36

Laila

An diesem Frühlingsmorgen 1994, als sich das Tageslicht allmählich gegen die Dunkelheit am Himmel durchsetzte, war sich Laila fast sicher, dass Raschid eine Vorahnung haben könnte. Dass er sie jeden Moment aus dem Bett reißen und fragen würde, ob sie ihn tatsächlich für einen khar, einen Esel, halte, der sich auf Dauer täuschen ließe. Doch dann wurde zum athan gerufen, die Morgensonne fiel schräg über die flachen Dächer, die Hähne schrien, und das, was sie befürchtete, blieb aus.

Sie hörte Raschid, wie er im Badezimmer seinen Rasierer am Schüsselrand abklopfte, nach unten ging und den Teekessel aufsetzte. Die Schlüssel klirrten. Jetzt durchquerte er den Hof und ging auf sein Fahrrad zu.

Am Wohnzimmerfenster spähte Laila durch einen Schlitz zwischen den Vorhängen nach draußen. Sie sah ihn davonradeln, einen dicken Mann auf kleinem Fahrrad. Das Sonnenlicht blinkte auf der Lenkstange.

»Laila?«

Mariam stand in der Tür. Ihr war anzusehen, dass auch sie nicht geschlafen hatte. Wahrscheinlich, so dachte Laila, war auch sie die ganze Nacht über von Euphorie und Attacken lähmender Angst hin und her gerissen worden.

»In einer halben Stunde brechen wir auf«, sagte Laila.

Im Taxi sprachen sie miteinander kein Wort. Aziza saß auf Mariams Schoß; sie hielt ihre Puppe in den Händen und bestaunte mit großen Augen die vor den Scheiben vorbeifliegende Stadt.

»Ona!«, rief sie und zeigte auf eine Gruppe seilspringender Mädchen. »Mayam! Ona

Überall glaubte Laila Raschid zu sehen, vor dem rußgeschwärzten Fenster eines Friseurladens, bei einem Händler, der Hühner verkaufte, oder in einem zur Straße hin offenen Geschäft, in dem sich alte Autoreifen bis zur Decke stapelten.

Sie rutschte tiefer in ihren Sitz.

Mariam murmelte ein Gebet. Laila hätte ihr gern ins Gesicht gesehen, doch Mariam trug – wie sie selbst – eine Burka, in deren Ausschnitt nur das Glitzern ihrer Augen zu erkennen war.

Laila war seit Wochen das erste Mal außer Haus, abgesehen von dem kurzen Besuch beim Pfandverleiher am Tag zuvor, wo sie im Vollgefühl der Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit ihrer Entscheidung den Ehering über die gläserne Ladentheke geschoben hatte.

Ringsum bekam Laila nun die Folgen der jüngsten Kämpfe zu Gesicht, Schutthalden aus Lehm und Ziegeln, Ruinen mit zerbrochenem Gebälk, ausgebrannte Fahrzeugwracks, umgestürzt oder aufeinanderliegend, von großkalibrigen Schusslöchern verwüstete Mauern und überall Glasscherben. Sie sah einen Trauerzug auf eine Moschee zustreben, ganz zum Schluss eine in Schwarz gekleidete alte Frau, die sich an den Haaren zerrte. Sie passierten einen Friedhof voll frischer Gräber und zerrissenen shaheed-Fahnen, die im Wind flatterten.

Laila griff über den Koffer und schloss die Hand um den weichen Arm ihrer Tochter.

Vor der Busstation am Lahore-Tor im Osten Kabuls parkte eine Schlange von Bussen am Straßenrand der Pul-e-Mahmood Khan. Männer in Turbanen hievten Bündel, Pakete und Koffer auf die Dächer der Busse und sicherten sie mit Seilen ab. In der Station drängten sich Reisende vor dem einzigen Fahrkartenschalter. Gruppen von Frauen, in Burkas verhüllt, standen zwischen Bergen von Gepäck und plauderten miteinander. Säuglinge wurden geschaukelt, streunende Kinder zurückgerufen.

