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»Am schlimmsten finde ich das Pfeifen«, sagte Laila zu Tarik, »dieses verdammte Pfeifen.«

Tarik nickte zustimmend.

Später dachte Laila, dass es nicht so sehr das Pfeifen als solches war als vielmehr die Sekunden bis zum Aufprall. Die kurze unbestimmte Zeitspanne in der Schwebe. Nicht das Wissen, sondern das Warten. Wie für den Angeklagten vor Gericht der Augenblick unmittelbar vor dem Urteilsspruch.

Es war häufig zur Abendzeit, wenn sie und Babi zu Tisch saßen. Wenn es einsetzte, schreckten sie auf. Wie gebannt lauschten sie dem Pfeifen, die Gabeln in der Luft, die Kaubewegungen angehalten. Laila beobachtete ihre schwach beleuchteten Gesichter im Spiegel der schwarzen Fensterscheibe, die reglosen Schatten an der Wand. Das Pfeifen. Dann die Detonation, glücklicherweise irgendwo anders, da, wo mit Geschrei und unter erstickenden Rauchwolken jetzt wahrscheinlich bloße Hände in Trümmern wühlten und zu bergen versuchten, was von einer Schwester, einem Bruder, einem Enkelkind übrig geblieben war.

Doch verschont geblieben zu sein ersparte einem nicht die quälende Frage, wen es getroffen haben mochte. Nach jedem Raketeneinschlag rannte Laila nach draußen und stammelte ein Gebet, um die schreckliche Vorstellung abzuwehren, dass man diesmal Tarik unter rauchenden Trümmern begraben finden würde.

Nachts sah Laila, im Bett liegend, weiße Blitze im Fenster aufzucken. Sie hörte das Rattern automatischer Gewehre und zählte das Kreischen von Raketen, während das Haus bebte und Verputz von der Decke herabregnete. Manchmal, wenn der Feuerschein der Raketen so hell war, dass man ein Buch hätte lesen können, war an Schlaf nicht zu denken. Wenn sie aber schlief, träumte Laila von abgerissenen Gliedmaßen, Feuersbrünsten und dem Schreien Verwundeter.

Der Morgen brachte keine Erleichterung. Wenn der Muezzin zum namaz rief, legten die Mudschaheddin ihre Waffen nieder und wandten sich gen Westen zum Gebet. Danach aber wurden die Teppiche sofort wieder eingerollt, die Gewehre geladen und das Feuer von den Bergen über Kabul neu eröffnet. Laila und alle anderen Städter waren ohnmächtige Zeugen der Gefechte, hilflos wie der alte Santiago, der mit ansehen musste, wie die Haie seinen großen Fang zerfleischten.

Überall traf Laila auf Massouds Männer. Sie sah sie durch die Straßen ziehen, Autos anhalten und deren Insassen verhören. In ihren Kampfanzügen und dem unverzichtbaren pakol auf dem Kopf saßen sie rauchend auf Panzern oder beobachteten an Straßenkreuzungen, hinter Sandsäcken verbarrikadiert, die Passanten.

Laila wagte sich nur selten ins Freie. Wenn sie es tat, wurde sie immer von Tarik begleitet, dem diese ritterliche Pflicht zu gefallen schien.

»Ich habe mir eine Pistole gekauft«, sagte er eines Tages. Sie hockten unter dem Birnbaum in Lailas Hof. Er zeigte ihr die Waffe. Es sei eine halbautomatische, sagte er, eine Beretta. Für Laila war sie nur ein schwarzes, tödliches Ding.

»So etwas macht mir Angst«, sagte sie.

Tarik hantierte mit dem Magazin herum.

