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Am frühen Nachmittag erreichten wir Morlaix, eine Stadt mit 15.000 Einwohnern. Noch konnte keiner von uns das Meer sehen, auf der Karte begann die Bucht drei, vier Kilometer nördlich der Siedlung, und wir kamen aus Südosten. Was wir dagegen sofort sahen, war ein hohes Viadukt aus schmutzig rötlich braunen und grauen Steinen, das über einem Teil der Häuser entlangführte, gekrönt von mehreren Leitungen.
Wir fragten uns durch die Altstadt, vorbei an Fachwerkhäusern, deren obere Stockwerke über den Sockel herausragten, jedes ein Stück weiter als das darunter, und so die gewundene Straße noch schmaler wirken ließen. Vorbei an drängelnden Autos und lachenden Menschen. Die Luft roch nach Autoabgasen und einer Ahnung vom Meer.
In der Tourist-Info holten wir uns Broschüren über die Gegend und das Château du Taureau. Es lag auf einer Insel am offenen Ende der Bucht von Morlaix und war am besten von dem 3.000-Seelen-Dorf Carantec aus zu erreichen, vierzehn Kilometer von hier. Von da setzte mehrmals täglich ein Boot für Führungen über. Führungen interessierten uns nicht, wir wollten unsere Ruhe und den Schutz der Dunkelheit. Trotzdem brachen wir sofort dorthin auf.
Gemächlich kurvten wir durch Carantecs Straßen voller Touristen, jeder Dritte hielt ein Eis in der Hand, und die Hälfte der Häuser schien nur für die Ferien Fremder gebaut zu sein. Sie umlagerten einen weißen Strand an der breiten Mündung der Bucht, daneben einen weiteren, und irgendwo gab es einen Golfplatz am Meer.
Bei den Département-Nummern auf den Autokennzeichen dominierten die 75 für Paris und die 29 für das hiesige Département Finistère. Von finis terra, das Ende der Erde. Ein passenderer Name war für unseren Trip kaum möglich.
Das Wasser war von tiefem Blau, zahllose Segelboote kreuzten auf den leisen Wellen. Auch eine Handvoll Schlauchboote bemerkte ich, weit draußen zog ein größeres Schiff vorbei, und noch weiter draußen, jenseits des Dunsts, musste England liegen. Zu sehen war nichts als Weite.
Wir umrundeten eine Landzunge und stießen auf einen weniger überfüllten Strand an einer Allee. Von hier aus hatte man einen klaren Blick auf drei vorgelagerte Inseln. Wir hielten an. Heller Sand lag wie ein dünner Schleier über dem Asphalt, die Luft schmeckte nach Salz. Wir nahmen die Helme ab und atmeten tief ein.
Auf einer der Inseln erhoben sich drei weiße Gebäude, deren Mauern in der Sonne strahlten; eines von ihnen war ein Leuchtturm mit einer Kuppel aus Glas. Die Insel dahinter wurde fast vollständig von einer massiven grauen Festung besetzt, der gedrungene Rundturm an der Seite ragte kaum über den Kranz der Mauern hinaus. Das Château du Taureau, unser Ziel.
Die Festung war 1542 zum Schutz der bedeutenden Hafenstadt Morlais vor Seeangriffen errichtet worden, verriet uns die Broschüre, fünfzig Jahre nach dem Tod des Korsaren Jean Coatanlem, der sich selbst »König der Meere« genannt, und mit dem Christoph die Festung immer verbunden hatte. Später war sie sogar ein Gefängnis gewesen, doch in Christophs Erinnerung immer nur das Gegenteil davon: die Heimat des Freibeuters von Morlaix, des Königs der Meere. Ungebunden, weil ohne Land, und frei, weil niemand einem König Befehle gab. Ein Ort, von dem aus man jeden Winkel der Ozeane erreichte, eine Festung, losgelöst von jedem Land. Von hier aus sollte Christophs Asche ihre letzte Reise antreten.
»Zu weit zum Schwimmen«, stellte Maik lapidar fest.
»Aber wunderschön.« Selina beschattete die Augen mit der Hand.
Eine Möwe stürzte über uns hinweg und schrie.
»Wir brauchen ein Boot«, sagte ich. Und wir würden erst dann übersetzen, wenn wir die Insel allein für uns hätten und jeder Verleih längst geschlossen hatte. Niemand sollte unseren Abschied von Christoph stören. Und das bedeutete, wir würden uns das Boot nehmen müssen, ohne Gebühr und ohne zu fragen, wie der König der Meere.