Milizionäre der Mudschaheddin patrouillierten in der Station und auf dem Vorplatz. Die knappen Befehle, die sie ausstießen, klangen wie Gebell. Sie trugen Stiefel, pakols und staubgrüne Kampfanzüge. Alle waren mit Kalaschnikows bewaffnet.

Laila fühlte sich beobachtet. Ihr war, als sei sie allen an diesem Ort bekannt, als missbillige jeder, der sie sah, das, was sie und Mariam taten.

»Hast du schon jemanden entdeckt?«, fragte Laila.

»Ich suche noch«, antwortete Mariam und wechselte Aziza von einem Arm auf den anderen.

Dies – und das hatte Laila von Anfang an gewusst – war die erste Schwierigkeit ihres gewagten Unternehmens: einen Begleiter zu finden, der die Rolle eines Familienmitgliedes zu spielen bereit war. Die Freiheiten und Möglichkeiten, die Frauen zwischen den Jahren 1978 und 1992 genossen hatten, gehörten nun der Vergangenheit an. Laila dachte an Babis Worte über die kommunistische Regierung: Es ist wahr, für afghanische Frauen sind gute Zeiten angebrochen, Laila. Seit der Machtergreifung der Mudschaheddin im April 1992 jedoch lautete der offizielle Name ihres Heimatlandes »Islamischer Staat Afghanistan«. Der oberste Gerichtshof unter Rabbani bestand nun mehrheitlich aus rückwärtsgewandten Mullahs, die die von den Kommunisten eingeführten Freiheitsrechte für Frauen rückgängig gemacht und stattdessen Gesetze auf Grundlage der Scharia eingeführt hatten, jener strengen islamischen Rechtssprechung, die unter anderem Frauen dazu verpflichtete, sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Außerdem wurde ihnen untersagt, ohne einen männlichen Angehörigen zu verreisen. Noch wurde auf die Einhaltung dieser Gesetze nur wenig geachtet. »Aber wenn sie einmal nicht mehr so sehr damit beschäftigt sind, sich gegenseitig totzuschießen«, hatte Laila zu Mariam gesagt, »dann werden sie die Gesetze mit Eifer durchsetzen.«

Weitere Schwierigkeiten erwarteten sie bei der Ankunft in Pakistan. Im Januar dieses Jahres hatte Pakistan, das bereits mit fast anderthalb Millionen afghanischen Flüchtlingen überfordert war, die Grenzen nach Afghanistan geschlossen. Laila hatte erfahren, dass nur Inhaber eines gültigen Visums durchgelassen wurden. Allerdings war die Grenze immer schon sehr porös gewesen, und Laila wusste, dass nach wie vor Tausende von Afghanen ins Nachbarland flohen, entweder mithilfe von Schmiergeldern oder dem Nachweis humanitärer Gründe. Außerdem gab es genügend Schlepper, die man anheuern konnte. »Wir werden einen Weg finden, wenn es so weit ist«, hatte sie Mariam versprochen.

»Wie wär’s mit dem?«, fragte Mariam jetzt und deutete mit einer Kinnbewegung auf einen Kandidaten.

»Dem traue ich nicht.«

»Und der da?«

»Zu alt. Und außerdem in Begleitung zweier anderer Männer.«

Schließlich fiel Lailas Blick auf einen bärtigen Mann, der neben einer verschleierten Frau auf einer Bank saß. Er war groß und schlank, trug ein Hemd mit offenem Kragen und einen schlichten grauen Mantel, an dem mehrere Knöpfe fehlten. Auf seinem Schoß hockte ein kleiner Junge in Azizas Alter.

»Warte hier«, sagte Laila. Im Weggehen hörte sie Mariam wieder ein Gebet murmeln.

Als sie auf den jungen Mann zuging, blickte er auf und legte die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen.

»Entschuldigen Sie, Bruder, aber darf ich fragen, ob Sie nach Peschawar fahren?«

»Ja«, antwortete er blinzelnd.

»Könnten Sie uns vielleicht einen Gefallen tun?«

Er reichte seiner Frau den Jungen und trat mit Laila ein paar Schritte beiseite.

»Worum geht’s denn, hamshira

Er hatte ein freundliches Gesicht und sanfte Augen, die Laila Mut machten.

