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Mariam
September 1997
»Frauen werden hier nicht mehr behandelt«, bellte der Wachbeamte. Er stand vor dem Portal der Malalai-Klinik und blickte mit eisiger Miene auf die Menge herab, die sich vor den Eingangsstufen versammelt hatte.
Unmut machte sich breit.
»Aber das ist doch ein Krankenhaus für Frauen«, empörte sich eine Frau, die hinter Mariam stand. Ihr stimmten viele lauthals zu.
Mariam hatte Aziza auf dem Arm und stützte mit der freien Hand Laila, die sich auf der anderen Seite an Raschids Schulter festhielt und leise vor sich hin jammerte.
»Jetzt nicht mehr«, sagte der Talib.
»Meine Frau bekommt ein Kind!«, brüllte ein stämmiger Mann. »Soll sie etwa auf der Straße gebären, Bruder?«
Mariam hatte schon im Januar dieses Jahres von der Verordnung gehört, wonach erkrankte Männer und Frauen auf getrennte Krankenhäuser zu verteilen seien und das weibliche Personal sämtlicher Krankenhäuser Kabuls in einer Zentralklinik für Frauen arbeiten werde. Allerdings war diese Verordnung nicht durchgeführt worden, und keiner hatte an ihre Umsetzung geglaubt. Bis jetzt.
»Und was ist mit dem Ali-abad-Hospital?«, rief ein anderer Mann.
Der Wachmann schüttelte den Kopf.
»Wazir Akbar Khan?«
»Nur für Männer«, sagte er.
»Was sollen wir tun?«
»Geht ins Rabia Balkhi«, sagte der Wachmann.
Eine junge Frau erklärte, dass sie schon dort gewesen sei. Es gebe dort kein sauberes Wasser, sagte sie, keinen Sauerstoff, keine Elektrizität, keine Medikamente. »Da gibt es nichts.«
»Nur da dürft ihr hin«, sagte der Wachmann.
Rufe der Empörung wurden laut; vereinzelt waren auch Beleidigungen zu hören. Jemand warf einen Stein.
Der Talib hob seine Kalaschnikow und feuerte in die Luft. Ein anderer, der hinter ihm stand, schwang eine Peitsche.
Die Menge löste sich schnell auf.
Der Wartesaal der Rabia-Balkhi-Klinik war übervoll von verhüllten Frauen und Kindern. Es stank nach Schweiß und Schmutz, nach Füßen, Desinfektionsmitteln, Urin und Zigarettenrauch. Unter der Decke drehte sich ein Ventilator. Kinder tobten umher und sprangen über die ausgestreckten Beine schlafender Väter.
Mariam half Laila auf einen freien Stuhl. Von der Wand hinter ihr war großflächig Putz abgebröckelt; sie sah aus wie eine Karte fremder Kontinente. Laila hielt sich den Bauch und schaukelte vor und zurück.
»Ich werde dafür sorgen, dass du gleich drankommst, Laila jo.«
»Beeil dich«, sagte Raschid.
Vor dem Anmeldungsschalter drängte sich eine Traube von Frauen. Es wurde gerempelt und gestoßen. Einige hielten Säuglinge auf dem Arm. Andere befreiten sich aus der Menge und eilten auf die Doppeltür zu, die zu den Behandlungszimmern führte. Ein bewaffneter Talib versperrte ihnen den Weg und schickte sie zurück.
Mariam zwängte sich durch das Gewühl und schob die Hüften und Schultern der anderen mit Nachdruck beiseite. Ein Ellbogen traf ihre Rippen; sie wehrte sich auf gleiche Art. Sie parierte eine Hand, die auf ihr Gesicht zielte, zerrte an Armen, Kleidern und Haaren und ließ sich durch nichts und niemanden aufhalten, am allerwenigsten durch Worte.
Mariam erkannte nun, was eine Mutter aufopfern musste. Nicht zuletzt ihren Anstand. Voller Reue dachte sie an Nana, an das, was ihr aufgebürdet worden war. Nana hätte sie abgeben oder aussetzen und davonlaufen können. Aber sie hatte es nicht getan und stattdessen die Schande ertragen, einen harami zur Tochter zu haben. Sie hatte ihr Leben der undankbaren Aufgabe gewidmet, Mariam aufzuziehen, und sie sogar auf ihre Weise geliebt. Und am Ende war Mariam zu Jalil übergelaufen. Während sie sich nun mit wilder Entschlossenheit durch die Menge kämpfte, bedauerte sie es zutiefst, Nana keine bessere Tochter gewesen zu sein. Sie wünschte, sie hätte schon damals verstanden, was Mutterschaft bedeutete.
Endlich stand sie einer Schwester gegenüber, die von Kopf bis Fuß in eine schmutzige graue Burka gehüllt war. Die Schwester sprach mit einer jungen Frau, durch deren Verschleierung am Kopf Blut sickerte.