Wortlos zog ich die Schuhe aus und ging über den Strand bis ans Wasser, feinen warmen Sand zwischen den Zehen, und ohne zu zögern weiter, hinein in die Wellen, die kühl um meine Knöchel schwappten. Ich starrte hinaus, dorthin, wo Himmel und Meer aufeinandertrafen, ohne sich zu berühren. Wenn es tatsächlich etwas wie Ewigkeit geben sollte, dann musste sie irgendwo dort zu finden sein, nicht unter einem geschliffenen Stein hinter einer Mauer und im Schatten dunkler Bäume. Bäume konnten schön sein, riesig, und manche waren uralt, aber eben nicht ewig. Zum ersten Mal verstand ich Christophs Wunsch mit dem Meer richtig.
Kinder zu meiner Rechten kreischten vor Vergnügen, Möwen über mir hungrig, und doch war alles friedlich, das leise Plätschern der Wellen bestimmte alles. Der Wind kam über das Meer herein und kühlte die Sonne ab.
»Schön«, sagte Lena, die plötzlich neben mir stand.
»Ja.« Mehr gab es nicht zu sagen, das Meer machte alle Worte klein. Es füllte mich mit einer unbestimmten, richtungslosen Sehnsucht, anders als Fernweh, tiefer und drängender. Eine Sehnsucht nach allem, alles zu tun, alles zu sehen. Vielleicht zeigte einem das Meer auch nur, wie klein man selbst war und man sehnte sich danach, mehr zu sein. Und man wusste zugleich, dass man mehr sein konnte.
Manchmal denkst du ziemlichen Blödsinn, sagte Christophs Stimme in meinem Kopf, aber sie lächelte.
»Danke«, sagte ich laut.
»Wofür?«
»Dass wir hier sind. Es ist richtig.«
»Hast du daran gezweifelt?«
»Nein, aber …« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wusste nur nicht, wie richtig es ist. Verstehst du?«
»Ja.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Von der Burg habe ich nichts gewusst, das warst du.«
Ich nickte.
Selina und Maik kamen zu uns, und wir starrten gemeinsam hinaus. Maik hatte den Gürtel von seinem Handgelenk gewickelt. Es war rot und ein wenig geschwollen.
»Und jetzt? Gehen wir rein?«, fragte Maik, was nach unserem Trip seltsam klang. Auf einem Friedhof hätte das auch niemand gefragt. Vielleicht hatte Christoph auch gerade deshalb hierhergewollt.
»Ich hab keinen Badeanzug«, sagte Selina.
»Das hat dich vorgestern auch nicht gestört.«
»Da war es dunkel, und ich hatte getrunken.«
»Wein haben wir noch.«
»Kannst du einmal ernst bleiben?« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn abschätzig an.
Maik drehte sich wortlos um und stapfte davon.
»Der ist jetzt doch nicht beleidigt?«, fragte Selina verwirrt.
»Quatsch«, sagte ich. Beleidigt sein, das passte nicht zu ihm. Aber seit dem kurzen Gespräch in Paris wusste ich, dass man ihn verletzen konnte. Clownsschale, weicher Kern.
»Vielleicht sucht er nach einer Brücke?«, sagte Lena.
Keiner lachte.
Eine Viertelstunde später kam Maik grinsend zurück. In den Händen trug er einen zusammengepressten bunten Ballen Stoff. Von einem der Straßenstände hatte er zwei Bikinis und zwei Badeshorts geklaut.
»Ich hoffe, die Größen stimmen. Bei der Farbe konnte ich nicht wählerisch sein.«
Meine Hose war patriotisch blau-weiß-rot und passte, beide Bikinis hatten recht wenig Stoff und bunte Muster und saßen knapp.
»Das hast du doch mit Absicht gemacht«, beschuldigte ihn Selina und zerrte an ihrem Oberteil herum.
»Ich kenn mich mit euren Größen nicht aus.« Maik grinste. »Aber ich dachte, lieber zu eng als zu weit. Wenn ich sie zwei Nummern zu groß gebracht hätte, hättet ihr mich gesteinigt und gekeift: Hältst du uns für fett?«
»Idiot!«
»Sieht doch gut aus«, sagte ich, bevor die beiden sich noch an die Gurgel gingen.
»Ja, typisch.« Selina blitzte mich an.
Lena hob die Braue.
»Beide«, sagte ich schnell. »Ihr seht beide gut aus.«
Und dann stürmten wir ins Meer, weil man am Meer einfach nicht anders kann. Wir tauchten nach den zerbrechlichen Schalen toter Seeigel und versuchten, bunte Fische zu erspähen, was ohne Schnorchel und Taucherbrille so gut wie vergeblich war. Wir erhaschten höchstens einen Schatten. Ich tauchte Lena unter, dann Selina, und auch Maik warf sich auf die Mädchen. Wir schluckten Salzwasser und prusteten es wieder aus. Wir tollten herum, und doch vergaß ich keinen Moment, dass wir an Christophs Ziel angekommen waren.
Selina packte meine Handgelenke, um mich nach unten zu ziehen, ihre Finger bohrten sich schmerzhaft in meine Haut, aber ich verzog das Gesicht nicht. Ihre feuchten Lippen bebten vor Anstrengung, das nasse Haar klebte ihr am Kopf, der Bikini spannte über den Brüsten, die gerade noch aus dem Wasser ragten. Sie war so schön, dass es mir einen Stich versetzte.