Und so erzählte sie ihm die Geschichte, auf die sie sich mit Mariam verständigt hatte. Sie sei eine biwa, eine Witwe, sagte sie, und wolle mit Mutter und Tochter Kabul verlassen, um in Peschawar zu ihrem Onkel zu ziehen.

»Ihr wollt euch mir und meiner Familie anschließen«, sagte der junge Mann.

»Ich weiß, es ist zahmat. Aber mir scheint, Sie sind ein anständiger Bruder, und ich …«

»Keine Sorge, hamshira. Ich verstehe. Kein Problem. Dann will ich mal Karten für euch kaufen.«

»Danke, Bruder. Das ist sawab, eine gute Tat. Gott wird’s vergelten.«

Sie zog einen Umschlag unter ihrer Burka hervor. Er enthielt elfhundert Afghanis, ungefähr die Hälfte des Geldes, das sie in einem Jahr beiseitegelegt hatte. Der junge Mann steckte den Umschlag in seine Hosentasche.

»Warte hier.«

Sie sah ihn in der Station verschwinden. Eine halbe Stunde später kehrte er zurück.

»Es ist besser, wenn ich die Fahrkarten behalte. Der Bus fährt in einer Stunde, gegen elf. Wir steigen dann gemeinsam ein. Mein Name ist Wakil. Wenn es Fragen geben sollte, was ich aber nicht glaube, werde ich sagen, dass du meine Cousine bist.«

Laila nannte ihm ihren Namen und die von Mariam und Aziza. Er werde sie sich merken, sagte er.

»Und haltet euch in unserer Nähe auf«, fügte er hinzu.

Sie nahmen auf der Bank neben Wakil und seiner Familie Platz. Es war ein sonniger, warmer Morgen. Nur über den Bergen in der Ferne schwebten ein paar fedrige Wolken. Mariam gab Aziza einen der Kekse zu essen, an die sie in der Hektik des Aufbruchs zum Glück noch gedacht hatte. Sie bot auch Laila einen an.

»Nein, danke«, sagte Laila lachend. »Den würde ich wohl nicht bei mir behalten können. Ich bin so aufgeregt.«

»Ich auch.«

»Danke, Mariam.«

»Wofür?«

»Dafür, dass du mit uns kommst«, antwortete Laila. »Allein würd ich’s wahrscheinlich nicht schaffen.«

»Das musst du auch nicht.«

»Es wird doch alles gut werden, Mariam, da, wo wir hinfahren, oder?«

Mariam streckte den Arm aus und ergriff ihre Hände. »Im Koran heißt es: Und Allah ist der Osten und der Westen, wohin ihr euch auch wendet, folgt ihr Seinem Ratschluss.«

»Bov!«, rief Aziza und zeigte auf einen Bus. »Mayam, bov

»Ja, Aziza jo«, sagte Mariam. »Ganz recht, ein bov. Bald werden wir selbst in einem bov fahren. Oh, und was du dann alles zu sehen bekommst.«

Laila lächelte. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen Tischler in seiner offenen Werkstatt bei der Arbeit; er hobelte und ließ Späne fliegen. Autos rollten vorbei, die Fenster voller Ruß und Dreck. Sie betrachtete die am Straßenrand parkenden Busse mit ihren an den Seiten aufgemalten Pfauen, Löwen, aufgehenden Sonnen und glitzernden Schwertern.

In der warmen Morgensonne fühlte sich Laila wie berauscht und voller Überschwang. Als ein streunender gelbäugiger Hund vorbeihinkte, beugte sie sich vor und tätschelte ihm den Rücken.

Wenige Minuten vor elf rief ein Mann mit Megafon alle Reisenden nach Peschawar auf, den Bus zu besteigen. Zischend öffneten sich die hydraulischen Türen des Busses. Die Passagiere eilten herbei und drängten.

Wakil gab Laila einen Wink und nahm seinen Sohn auf den Arm.

»Auf geht’s«, sagte Laila.

Wakil ging voraus. Als sie sich dem Bus näherten, sah Laila Gesichter hinter den Fenstern auftauchen, Nasen und Handflächen an die Glasscheiben gepresst. Ein vielstimmiger Chor wünschte lautstark eine gute Reise.

