23

April 1992

Drei Jahre vergingen.

Tariks Vater hatte in dieser Zeit mehrere Schlaganfälle erlitten; die linke Hand war gelähmt, und das Sprechen fiel ihm schwer. Wenn er sich aufregte, was häufig der Fall war, konnte man ihn kaum verstehen.

Tarik war wieder einmal seiner Prothese entwachsen und dank des Roten Kreuzes zu einem neuen Bein gekommen, worauf er allerdings sechs Monate hatte warten müssen.

Hasinas Befürchtungen waren wahr geworden; sie hatte mit ihrer Familie nach Lahore umziehen und ihren Cousin, den Autohändler, heiraten müssen. Am Tag der Abreise waren Laila und Giti morgens zur Freundin gegangen, um sich von ihr zu verabschieden. Hasina hatte ihnen mitgeteilt, dass ihr zukünftiger Ehemann im Begriff sei, nach Deutschland auszuwandern, wo seine Brüder lebten. Noch in diesem Jahr, sagte sie, würden sie in Frankfurt sein. Alle drei fielen sich in die Arme und weinten. Giti war untröstlich. Das letzte Mal sah Laila Hasina, als sie, von ihrem Vater geführt, auf der Rückbank eines überfüllten Taxis Platz nahm.

Die Sowjetunion zerfiel in verblüffend kurzer Zeit. Im Wochenrhythmus, so schien es Laila, meldete Babi, dass ein weiterer Teilstaat unabhängig geworden sei. Litauen. Estland. Die Ukraine. Über dem Kreml wurde die sowjetische Flagge eingeholt. Auch Russland war nun eine Republik.

In Kabul versuchte Nadschibullah, sich als frommen Muslim auszugeben und eine politische Kehrtwendung zu vollziehen. »Das ist zu wenig und zu spät«, meinte Babi. »Man kann nicht bis gestern Chef der Geheimpolizei gewesen sein und heute in einer Moschee mit anderen beten, deren Angehörige man gefoltert und getötet hat.« Weil ihm in Kabul der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, setzte sich Nadschibullah für ein Abkommen mit den Mudschaheddin ein, was diese aber strikt ablehnten.

»Richtig so«, sagte Mami von ihrem Bett aus. Sie hoffte immer noch auf den Triumphzug der Gotteskrieger und den Sturz der Feinde ihrer Söhne.

Dazu sollte es schließlich auch kommen, und zwar im April 1992, dem Jahr, als Laila vierzehn wurde.

Nadschibullah dankte ab und suchte im UN-Quartier nahe dem Darulaman-Palast im Süden der Stadt Zuflucht.

Der Dschihad war vorbei. Das kommunistische Regime, das seit Lailas Geburt mit wechselnden Vertretern über Afghanistan geherrscht hatte, war zerschlagen. Mamis Helden, die Kampfgefährten ihrer Söhne, hatten gesiegt. Jetzt, nach mehr als einem Jahrzehnt schwerster Opfer und blutiger Kämpfe, zogen die Mudschaheddin, die sich über die ganze Zeit fernab von ihren Familien in den Bergen hatten versteckt halten müssen, in Kabul ein, entkräftet und ausgezehrt, aber triumphierend.

Mami kannte sie alle mit Namen:

Dostum, der stets prunkvoll herausgeputzte usbekische Kommandeur und Anführer der Junbish-i-Milli-Truppen, von dem man wusste, dass er nicht selten die Seiten gewechselt hatte. Gulbuddin Hekmatyar, jener mürrische Gründer der islamischen Partei Hezb-e-Islami, ein Paschtune, der Ingenieurwissenschaften studiert und einen maoistischen Kommilitonen getötet hatte. Rabbani, der tadschikische Anführer der Jamiat-e-Islami-Fraktion, der in den Tagen der Monarchie an der Kabuler Universität Islamwissenschaften unterrichtet hatte. Sayyaf, ein Paschtune aus Paghman mit Verbindungen nach Saudi-Arabien, ein unerschrockener Muslim und Anführer der Ittehad-i-Islami-Kämpfer. Abdul Ali Mazari, Gründer der Partei Hezb-e-Wahdat, von den Hazaras, seinen Stammesgenossen, auch Baba Mazari genannt, der enge Kontakte zum Iran unterhielt.