»Bei meiner Tochter ist die Fruchtblase geplatzt, aber das Kind will nicht kommen«, rief Mariam.
»Ich bin zuerst dran!«, blaffte die blutende junge Frau. »Warte gefälligst, bis du an der Reihe bist.«
Die Menge hinter ihnen wogte hin und her wie das hohe Gras vor der kolba, wenn der Wind über die Lichtung fuhr. Eine Frau schrie, dass ihre Tochter vom Baum gefallen sei und sich den Ellbogen gebrochen habe. Eine andere klagte heulend über Blut im Stuhl.
»Hat sie Fieber?«, fragte die Schwester, und es dauerte einen Moment, ehe Mariam bemerkte, dass sie mit ihr sprach.
»Nein«, antwortete Mariam.
»Blutet sie?«
»Nein.«
»Wo ist sie?«
Mariam deutete über die Köpfe der Frauen hinweg auf den Wartesaal.
»Wir kümmern uns drum«, sagte die Schwester.
»Wann?«, rief Mariam. Jemand packte sie bei den Schultern und zerrte sie zurück.
»Ich weiß nicht«, antwortete die Schwester. Sie sagte, dass nur zwei Ärzte Dienst hätten und beide zurzeit operierten.
»Sie hat Schmerzen«, drängte Mariam.
»Ich auch«, blaffte die Frau, die durch ihre Burka blutete. »Und du hast zu warten!«
Mariam wurde zurückgezerrt. Schultern und Köpfe versperrten ihr den Blick auf die Schwester. Ein Säugling, der unmittelbar neben ihr im Arm seiner Mutter hing, stieß Milch auf.
»Gehen Sie mit ihr im Gang auf und ab«, rief die Schwester. »Und gedulden Sie sich.«
Draußen war es schon dunkel geworden, als endlich eine Schwester kam und sie in den Kreißsaal führte. Darin standen acht Betten, bis auf eines alle belegt von schreienden und sich windenden Frauen, um die sich vollständig verschleierte Schwestern kümmerten. Zwei Frauen kamen gerade nieder. Es gab keine Vorhänge zwischen den Betten. Für Laila war das Bett am äußeren Rand frei gemacht worden; es stand unter einem schwarz lackierten Fenster. Daneben befand sich ein trockenes und an mehreren Stellen aufgesprungenes Waschbecken, über dem an einer Wäscheleine schmutzige Gummihandschuhe hingen. In der Mitte des Raumes sah Mariam einen Regaltisch aus Aluminium stehen; auf der oberen Ablage lag eine anthrazitfarbene Decke, das untere Fach war leer.
Eine der Frauen bemerkte, worauf Mariams Blick gerichtet war.
»Die Lebenden kommen nach oben«, sagte sie.
Unter einer dunkelblauen Burka verbarg sich die Ärztin, eine kleine nervöse Frau mit vogelartigen Bewegungen. Alles, was sie sagte, klang gehetzt und ungeduldig.
»Das erste Baby?«, fragte sie im Tonfall einer Feststellung.
»Das zweite«, antwortete Mariam.
Laila stieß einen Schrei aus und wälzte sich zur Seite. Ihre Finger schlossen sich um Mariams Hand.
»Gab’s Probleme bei der ersten Geburt?«
»Nein.«
»Sind Sie ihre Mutter?«
»Ja«, antwortete Mariam.
Die Ärztin lüftete das Unterteil der Burka und brachte ein trichterförmiges Instrument aus Metall zum Vorschein. Dann entblößte sie Lailas Unterleib, legte das weite Ende des Instruments auf ihren Bauch und führte das schmale Ende ans Ohr. Sie lauschte eine Weile, verrückte den Trichter an eine andere Stelle und lauschte wieder.
»Ich muss das Kind jetzt ertasten, hamshira.«
Sie zog sich einen der Gummihandschuhe an, die über dem Waschbecken hingen, drückte dann mit der einen Hand auf Lailas Bauch und fuhr ihr mit der anderen in die Scheide. Laila wimmerte. Als die Ärztin fertig war, gab sie den Handschuh einer Schwester, die ihn unter dem Wasserhahn abwusch und wieder auf die Leine hängte.
»Das Kind ist in Steißlage. Wir müssen einen Kaiserschnitt machen. Wissen Sie, was das ist? Wir setzen einen Schnitt an und holen das Kind heraus.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Mariam.
Die Ärztin erklärte, dass das Kind sich nicht gedreht habe und von allein nicht kommen könne. »Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren und müssen jetzt sofort in den OP.«
Laila verzog das Gesicht und nickte. Ihr Kopf fiel zur Seite.
»Noch etwas«, sagte die Ärztin und rückte näher an Mariam heran, um ihr etwas mitzuteilen, etwas Vertrauliches, wie es schien. Sie machte einen leicht verlegenen Eindruck.
»Was ist los?«, krächzte Laila. »Stimmt was nicht mit dem Baby?«
»Aber wie soll sie die Schmerzen aushalten?«, fragte Mariam.