Ein junger Soldat der Miliz kontrollierte die Fahrkarten.

»Bov!«, rief Aziza.

Wakil reichte dem Soldaten die Fahrkarten, der sie in der Mitte durchriss und zurückgab. Wakil half seiner Frau beim Einsteigen. Laila sah, wie er mit dem Soldaten Blicke tauschte. In der Bustür stehend, beugte sich Wakil vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Soldat nickte.

Laila stockte der Atem.

»Ihr zwei da mit dem Kind, zur Seite treten«, sagte der Soldat.

Laila achtete nicht auf ihn und schickte sich an, den Bus zu besteigen. Doch er packte sie bei der Schulter und zerrte sie zurück. »Du auch«, rief er in Richtung Mariam. »Beeilung. Ihr haltet die anderen auf.«

»Wo ist das Problem, Bruder?«, fragte Laila. Sie war wie betäubt. »Wir haben Fahrkarten. Hat mein Cousin sie nicht gezeigt?«

Er winkte mit der Hand ab und rief einen anderen Uniformierten hinzu, dem er etwas zuflüsterte. Der zweite, ein rundlicher Mann mit schläfrigen grünen Augen und einer Narbe auf der rechten Wange, nickte.

»Folgt mir«, sagte er.

»Wir müssen in den Bus«, rief Laila. Sie spürte, wie sich ihre Stimme überschlug. »Wir haben Fahrkarten. Warum tun Sie das?«

»Du wirst diesen Bus nicht besteigen. Vielleicht akzeptierst du das. Du begleitest mich jetzt. Oder willst du, dass ich dir dein Mädchen wegnehme?«

Als sie zu einem Lastwagen geführt wurde, warf Laila einen Blick über die Schulter zurück und sah Wakils Jungen hinter der Heckscheibe des Busses. Er winkte ihnen fröhlich zu.

Auf der Polizeistation am Torabaz-Khan-Platz mussten sie in einem langen Korridor getrennt voneinander Platz nehmen. Zwischen ihnen saß hinter einem Schreibpult ein Mann, der eine Zigarette nach der anderen rauchte und ab und zu auf einer Schreibmaschine herumtippte. Sie warteten über drei Stunden. Aziza trippelte zwischen Laila und Mariam hin und her. Sie spielte mit einer Heftklammer, die ihr der Mann am Pult gegeben hatte, aß die restlichen Kekse und schlief schließlich auf Mariams Schoß ein.

Gegen drei Uhr wurde Laila in ein Verhörzimmer geführt. Mariam und Aziza mussten im Korridor zurückbleiben.

Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches war Mitte dreißig und trug Zivil: einen schwarzen Anzug, Krawatte und schwarze Halbschuhe. Er hatte einen sorgfältig gestutzten Bart, kurze Haare und Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren. Er starrte Laila an und klopfte mit dem Radiergummiende eines Bleistifts auf die Schreibtischplatte.

»Wir wissen«, hob er an und räusperte sich, wobei er diskret die geschlossene Hand vor den Mund führte, »dass du heute schon einmal gelogen hast, hamshira. Der junge Mann vom Busbahnhof ist nicht dein Cousin. Das hat er uns selbst gesagt. Jetzt stellt sich die Frage, ob du dieser Lüge weitere hinzuzufügen gedenkst oder nicht. Ich persönlich rate dir davon ab.«

»Wir wollten zu meinem Onkel«, sagte Laila. »Das ist die Wahrheit.«

Der Polizeibeamte nickte. »Die hamshira im Korridor ist deine Mutter?«

»Ja.«

»Sie hat einen Herati-Akzent. Du nicht.«

»Sie ist in Herat aufgewachsen; ich bin in Kabul zur Welt gekommen.«

»Natürlich. Du bist also verwitwet. Das sagtest du doch, oder? Mein Beileid. Und dieser Onkel, dein kaka, wo lebt er?«

