäh sich die Zeit hingezogen und sie nichts mit sich anzufangen gewusst hatte. Sie mochte sich nicht vorstellen, auf Dauer von ihm getrennt zu sein.
Vielleicht war es töricht, an einem anderen so sehr festhalten zu wollen, hier, in diesem Land, dem die eigenen Brüder zum Opfer gefallen waren. Doch allein das Bild, wie Tarik mit seiner Prothese auf Khadim losgegangen war, reichte aus, um sie davon zu überzeugen, dass es für sie auf der Welt das einzig Vernünftige war.
Sechs Monate später, im April 1988, kam Babi mit großen Neuigkeiten nach Hause.
»Sie haben ein Abkommen unterzeichnet«, sagte er. »In Genf. Damit steht es jetzt fest. Sie werden abziehen. In spätestens neun Monaten wird kein Sowjet mehr in Afghanistan sein.«
Mami richtete sich in ihrem Bett auf. Sie zuckte mit den Achseln.
»Aber die Kommunisten regieren weiter«, entgegnete sie. »Nadschibullah ist eine Marionette der Sowjets. Er bleibt. Und der Krieg geht weiter. Das ist noch längst nicht das Ende.«
»Nadschibullah wird sich nicht halten können«, sagte Babi.
»Sie ziehen ab, Mami! Sie ziehen tatsächlich ab.«
»Ihr zwei könnt ja feiern, wenn ihr wollt. Ich für mein Teil bin erst dann zufrieden, wenn die Mudschaheddin triumphierend in Kabul einziehen.«
Und damit legte sie sich wieder hin und zog die Decke unters Kinn.