Der Ärztin schien die Frage als Vorwurf zu verstehen, denn ihre Antwort klang wie eine Entschuldigung. »Glauben Sie etwa, mir ist das recht?«, sagte sie. »Was soll ich tun? Man gibt mir nun einmal nicht, was ich brauche. Und es fehlt hier an allem, sogar an einfachen Antibiotika. Die Gelder der WHO stecken sich die Taliban ein, oder es fließt an Stellen, wo es ausschließlich Männern zugute kommt.«
»Aber, Doktor sahib, gibt es da nichts, was Sie ihr geben könnten?«, fragte Mariam.
»Was ist los?«, stöhnte Laila.
»Sie könnten das Mittel aus eigener Tasche bezahlen, aber …«
»Schreiben Sie mir bitte den Namen auf«, sagte Mariam. »Schreiben Sie ihn auf, und ich besorge es.«
Unter der Burka schüttelte die Ärztin den Kopf. »Dazu bleibt keine Zeit mehr«, sagte sie. »Außerdem ist das Mittel in keiner der umliegenden Apotheken zu haben. Sie müssten durch die halbe Stadt fahren, und das bei dem Verkehr, von Apotheke zu Apotheke, wo Sie aber wahrscheinlich auch nichts bekommen werden. Es ist gleich halb neun, das heißt, Sie wären bis zur Sperrstunde nicht zurück. Und selbst wenn Sie das Mittel irgendwo auftreiben könnten, würden Sie es wahrscheinlich nicht bezahlen können. Oder es sind andere Kunden da, die, ebenso verzweifelt wie Sie, versuchen werden, Sie zu überbieten. Wie dem auch sei, die Zeit drängt. Das Kind muss sofort geholt werden.«
»Sagt mir endlich, was ist«, verlangte Laila. Sie hatte sich, auf einen Ellbogen gestützt, aufgerichtet.
Die Ärztin holte tief Luft und klärte Laila darüber auf, dass dem Krankenhaus keine Betäubungsmittel zur Verfügung stünden.
»Aber wenn wir uns jetzt nicht beeilen, werden Sie Ihr Kind verlieren.«
»Dann schneiden Sie mich auf«, sagte Laila. Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen und zog die Knie an. »Schneiden Sie mich auf und geben Sie mir mein Baby.«
Zitternd lag Laila in dem armseligen OP-Saal auf einer rollbaren Trage, während sich die Ärztin über einer Wasserschüssel die Hände schrubbte. Eine Schwester rieb Lailas Bauch mit einem Lappen ab, der mit einer gelbbraunen Flüssigkeit getränkt war. Eine andere Schwester stand neben der Tür, die sie immer wieder einen Spaltbreit öffnete, um nach draußen zu spähen.
Die Ärztin hatte ihre Burka abgelegt. Mariam sah einen Schopf silbriger Haare, schwere Augenlider und schlaffe Mundwinkel, die von Müdigkeit zeugten.
»Sie verlangen, dass wir selbst beim Operieren eine Burka tragen«, erklärte sie und deutete auf die Schwester an der Tür. »Sie passt auf, dass keiner kommt, und schlägt gegebenenfalls Alarm.«
Sie sagte dies ganz nüchtern und wie beiläufig, und Mariam spürte, dass sie längst alle Wut hinter sich gelassen hatte. Eine Frau, so dachte sie, die noch froh darüber sein konnte, dass sie überhaupt arbeiten durfte, sich gleichzeitig aber darüber im Klaren war, dass auch dieses Privileg auf dem Spiel stand.
An der Trage waren auf Schulterhöhe zwei aufrechte Metallstangen angebracht, zwischen die nun die Schwester, die Laila den Bauch desinfiziert hatte, ein Tuch spannte, das eine Art Vorhang zwischen Laila und der Ärztin bildete.
Mariam stellte sich ans Kopfende der Trage und beugte sich tief herab, um ihre Wange an Lailas Wange zu legen. Sie spürte, wie ihr die Zähne klapperten. Die Hände der beiden waren fest ineinander verschränkt.
Durch den Vorhang sah Mariam den Schatten der Ärztin auf der linken, den der Schwester auf der rechten Seite. Laila hatte ihre Lippen gegen das Zahnfleisch gepresst; der Speichel drang in Blasen zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie gab kleine Zischlaute von sich.
Die Ärztin sagte: »Fassen Sie sich ein Herz, kleine Schwester.«
Sie beugte sich über Laila.
Laila riss Augen und Mund auf. Sie verkrampfte, zitterte am ganzen Leib. Die Sehnen am Hals waren zum Zerreißen gespannt. Schweiß tropfte ihr vom Gesicht. Ihre Hände quetschten Mariams Finger.
Mariam sollte sie für immer dafür bewundern, wie tapfer sie aushielt und wie lange es dauerte, bevor sie nicht mehr anders konnte als zu schreien.