»In Peschawar.«

»Ach ja.« Er leckte an der Spitze des Bleistifts und hielt ihn über einem unbeschriebenen Blatt Papier in der Luft. »Wo genau in Peschawar? In welchem Stadtteil? Straßenname, Bezirksnummer.«

Laila spürte Panik in der Brust aufkeimen und versuchte dagegen anzukämpfen. Sie kannte nur eine einzige Straße in Peschawar und nannte ihren Namen – er war damals auf der Party gefallen, die Mami gegeben hatte, als die Mudschaheddin in Kabul eingezogen waren. »Jamrud Road.«

»Ah, die Straße, an der auch das Pearl Continental Hotel liegt. Das hat er bestimmt erwähnt, nicht wahr?«

Laila griff den Hinweis auf und bejahte seine Frage. »Ja, genau dort.«

»Das Hotel liegt allerdings an der Khyber Road.«

Laila konnte Aziza im Korridor schreien hören. »Meine Tochter hat Angst. Dürfte ich sie holen, Bruder?«

»Für dich bin ich Sergeant. Du wirst gleich bei ihr sein. Hast du die Telefonnummer deines Onkels?«

»Ja. Ich hatte sie. Sie ist …« Trotz der Burka war Laila vor seinen durchdringenden Blicken nicht geschützt. »Tut mir leid, ich muss sie verloren haben.«

Er seufzte durch die Nase und fragte nach dem Namen des Onkels, dem Namen seiner Frau. Wie viele Kinder er habe und wie diese hießen. Wo er arbeite. Wie alt er sei. Seine Fragen schüchterten Laila ein.

Er legte den Bleistift ab, faltete die Hände und beugte sich vor wie ein Vater, der seiner kleinen Tochter etwas beizubringen versuchte. »Ist dir klar, hamshira, dass eine Frau ihrem Mann nicht ungestraft weglaufen darf? Solche Fälle häufen sich. Ich habe oft mit Frauen zu tun, die allein reisen und behaupten, verwitwet zu sein. Bei manchen stimmt’s, bei den meisten aber nicht. Ich vermute, du weißt, dass Frauen, die Reißaus zu nehmen versuchen, ins Gefängnis gesteckt werden, nay

»Lassen Sie uns gehen, Sergeant …«, sie las seinen Namen von der Marke ab, die an seinem Revers steckte, »Sergeant Rahman. Machen Sie Ihrem Namen Ehre und zeigen Sie Mitleid. Was wäre schon dabei, zwei Frauen laufen zu lassen? Sie riskieren doch nichts. Wir sind keine Kriminellen.«

»Ausgeschlossen.«

»Ich flehe Sie an.«

»Es geht um qanoon, hamshira, um eine Sache des Rechts«, sagte Rahman mit feierlicher, gewichtiger Betonung. »Meine Pflicht besteht darin, für Ordnung zu sorgen.«

Trotz ihrer Verzweiflung hätte Laila fast laut aufgelacht. Die Verwendung dieses Wortes erschien ihr absurd angesichts der brutalen Kämpfe zwischen den Mudschaheddin, der Mordtaten, Plünderungen, Vergewaltigungen und Folter, der Hinrichtungen, Bombenanschläge und Artilleriegefechte, die sie sich lieferten, ohne Rücksicht auf unschuldige Zivilisten zu nehmen, die in ihrem Kreuzfeuer zu Schaden kamen. Ordnung. Sie biss sich auf die Zunge.

»Kaum auszudenken«, sagte sie mit schleppender Stimme, »was er uns antun wird, wenn Sie uns zurückschicken.«

Es machte ihm sichtlich Mühe, ihrem Blick standzuhalten. »Was ein Mann in seinem Haus für richtig hält, ist allein seine Sache.«

»Und wo bleibt dort das Recht, Sergeant Rahman?« Tränen der Wut traten ihr in die Augen. »Werden Sie zur Stelle sein, um für Ordnung zu sorgen?«

»Wir mischen uns prinzipiell nicht in familiäre Angelegenheiten ein, hamshira

»Natürlich nicht. Solange es dem Herrn des Hauses nützt. Und ist nicht auch unser Fall, wie Sie sagen, eine Familienangelegenheit? Ist es nicht so?«

Er stieß sich vom Schreibtisch ab, stand auf und strich sein Jackett glatt. »Unser Gespräch ist beendet. Ich muss sagen, du hast deine Sache sehr schlecht vertreten. Wirklich schlecht. Wenn du jetzt bitte draußen warten würdest, ich habe noch ein paar Fragen an deine – wer ist sie noch gleich? – zu richten.«

Laila protestierte und fing zu schreien an, worauf der Beamte zwei Männer ins Zimmer rief, die sie nach draußen zerrten.