»Letzte Woche sind in einem Haus in Karteh-Seh drei Leichen gefunden worden«, berichtete er. »Hast du davon gehört? Schwestern. Vergewaltigt alle drei. Mit aufgeschlitzten Kehlen. Jemand hat ihnen die Ringe von den Fingern gebissen. Das war an den Spuren zu erkennen, die eindeutig von Zähnen …«

»Davon will ich nichts hören.«

»Ich wollte dich nicht aufregen«, sagte Tarik. »Aber ich … Mit dem Ding fühle ich mich sicherer.«

Er war jetzt ihr Informant. Er schnappte auf, was in den Straßen gesprochen wurde, und gab es weiter an sie. So erfuhr sie auch, dass sich in den Bergen Milizionäre verschanzt hatten, die auf ihre Treffsicherheit Wetten setzten und wahllos auf Zivilisten schossen, auf Männer, Frauen und Kinder. Er sagte, dass sie Raketen auf Autos abfeuerten, Taxis aber aus irgendwelchen Gründen verschonten – was erklärte, warum sich in letzter Zeit viele beeilten, ihre Autos gelb zu lackieren.

Innerhalb von Kabul, so berichtete Tarik, würden sich immer wieder Grenzen und Zonen verschieben. Ihre Straße zum Beispiel gehöre bis zur zweiten Akazie auf der linken Seite dem einen Warlord und die nächsten vier Blocks, die bis zur Bäckerei neben der zerstörten Apotheke reichten, einem anderen. Wenn man von hier aus achthundert Meter nach Westen gehe, sei man im Territorium eines dritten Warlords und dessen Scharfschützen ausgeliefert. So also wurden jetzt Mamis Helden genannt, dachte Laila. Warlords. Oder auch tofangdar, Jäger. Manche bezeichneten sie nach wie vor als Mudschaheddin, wobei sie allerdings eine verächtliche Miene aufsetzten und das Wort wie eine Beleidigung aussprachen.

Tarik ließ das Magazin einschnappen.

»Hättest du das Zeug dazu?«, fragte Laila.

»Wozu?«

»Abzudrücken. Jemanden zu töten.«

Tarik steckte die Waffe hinter den Bund seiner Jeans. Und dann sagte er etwas, das schön und schrecklich zugleich war. »Für dich würde ich’s tun, Laila.«

Er rückte näher an sie heran. Ihre Hände berührten sich, dann noch einmal. Als er vorsichtig versuchte, seine Finger mit ihren zu verschränken, ließ es Laila zu. Und als er sich plötzlich über sie beugte und ihr seine Lippen auf den Mund drückte, war sie auch damit einverstanden.

In diesem Moment hatte das, was Mami über den guten Ruf und Beos sagte, für Laila keine Bedeutung. Ja, es erschien ihr geradezu absurd. Denn in Anbetracht der schrecklichen Gewalttaten und Verwüstungen ringsum war es doch wahrhaftig harmlos, hier unter einem Baum zu sitzen und Tarik zu küssen. Eine durchaus verzeihliche Nachgiebigkeit. Also ließ sie sich küssen, und als er seinen Mund von ihrem löste, beugte sie sich mit pochendem Herzen und heißen Lippen vor, um ihn zu küssen.

Im Juni desselben Jahres, 1992, kam es im Westen Kabuls zu schweren Kämpfen zwischen Sayyafs paschtunischen Truppen und den Hazaras der Wahdat-Fraktion. Granaten rissen Strommasten um und pulverisierten Geschäfts- und Wohnblocks. Laila hörte, dass Milizionäre der Paschtunen in Häuser der Hazaras eindrangen und ganze Familien auslöschten. Die Hazaras übten Vergeltung; sie entführten paschtunische Zivilisten, vergewaltigten paschtunische Mädchen, nahmen paschtunische Nachbarschaften unter Mörserbeschuss und mordeten blindwütig. Tagtäglich fand man Tote, an Bäume gebunden, manche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Vielen waren die Augen ausgestochen und die Zunge herausgeschnitten worden.

Babi versuchte zum wiederholten Mal, Mami davon zu überzeugen, dass es besser sei, Kabul zu verlassen

»Sie werden’s schon richten«, sagte Mami. »Die Kämpfe sind bald zu Ende. Dann setzen sich alle an einen Tisch und verhandeln.«

»Fariba, diese Leute kennen nur eins, und das ist Krieg«, entgegnete Babi. »Schon beim Laufenlernen hatten sie in der einen Hand eine Milchflasche und in der anderen eine Waffe.«

»Du meinst, du kannst dir ein Urteil erlauben?«, blaffte Mami. »Hast du am Dschihad teilgenommen? Hast du alles aufgegeben und dein Leben riskiert? Wenn es die Mudschaheddin nicht gäbe, wären wir immer noch Sklaven der Sowjets. Du willst doch nicht etwa, dass wir sie verraten.«

»Wir sind es nicht, die des Verrats schuldig sind, Fariba.«

»Dann geh doch. Nimm deine Tochter und mach dich aus dem Staub. Schick mir eine Postkarte. Ich jedenfalls werde bleiben und darauf warten, dass Frieden einkehrt.«

Babi stürmte aus ihrem Zimmer.