Am meisten aber verehrte Mami Rabbanis Verbündeten, den charismatischen tadschikischen Kommandeur Ahmad Schah Massoud, den Löwen von Pandschir. Sie hatte sich ein Poster von ihm ins Zimmer gehängt. Massouds stattliches Porträt mit den tiefschwarzen Augen, der nachdenklich gekrausten Stirn und seinem Markenzeichen, dem schief auf dem Kopf sitzenden pakol, sollte bald überall in Kabul zu sehen sein, auf Reklametafeln, Mauern, in Schaufenstern und auf kleinen Fahnen an den Antennen von Taxis.

Diesen Tag hatte sich Mami herbeigesehnt. Es war für sie die Erfüllung nach all den Jahren des Wartens.

Endlich konnten ihre Söhne in Frieden ruhen.

Am Tag der Kapitulation Nadschibullahs verließ Mami ihr Bett als neue Frau. Nach dem shaheed-Tod ihrer Söhne vor fünf Jahren verzichtete sie erstmals auf Schwarz und zog ein weiß gepunktetes kobaltblaues Leinenkleid an. Sie putzte die Fensterscheiben, scheuerte den Boden, lüftete das Haus und nahm ein langes Bad. Ihre Stimme war schrill vor Freude.

»Das muss gefeiert werden«, erklärte sie.

Sie schickte Laila los, um die Nachbarn einzuladen. »Sag ihnen, dass es morgen Mittag ein Festessen bei uns gibt.«

Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute sich Mami in der Küche um und sagte in freundlich-vorwurfsvollem Ton: »Was hast du nur angestellt, Laila? Wooy. Hier ist ja nichts mehr an seinem Platz.«

Sie machte sich daran, Töpfe und Pfannen umzustellen, und ging dabei so theatralisch zu Werke, dass es den Anschein hatte, als versuchte sie, ihr Territorium neu abzustecken. Laila hütete sich, ihr zu nahe zu kommen. Das war sicherer so, denn Mami konnte, in Euphorie geraten, ebenso unbeherrscht sein wie in ihren Wutanfällen. Mit beunruhigender Energie fing sie zu kochen an: aush-Suppe mit roten Bohnen und getrocknetem Dill, kofta, feurig scharfen mantu, mariniert in Joghurt und frischer Pfefferminze.

»Zupfst du dir etwa die Augenbrauen?«, fragte Mami, als sie einen großen Sack Reis öffnete.

»Nur ein bisschen.«

Mami schaufelte mit einer Kelle Reis in einen großen, mit Wasser gefüllten schwarzen Topf, krempelte sich die Ärmel hoch und begann zu rühren.

»Wie geht’s Tarik?«

»Sein Vater ist krank«, antwortete Laila.

»Wie alt ist er jetzt überhaupt?«

»Keine Ahnung. In den Sechzigern, schätze ich.«

»Ich meine Tarik.«

»Oh. Sechzehn.«

»Netter Junge. Findest du nicht auch?«

Laila zuckte mit den Achseln.

»Im Grunde kein Junge mehr, oder? Sechzehn. Fast ein Mann. Was meinst du?«

»Worauf willst du hinaus, Mami?«

»Wieso?« Mami lächelte unschuldig. »Nichts. Ich dachte nur … Ach, am besten sage ich gar nichts.«

»Nur keine falsche Zurückhaltung«, entgegnete Laila, irritiert von Mamis gezierten Umschweifen.

»Nun.« Sie faltete die Hände auf dem Rand des Topfes. Beides, das gespreizte »nun« und die Art, wie sie die Hände faltete, machte auf Laila einen unnatürlichen Eindruck; ihr schien es fast, als habe ihre Mutter diese Geste einstudiert. Es war zu befürchten, dass sie eine Rede halten wollte.

»Wenn zwei kleine Kinder ständig zusammen sind, wie ihr es gewesen seid, hat niemand was dagegen. Im Gegenteil. Es ist drollig. Aber jetzt? Mir ist aufgefallen, dass du einen BH trägst, Laila.«

Laila verschlug es die Sprache.