Mariams Verhör dauerte nur wenige Minuten. Mit verzweifelter Miene kehrte sie in den Korridor zurück.

»Er hat so viele Fragen gestellt«, sagte sie. »Es tut mir leid, Laila jo. Ich bin nicht so gewandt wie du. Er hat so viele Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort wusste. Es tut mir leid.«

»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Mariam«, erwiderte Laila matt. »Es ist meine Schuld, alles meine Schuld.«

Es war kurz nach sechs, als der Polizeiwagen vor dem Haus anhielt. Laila und Mariam wurden aufgefordert, im Auto zu warten. Zwei Milizionäre der Mudschaheddin passten auf sie auf, während der Fahrer ausstieg, den Hof durchquerte und von Raschid an der Haustür empfangen wurde. Es war Raschid, der sie zu sich winkte.

»Willkommen zu Hause«, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz und zündete sich eine Zigarette an.

»Du wartest hier«, verlangte er von Mariam.

Mariam setzte sich auf die Couch und sagte kein Wort.

»Ihr zwei kommt mit mir nach oben.«

Raschid packte Laila beim Ellbogen und stieß sie die Treppe hinauf. Statt der Latschen, die er sonst immer im Haus anhatte, trug er noch seine Arbeitsschuhe. Auch den Mantel hatte er noch nicht abgelegt. Laila stellte sich vor, wie er soeben, von der Arbeit zurückgekehrt, durch das Haus gerannt sein mochte, von einem Zimmer zum anderen, Türen schlagend, fluchend und außer sich vor Wut.

Auf dem oberen Treppenabsatz angelangt, drehte sich Laila zu ihm um.

»Sie war dagegen«, sagte sie. »Ich habe sie dazu gedrängt. Sie wollte nicht gehen …«

Laila sah den Schlag nicht kommen. Plötzlich lag sie mit weit aufgerissenen Augen am Boden und rang nach Luft. Ihr war, als hätte sie ein Auto mit voller Wucht gerammt. Der Fausthieb war zwischen Brustbein und Bauchnabel aufgetroffen. Aziza lag schreiend neben ihr; sie hatte sie fallen lassen. Der Versuch, nach Luft zu schnappen, ergab nur ein ächzendes Würgen. Speichel tropfte ihr von den Lippen.

Dann spürte sie seine Pranke an ihren Haaren zerren. Sie sah, wie er Aziza vom Boden aufhob, die mit den Beinen strampelte und ihre Sandalen dabei verlor. Haare rissen aus der Kopfhaut. Der Schmerz trieb Laila das Wasser in die Augen. Sie sah, wie er mit dem Fuß die Tür zu Mariams Zimmer aufstieß und das Kind aufs Bett warf. Dann ließ er von ihren Haaren ab und versetzte ihr einen Fußtritt, der sie über die Schwelle warf und vor Schmerz laut aufbrüllen ließ. Er schlug die Tür zu. Ein Schlüssel klickte im Schloss.

Aziza schrie immer noch. Laila lag zusammengerollt am Boden und schnappte nach Luft. Sie stieß sich mit den Händen ab, kroch auf das Bett zu und streckte die Arme nach ihrer Tochter aus.

Unten wurde jetzt geprügelt. Den Geräuschen hörte Laila an, dass dort eine geradezu routinierte, fast methodische Strafaktion durchexerziert wurde. Es gab keine Schreie, kein Fluchen, kein Flehen, nur das dumpfe, rhythmische Schlagen eines festen Gegenstandes. Ein Körper prallte an die Wand, Kleider zerrissen. Zwischendurch waren Laufschritte zu hören, eine stumme Verfolgungsjagd, in deren Verlauf Möbel umstürzten und Glas zersprang. Und dann wieder das Schlagen.