In den Straßen war es so gefährlich, dass er einen für ihn besonders bitteren Entschluss gefasst und Laila aus der Schule genommen hatte.

Er gab ihr nun selbst Unterricht. Jeden Tag nach Sonnenuntergang kam Laila zu ihm ins Arbeitszimmer, und während im Süden der Stadt Hekmatyar seine Raketen auf Massoud abfeuerte, beschäftigten sich Babi und Laila mit Hafis’ Gaselen und den Werken des großen afghanischen Dichters Ustad Khalilullah Khalili. Babi brachte ihr bei, quadratische Gleichungen abzuleiten, Polynomfunktionen auszudrücken und Kurvenparameter zu bestimmen. Wenn er unterrichtete, war Babi immer wie verwandelt. Inmitten seiner Bücher wirkte er auf Laila um einiges größer. Seine Stimme klang fester, und er blinzelte nicht annähernd so häufig wie sonst. Laila stellte sich ihn vor, wie er früher mit weit ausholenden Bewegungen die Wandtafel saubergewischt oder seinen Schülern väterlich und aufmerksam über die Schulter geschaut hatte.

Es fiel Laila jedoch schwer, seinem Unterricht zu folgen. Sie war immer wieder abgelenkt.

»Wie berechnet man das Volumen einer Pyramide?«, fragte Babi, doch Laila dachte an Tariks volle Lippen, an seinen heißen Atem und ihr Spiegelbild in seinen haselnussbraunen Augen. Nach der Begegnung unter dem Baum hatten sie sich zwei weitere Male geküsst, länger und inniger und, wie sie fand, weniger ungeschickt. Beide Male waren sie heimlich in der engen Gasse zusammengekommen, wo er am Tag von Mamis Party eine Zigarette geraucht hatte. Beim zweiten Mal hatte sie es zugelassen, dass er ihre Brust berührte.

»Laila?«

»Ja, Babi.«

»Das Volumen einer Pyramide. Wo bist du?«

»Entschuldige. Ich war … ehm … Pyramide. Das Volumen ist ein Drittel der Grundfläche mal Höhe.«

Babi nickte und betrachtete sie mit kritischem Blick. Laila dachte daran, wie ihr Tarik mit der Hand über den Rücken fuhr, während sie sich küssten und küssten.

Es war immer noch Juni, als Giti und zwei Klassenkameradinnen auf dem Heimweg von der Schule, nur drei Straßenecken von Gitis Zuhause entfernt, von einer Rakete getroffen wurden. Am Abend erfuhr Laila, dass Gitis Mutter Nila, nachdem sie die schreckliche Nachricht erhalten hatte, an der Unglücksstelle hysterisch schreiend umhergeirrt war und Teile ihrer Tochter in der Schürze eingesammelt hatte. Zwei Wochen später wurde ihr rechter Fuß, der noch in Strumpf und Schuh steckte und schon in Verwesung übergegangen war, auf dem Dach eines der umstehenden Häuser gefunden.

Bei Gitis fatiha tags darauf saß Laila wie benommen in einem Raum voll weinender Frauen. Sie erlebte zum ersten Mal, dass diesem Krieg ein Mensch zum Opfer gefallen war, den sie liebte. Sie konnte nicht begreifen, dass Giti nicht mehr lebte, ihre Freundin, die ihr im Klassenzimmer heimlich Briefchen zugesteckt, sich die Fingernägel poliert und mit einer Pinzette die Augenbrauen gezupft hatte. Giti, die den Torwart Sabir hatte heiraten wollen, war tot. Tot. In Stücke zerrissen.

Laila weinte um sie. Und all die Tränen, die während der Trauerfeier für ihre Brüder ausgeblieben waren, vergoss sie jetzt.