»Du hättest mir übrigens ruhig etwas sagen können. Dass du einen BH brauchst. Davon wusste ich nichts. Es enttäuscht mich, dass du dich mir nicht anvertraut hast.« Jetzt, da sie ihre Tochter in der Defensive wusste, kam sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen. »Nun, es geht nicht um mich oder den BH, sondern um dich und Tarik. Er ist ein Junge, verstehst du, und als solcher macht er sich um Anstandsfragen keine Gedanken. Die solltest du dir aber machen. Es steht nicht weniger als dein Ruf auf dem Spiel. Und der Ruf eines Mädchens, zumal eines so hübschen, wie du es bist, ist eine delikate Sache. Wie ein Beo in geschlossener Hand. Wenn du sie auch nur ein klein wenig öffnest, fliegt er davon.«

»Und wie war das bei dir, als du über die Mauer gestiegen bist, um dich mit Babi im Obstgarten zu treffen?«, fragte Laila, froh darüber, wie schnell sie sich von dem Überfall ihrer Mutter erholt hatte.

»Wir waren Cousin und Cousine. Und wir haben ja schließlich geheiratet. Hat dieser Junge um deine Hand angehalten?«

»Er ist ein Freund. Ein rafiq. Mehr ist da nicht zwischen uns«, entgegnete Laila, was allerdings nicht besonders überzeugend klang. »Er ist für mich wie ein Bruder«, fügte sie ungeschickterweise hinzu. Und noch bevor sich die Miene ihrer Mutter verfinsterte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Das ist er nicht«, blaffte Mami. »Du wirst diesen einbeinigen Tischlersohn doch wohl nicht mit deinen Brüdern vergleichen wollen. An unsere beiden Jungen reicht keiner heran.«

»Ich habe ja auch nicht behauptet, dass er … So war es nicht gemeint.«

Mami seufzte und presste die Lippen aufeinander.

»Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, nun aber sehr viel ernster als vorher. »Was ich dir begreiflich zu machen versuche, ist, dass die Leute über dich reden werden, wenn du nicht vorsichtig bist.«

Laila wollte etwas entgegnen. Nicht, dass sie ihrer Mutter widersprochen hätte. Laila wusste, dass sie nicht länger so unbekümmert mit Tarik herumtollen konnte wie früher. Seit einiger Zeit war ihr selbst ein wenig merkwürdig zumute, wenn sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit zeigte. Dann empfand sie eine Scheu, die ihr früher unbekannt gewesen war – und womöglich auch jetzt noch unbekannt wäre, hätte sich nicht eines grundlegend verändert: Sie hatte sich in Tarik verliebt. Hoffnungslos. Wenn er in ihrer Nähe war, kamen ihr unwillkürlich die skandalösesten Gedanken, und sie stellte sich vor, seinen schlanken nackten Körper zu umschlingen und zu küssen. Wenn sie nachts in ihrem Bett lag, malte sie sich aus, wie es sein mochte, seine Hände und weichen Lippen im Nacken, auf der Brust, am Rücken und noch tiefer zu spüren. Wenn sie auf diese Weise an ihn dachte, kam sie sich verdorben und schuldig vor; und dann war da noch ein sonderbares, warmes Gefühl, das vom Bauch ausging und ausstrahlte, bis sie den Eindruck hatte, als glühte ihr Gesicht.

Nein. Mamis Bedenken waren wahrhaftig nicht von der Hand zu weisen. Manche Nachbarn, wenn nicht alle, hatten sich wahrscheinlich längst ihr Bild gemacht. Nicht selten waren den beiden verstohlene Blicke zugeworfen worden, und Laila ahnte, dass über sie und Tarik getuschelt wurde. Erst kürzlich war ihnen Raschid, der Schuhmacher, mit seiner verhüllten Frau Mariam im Schlepp auf der Straße begegnet. Im Vorübergehen hatte er grinsend gesagt: »Wen haben wir denn da? Laila und Madschnun!«, womit er auf das Liebespaar in Nizamis Gedicht aus dem 12. Jahrhundert anspielte – eine Farsi-Version von Romeo und Julia, wie ihr Babi später erklärte; allerdings habe Nizami seine Geschichte der unglücklichen Liebe bereits vierhundert Jahre vor Shakespeare verfasst.