Laila schloss Aziza in ihre Arme. Das Kleidchen war feucht. Die Kleine hatte eingenässt.

Nach lautem Gepolter und stampfenden Schritten waren jetzt unten wieder Schläge zu hören; es klang, als würde ein Stück Fleisch weichgeklopft.

Laila schaukelte Aziza, bis es unten still wurde. Als sie die Haustür auf- und zugehen hörte, setzte sie Aziza auf dem Boden ab und trat ans Fenster. Sie sah, wie Raschid Mariam am Kragen durch den Hof zerrte. Mariam war barfüßig und in der Hüfte eingeknickt. Seine Hände waren blutverschmiert, wie auch ihr Gesicht, die Haare, ihr Nacken und der Rücken. Ihr Hemd war vorn aufgerissen.

»Verzeih mir, Mariam«, hauchte Laila weinend an die Scheibe.

Sie sah, wie er Mariam in den Schuppen stieß. Er ging hinterher und tauchte wenig später mit einem Hammer und mehreren langen Holzbrettern wieder auf. Dann schloss er die Doppeltür des Schuppens, zog einen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Vorhängeschloss. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Tür verschlossen war, ging er auf die Rückseite des Schuppens und holte eine Leiter.

Minuten später tauchte sein Kopf vor Lailas Fenster auf. Im Mundwinkel steckten Nägel. Die Haare standen ihm wild vom Kopf ab. Auf der Stirn klebte Blut. Bei seinem Anblick schrie Aziza auf und verbarg ihr Gesicht in Lailas Armbeuge.

Raschid nagelte Bretter vor das Fenster.

Die Dunkelheit war vollkommen, undurchdringlich und ohne jede Kontur. Raschid hatte die Ritzen zwischen den Brettern abgedichtet und einen großen Gegenstand vor die Tür gestellt, so dass kein Licht durch den Spalt dringen konnte. Selbst das Schlüsselloch war verstopft.

Sichtbare Hinweise auf den Ablauf der Zeit gab es keine. Laila konnte sich nur auf ihr gesundes Ohr verlassen. Der athan und das Krähen der Hähne kündigten den frühen Morgen an. Abend war es, wenn in der Küche Geschirr klapperte und das Radio angestellt wurde.

Am ersten Tag suchten Laila und Aziza einander tastend und tappend. Laila sah nicht, wohin die Kleine kroch und wo sie steckte, wenn sie weinte.

»Aishee«, jammerte Aziza. »Aishee

»Bald.« Laila wollte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn drücken, landete aber mit den Lippen auf ihrem Haar. »Bald werden wir Milch haben. Gedulde dich noch ein Weilchen. Sei ein braves Mädchen, ich besorge dir aishee

Laila sang ihr Lieder vor.

Der Aufruf zum Gebet ertönte ein zweites Mal, doch Raschid hatte immer noch nichts zu essen gebracht und, schlimmer noch, auch nichts zu trinken. Am Tag wurde es unerträglich heiß. Das Zimmer verwandelte sich in einen trocken gekochten Dampfkessel. Laila fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und dachte an den Brunnen im Hof, an kaltes, frisches Wasser. Aziza weinte immerzu, und Laila stellte mit Schrecken fest, dass, wenn sie der Kleinen über die Wange fuhr, um die Tränen abzuwischen, ihre Hand trocken blieb. Sie zog ihr alle Kleider aus und suchte nach einem Gegenstand, der als Fächer dienen mochte, musste dann aber damit vorliebnehmen, ihrer Tochter Luft zuzublasen, bis ihr schwindlig wurde. Aziza bewegte sich bald kaum mehr und schlief die meiste Zeit.

Immer wieder pochte Laila mit den Fäusten gegen die Wände, erschöpfte letzte Kraftreserven, indem sie laut schreiend die Nachbarn zu alarmieren versuchte. Aber es kam niemand, und ihre Schreie verängstigten die Kleine nur, die wieder mit dünner, krächzender Stimme zu weinen anfing. Laila streckte sich auf dem Boden aus. Voller Schuldgefühle dachte sie an Mariam, die bei dieser Hitze, geschunden und blutend, im Werkzeugschuppen eingesperrt war.