Mami hatte durchaus recht.

Was Laila wurmte, war, dass Mami nicht verdiente, recht zu behalten. Auf Babis Meinung hätte sie mehr Wert gelegt. Aber Mami? Nach all den Jahren, in denen sie sich abgesondert und kaum einen Gedanken an ihre Tochter verschwendet hatte … Das war unfair. Laila kam sich vor wie eins dieser Küchenutensilien, die man je nach Laune vernachlässigen oder in Beschlag nehmen konnte.

Dennoch, dies war ein großer und für alle wichtiger Tag. Es wäre kleinlich, Anstoß zu nehmen und die Stimmung zu verderben.

»Ich habe verstanden.«

»Gut«, sagte Mami. »Das wäre also geklärt. Wo ist eigentlich Hakim? Ja, wo treibt sich mein lieber kleiner Gatte herum?«

Der Himmel war strahlend blau, das Wetter perfekt für eine Party. Die Männer saßen auf wackligen Klappstühlen im Hof. Sie tranken Tee, rauchten und diskutierten eifrig über die Pläne der Mudschaheddin. Babi hatte Laila schon einiges darüber mitgeteilt: Afghanistan nannte sich jetzt Islamischer Staat von Afghanistan. Ein von den verschiedenen Fraktionen der Mudschaheddin in Peschawar gebildeter Rat, der Islamische Dschihad-Rat, hatte unter Leitung von Sibghatullah Mujaddidi die politischen Geschäfte übernommen. Er sollte nach zwei Monaten abgelöst werden von einem Führungsrat unter Rabbani, dessen Amtszeit auf vier Monate begrenzt war. Im Laufe dieser sechs Monate sollte eine Loya Dschirga einberufen werden, eine große Versammlung der Anführer und Ältesten des Landes, mit dem Ziel, eine auf zwei Jahre begrenzte Übergangsregierung zu bilden, die unter anderem die Aufgabe hatte, demokratische Wahlen vorzubereiten.

Einer der Männer drehte Lammspieße über der zischenden Glut eines provisorischen Grills. Babi und Tariks Vater spielten im Schatten des alten Birnbaums eine Partie Schach, die Gesichter vor Konzentration zerknittert. Tarik sah ihnen dabei zu und lauschte mit einem Ohr der Diskussion am Tisch nebenan.

Die Frauen hielten sich im Wohnzimmer, im Flur und in der Küche auf. Manche hatten einen Säugling auf dem Arm und wichen geschickt den Kindern aus, die einander durchs Haus zerrten. Aus den Lautsprechern des Kassettenrekorders plärrte eine Gasele von Ustad Sarahang.

Laila stand in der Küche und füllte, von Giti unterstützt, dogh in Karaffen. Giti war längst nicht mehr so schüchtern oder ernst wie früher. Sie lachte jetzt gern und manchmal ein bisschen kokett, wie Laila zu ihrer Verwunderung bemerkte. Anstelle eines Pferdeschwanzes trug sie ihr Haar nunmehr offen und färbte rötliche Strähnchen hinein. Nach hartnäckiger Nachfrage erfuhr Laila, dass der Anstoß zu dieser Verwandlung von einem achtzehnjährigen jungen Mann ausging, den Giti auf sich aufmerksam gemacht hatte. Er hieß Sabir und war Torwart in der Fußballmannschaft, der auch ihr älterer Bruder angehörte.

»Er hat ein wahnsinnig süßes Lächeln und enorm dichtes schwarzes Haar«, hatte Giti ihrer Freundin anvertraut. Von dem Flirt wusste natürlich niemand. Giti war erst zweimal heimlich mit ihm verabredet gewesen, und das nur für jeweils eine Viertelstunde in einem kleinen Teehaus in Taimani am anderen Ende der Stadt.

»Er wird um meine Hand anhalten, Laila. Vielleicht schon im Sommer. Kaum zu glauben, oder? Ehrlich, er geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.«

»Und was ist mit der Schule?« Auf Lailas Frage hatte Giti nur die Augen verdreht.

Von Hasina war früher des Öfteren zu hören gewesen: »Wenn wir, Giti und ich, zwanzig sind, hat jede von uns schon vier oder fünf Kinder geworfen. Und auf dich, Laila, werden wir zwei Strohköpfe einmal richtig stolz sein. Aus dir wird noch was. Ich bin mir sicher, irgendwann sehe ich eine Zeitung mit deinem Foto auf der Titelseite.«

Mit verträumtem, in sich gekehrtem Blick schnitt Giti Gurken klein.

Mami, die ihr duftiges Sommerkleid trug, pellte zusammen mit der Hebamme Wajma und Tariks Mutter gekochte Eier.

»Ich werde Kommandeur Massoud ein Foto von Ahmad und Noor zukommen lassen«, sagte sie zu Wajma. Wajma nickte und versuchte, ernsthaftes Interesse vorzutäuschen.

»Er hat persönlich für ihre Beisetzung gesorgt und an ihrem Grab ein Gebet gesprochen. Dafür möchte ich mich bedanken.« Mami schlug ein weiteres gekochtes Ei an. »Er soll ja, wie man hört, ein sehr nachdenklicher und ehrenwerter Mann sein. Ich glaube, er wird meine Geste zu schätzen wissen.«

Frauen schwirrten umher, holten Schalen mit qurma, Teller voll mastawa und Brot aus der Küche ab, die sie dann auf der am Boden des Wohnzimmers ausgebreiteten sofrah verteilten.

Ab und zu zeigte sich auch Tarik, um von den Speisen zu naschen.

»Hier werden keine Männer geduldet«, sagte Giti.

»Raus, raus!«, rief Wajma.

Tarik schmunzelte. Es schien ihm zu gefallen, nicht willkommen zu sein und die Frauenwirtschaft mit seinem männlich respektlosen Grinsen zu verärgern.

Laila tat ihr Bestes, ihn zu ignorieren, um den Frauen nicht noch mehr Stoff für Klatsch und Tratsch zu bieten. Also hielt sie den Blick gesenkt und sagte nichts, erinnerte sich aber an das, was sie vor einigen Nächten geträumt hatte: sein und ihr Gesicht im Spiegel hinter einem zarten grünen Schleier. Und Reiskörner, die, aus ihrem Haar fallend, mit einem kleinen Pling vom Glas abprallten.

Tarik langte mit einem Löffel in den Eintopf aus Kalbfleisch und Kartoffeln.

»Ho bacha!« Wajma klatschte ihm auf die Hand. Tarik stahl den Happen dennoch und lachte.

Er war inzwischen fast einen Kopf größer als Laila und musste sich rasieren. Die Gesichtszüge waren markanter geworden, die Schultern breiter. Er trug jetzt meist Bundfaltenhosen, schwarze, blank polierte Slipper und Hemden mit kurzen Ärmeln, um mit seinen Muskeln angeben zu können, die er tagtäglich mit zwei alten rostigen Hanteln im Hof trainierte. In letzter Zeit setzte er gern eine streitlustige Miene auf, neigte, wenn er sprach, den Kopf ein bisschen zur Seite und lupfte eine Braue, wenn er lachte. Auch das spöttische Grinsen war neu an ihm.

Tarik war kurz zuvor schon einmal aus der Küche verscheucht worden, und seine Mutter hatte Laila dabei ertappt, dass sie ihm einen heimlichen Blick zuwarf. Laila war zusammengezuckt und hatte sich schnell wieder darangemacht, die Gurkenstücke unter den gesalzenen Joghurt zu rühren. Sie spürte die Augen von Tariks Mutter auf sich gerichtet, ihr wissendes, wohlmeinendes Schmunzeln.

Die Männer gingen mit gefüllten Tellern und Gläsern zurück in den Hof. Nachdem sie versorgt waren, nahmen die Frauen und Kinder rund um die sofrah auf dem Fußboden Platz und fingen zu essen an.