Irgendwann schlief sie ein und träumte von einer Begegnung mit Tarik. Sie hatte Aziza bei sich und entdeckte ihn jenseits einer dicht bevölkerten Straße unter der Markise einer Schneiderei. Er hockte am Boden vor einer Kiste voller Feigen, von denen er eine probierte. »Das ist dein Vater«, sagte Laila, »der Mann dort hinten. Siehst du ihn? Er ist dein wirklicher Baba.« Sie rief seinen Namen, doch ihre Stimme ging im Lärm der Straße unter, und Tarik hörte sie nicht.

Das schrille Pfeifen von Raketen weckte sie auf. Irgendwo am Himmel, den sie nicht sah, loderte Feuerschein auf. Das hektische Rattern von Maschinengewehren war zu hören. Laila schloss die Augen. Sie wachte wieder auf, als Raschid durch den Flur stampfte, schleppte sich zur Tür und schlug mit der flachen Hand dagegen.

»Nur ein Glas Wasser, Raschid. Nicht für mich. Für sie. Du willst dich doch nicht an ihr versündigen.«

Er ging vorüber.

Sie flehte ihn an, bettelte um Vergebung, machte Versprechungen. Sie verfluchte ihn.

Die Tür zu seinem Zimmer fiel ins Schloss. Das Radio wurde eingeschaltet.

Der Muezzin rief zum dritten Mal den athan. Wieder diese Hitze. Aziza wurde schwächer und schwächer. Sie bewegte sich kaum noch und weinte auch nicht mehr.

Laila führte immer wieder ihr Ohr über den Mund der Kleinen und lauschte, jedes Mal voller Angst, sie könnte zu atmen aufhören. Sich aufzurichten machte sie schwindeln und war ihr bald zu viel. Sie schlief ein und hatte einen Traum, an den sie sich nach dem Erwachen nicht erinnern konnte. Sofort tastete sie mit der Hand nach Aziza, deren trockene Lippen aufgesprungen waren. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass ihr Puls an der Halsschlagader noch zu erfühlen war, legte sie sich wieder hin. Dass sie hier sterben würde, schien ihr nunmehr festzustehen, aber was sie noch mehr schreckte, war, dass sie ihre Tochter, die ja so viel schwächer war, überdauern würde. Wie lange mochte Aziza noch aushalten? Sie würde dieser Hitze bald erlegen sein und ihr kleiner Körper erstarren, während sie, ihre Mutter, auf den eigenen Tod wartete. Wieder schlief sie ein. Wachte auf. Schlief ein. Die Grenze zwischen Traum und wachem Bewusstsein verwischte.

Es war weder der athan noch ein krähender Hahn, der sie diesmal weckte, sondern das Geräusch eines schweren Gegenstandes, der vor der Tür zur Seite geschoben wurde. Sie hörte ein Klappern, und plötzlich flutete Licht ins Zimmer, das ihr in den Augen schmerzte. Laila hob den Kopf und schlug wimmernd eine Hand vor die Augen. Durch einen Spalt zwischen den Fingern sah sie eine große verschwommene Silhouette im gleißend hellen Ausschnitt der Tür. Der Schatten rückte näher. Dann beugte sich eine Gestalt über sie. Eine Stimme drang an ihr Ohr.

»Solltest du es noch mal versuchen, werde ich dich finden. Ich schwöre beim Namen des Propheten, dass ich dich finden werde. Und in diesem gottverdammten Land wird es keinen Richter geben, der mich dafür büßen ließe, was ich dann tun werde. Zuerst mit Mariam, dann mit ihr und zuletzt mit dir. Ich werde dich zwingen, dabei zuzusehen. Verstehst du mich? Du würdest es mit eigenen Augen sehen.«

Dann verließ er das Zimmer, nicht ohne ihr vorher noch einen Tritt in die Seite zu versetzen, der dazu führte, dass Laila tagelang Blut ausscheiden sollte.