Als später die sofrah wieder fortgeräumt und das Geschirr in die Küche gebracht worden war, als es nun galt, Tee zuzubereiten und sich daran zu erinnern, wer grünen beziehungsweise schwarzen Tee bevorzugte, nickte Tarik Laila mit dem Kopf zu und schlüpfte durch die Tür nach draußen.

Laila wartete fünf Minuten und folgte dann.

Sie fand ihn weiter unten auf der Straße, wo er neben der Mündung einer engen Gasse an der Mauer lehnte. Er summte ein altes paschtunisches Lied von Ustad Awal Mir:

Da ze ma ziba watan,

da ze ma dada watan.

Dies ist unser schönes Land,

dies ist unser geliebtes Land.

Und er rauchte – auch das eine neue Angewohnheit, die er von den Jungs übernommen hatte, mit denen er in letzter Zeit häufig zusammen war. Laila konnte sie nicht leiden, seine neuen Freunde. Sie alle trugen Bundfaltenhosen und enge Hemden, die ihre Schultern und Arme betonten. Außerdem rochen alle nach Eau de Cologne. Und sie rauchten, ausnahmslos. In Gruppen stolzierten sie durch die Nachbarschaft, alberten herum, lachten laut und riefen den Mädchen nach, wobei sie samt und sonders das gleiche dümmliche, selbstgefällige Grinsen im Gesicht trugen. Einer von ihnen hielt sich anscheinend für ein Double von Sylvester Stallone und bestand darauf, Rambo genannt zu werden.

»Deine Mutter würde dir die Hölle heiß machen, wenn sie dich rauchen sähe«, sagte Laila. Sie schaute sich nach allen Seiten um und trat in die Gasse.

»Davon erfährt sie nichts«, entgegnete er und rückte zur Seite, um ihr Platz zu machen.

»Vielleicht doch.«

»Von wem? Von dir vielleicht?«

Laila scharrte mit dem Fuß. »Sprich deine Geheimnisse in den Wind, aber mach ihm keinen Vorwurf, wenn er sie den Bäumen weitererzählt.«

Tarik lächelte und hob die linke Braue. »Wer hat das gesagt?«

»Khalil Gibran.«

»Angeberin.«

»Gib mir auch eine.«

Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch das gehörte zum Repertoire seiner neuen Posen: mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, die Arme verschränkt, eine Zigarette im Mundwinkel und das gesunde Bein lässig angewinkelt.

»Warum nicht?«

»Ist schlecht für dich«, antwortete er.

»Für dich nicht?«

»Ich tu’s, um den Mädchen zu gefallen.«

»Welchen Mädchen?«

Er grinste. »Sie finden es sexy.«

»Von wegen.«

»Nein?«

»Glaub mir.«

»Nicht sexy?«

»Du siehst aus wie ein khila, ein Schwachkopf.«

»Das tut weh«, sagte er.

»Von welchen Mädchen sprichst du?«

»Eifersüchtig?«

»Nur neugierig.«

Er paffte und blinzelte durch den Rauch. »Ich wette, man zerreißt sich gerade über uns das Maul.«

Laila dachte an die Mahnung ihrer Mutter. Wie ein Beo in geschlossener Hand. Wenn du sie auch nur ein klein wenig öffnest, fliegt er davon. Sie beschlich ein ungutes Gefühl. Laila blendete Mamis Stimme aus. Stattdessen weidete sie sich an Tariks Formulierung des Wörtchens uns. Er hatte es ganz beiläufig und wie selbstverständlich verwendet und damit ihre Verbundenheit bestätigt.

»Und was werden sie über uns sagen?«

»Dass wir auf dem Fluss der Sünde paddeln«, antwortete er. »Vom Kuchen der Untugend naschen.«

»Mit der Rikscha des Verderbens fahren?«, stimmte Laila mit ein.

»Ein Frevel-qurma kochen.«

Beide lachten. Dann bemerkte Tarik, dass ihr Haar länger geworden sei. »Ist hübsch so«, sagte er.

Laila hoffte, nicht rot zu werden. »Du lenkst ab.«

»Wovon?«

»Von den hirnlosen Mädchen, die dich sexy finden.«

»Du weißt es doch.«

»Was weiß ich?«

»Dass ich nur Augen für dich habe.«

Ihr wurde schwummrig. Sie versuchte, seine Miene zu lesen, sah aber nur ein albernes Grinsen, das so gar nicht zum Ausdruck seiner Augen zu passen schien. Ein cleverer Blick, genau abgezirkelt zwischen Spott und Ernsthaftigkeit.

Tarik drückte den Stummel unter dem Absatz des gesunden Fußes aus. »Was hältst du von alledem?«

»Von der Party?«

»Wer ist jetzt der Schwachkopf von uns beiden? Ich meine die Mudschaheddin. Ihren Einzug in Kabul.«

»Oh.«

Sie wollte gerade berichten, was Babi über die gefährliche Ehe zwischen Gewehren und Eigensinn gesagt hatte, als plötzlich Schreie laut wurden, die vom Haus ihrer Eltern kamen.

Laila rannte los. Tarik hinkte hinterher.

Im Hof herrschte helle Aufregung. Zwei Männer wälzten sich ringend am Boden. In dem einen erkannte Laila einen der Männer wieder, die zuvor miteinander über Politik diskutiert hatten. Der andere war derjenige, der die Kebabspieße gewendet hatte. Einer von ihnen hielt ein Messer in der Hand. Mehrere Männer versuchten, die beiden auseinanderzubringen. Babi war nicht dabei. Er hielt sich in sicherer Entfernung vor der Hofmauer auf. Tariks Vater, der neben ihm stand, hatte Tränen im Gesicht.

Aus den aufgebrachten Kommentaren ringsum machte sich Laila ihren Reim: Der eine, ein Paschtune, hatte Ahmad Schah Massoud einen Verräter genannt und ihm vorgeworfen, in den achtziger Jahren mit den Sowjets »krumme Geschäfte« getrieben zu haben. Der andere, ein Tadschike, hatte Anstoß daran genommen und die Zurücknahme der Behauptung verlangt. Der Paschtune weigerte sich, worauf der Tadschike sagte, dass, wenn Massoud nicht gewesen wäre, seine Schwester – die des anderen – immer noch den sowjetischen Soldaten »zu Gefallen« sein müsste. Und dann war es rundgegangen. Einer von ihnen hatte ein Messer gezogen; wer von beiden, war nicht klar.

Mit Schrecken sah Laila, wie sich Tarik Hals über Kopf in das Handgemenge stürzte. Einer derjenigen, die zu schlichten versuchten, schlug nun selber mit den Fäusten zu, und ihr war, als habe sie ein zweites Messer aufblitzen sehen.

Später, am Abend, versuchte Laila noch einmal nachzuvollziehen, wie die Schlägerei um sich gegriffen hatte, bis schließlich fast alle Männer mit Geschrei und fliegenden Fäusten übereinander hergefallen waren, Tarik mitten unter ihnen. Am Ende kam er mit zerrissenem Hemd und schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Gewühl hervorgekrochen. Die Prothese war ihm verloren gegangen.

Die Ereignisse überstürzten sich.

Der Führungsrat war voreilig gebildet worden. Er wählte Rabbani zum neuen Präsidenten, was zu Rivalitäten zwischen den einzelnen Fraktionen führte. Massoud mahnte zu Geduld und Ruhe.

Hekmatyar empörte sich über seinen Ausschluss. Die Hazaras, immer schon unterdrückt und missachtet, kochten vor Wut.

Beleidigungen machten die Runde. Finger zeigten auf andere. Vorwürfe flogen hin und her. Versammlungen wurden unter Protest abgebrochen, Türen geknallt. Die Stadt hielt den Atem an. In den Bergen griff man wieder zu den Kalaschnikows.

In Ermangelung eines gemeinsamen Feindes bekämpften sich die bis an die Zähne bewaffneten Mudschaheddin untereinander.

Für Kabul war der Tag der Abrechnung gekommen.

Raketen prasselten auf die Stadt nieder; ihre Bewohner verbarrikadierten sich. Mami trug wieder Schwarz, ging auf ihr Zimmer, zog die Vorhänge zu und vergrub sich unter den Decken.