»Ich krieg dich noch …«, keuchte sie.
»Meinst du?«
Lena sprang mir auf den Rücken, die Hände auf den Schultern, die Arme durchgedrückt, alles Gewicht lastete auf mir, doch das war nicht viel. Sie konnte mich nicht untertauchen.
»Runter mit ihm!«, knurrte sie zu Selina.
»Ich versuch’s ja.«
»Mädchen.« Maik lachte und rammte mich mit Wucht von der Seite.
Kreischend und lachend ließen die Mädchen los, fluchend versank ich und ließ mich bis zum Grund sinken, tauchte weiter hinaus, weiter und weiter mit kräftigen Stößen. Christoph hätte hier sein sollen, ihn hätte Selina packen sollen. Ich tauchte durch eine kühle Strömung, tauchte, bis mir die Brust eng wurde, und dann noch zwei Züge weiter. Ich krallte mich in den Sand, die Schläfen pochten, und dann stieß ich mich ab und durchbrach die Oberfläche mit einem Schrei. Ich war so weit draußen, dass ich nicht mehr stehen konnte. Christophs Festung war ich dennoch kaum näher gekommen.
Zurück an Land cremten wir uns gegenseitig ein, legten uns in die Sonne und dösten bis zum Abend. Wir aßen, tranken und warteten auf die Dunkelheit.
Noch bevor die Dämmerung einsetzte, fingen wir an, ein Boot zu suchen. Vergeblich liefen wir die Küste ab, alle Boote wurden eingebracht, angekettet oder hinter den stachelbewehrten Toren eines Verleihs verschlossen. Wir versuchten unser Glück in den nächstgelegenen Straßen, und als die Sonne verschwunden war, entdeckten wir hinter einer Hecke ein großes Schlauchboot auf dem Rasen eines Ferienhauses. Daneben lagen zwei Plastikeimer, die Ruder und ein Ball. Auf Kinder war eben Verlass, irgendwer vergaß immer das Aufräumen oder war zu faul, das Boot am nächsten Tag neu aufzupumpen.
Maik und ich huschten auf das dunkle Grundstück, während Lena die erleuchtete Terrassentür im Blick behielt und Selina die Straße. Leise hoben wir das Boot über die Hecke, wo es die Mädchen entgegennahmen. Dann holten wir noch rasch die Ruder und trugen gemeinsam alles an den Strand. Die letzte Etappe hatte begonnen.
Die Strömung schien immer gegen uns zu arbeiten. Mit schmerzenden Armen paddelten Maik und ich durch die Nacht, die Insel mit dem Leuchtturm hatten wir längst hinter uns gelassen. Nun lag nur noch Schwärze vor uns. Der Mond war nicht hell genug, immer wieder verloren wir die Festung aus den Augen.
»Warum können sie das Ding nicht anstrahlen wie alle ordentlichen Sehenswürdigkeiten?«, presste Maik zwischen den Zähnen hervor. Er saß hinten und paddelte rechts, während ich ganz vorne kniete und das Ruder links ins Meer tauchte. Wir hatten vor einer Weile unseren Rhythmus gefunden, drohten ihn aber wieder zu verlieren, weil die Muskeln schmerzten und zuckten.
»Soll ich mal?«, fragte Lena.
»Nein«, keuchten Maik und ich gleichzeitig.
»Nach links«, kommandierte Selina, die die Augen zusammenkniff und am besten von uns sah, wenn auch nur einen Schemen. »Ein Stück nach links.«
»Maik paddelt einfach zu schwach«, knurrte ich.
»Ach ja?« Er legte richtig los, schaufelte Wasser laut platschend hinter uns, das Boot schlenkerte, und wir verloren völlig unsere Richtung.
»Jungs!«, zischte Selina.
»Ja«, sagten wir und passten unseren Rhythmus wieder aneinander an.
Tagsüber vom Land aus hatte es nicht so weit ausgesehen, wir mussten bereits über eine Stunde unterwegs sein. Wir paddelten und paddelten, fast glitt mir der glatte Aluschaft aus den verkrampften Fingern. Er rutschte ein Stück, bis ich wieder fest zupackte. Das Blatt schlug schräg auf die Wasseroberfläche, es spritzte.
»Soll ich dich wirklich nicht …?«
»Nein!« Ich spürte, wie sich Blasen an den Händen bildeten. Erst morgen würde es schlimm werden, und bis dahin waren wir wieder auf dem Heimweg.
»Weiter?«, fragte Maik, während wir langsam vorwärtstrudelten.
»Warte.« Nur zwei Armlängen entfernt schaukelte ein Hut über die Wellen, hell und aus Stroh, so wie Mutters Hut gewesen war. Im schwachen Licht sah er arg ramponiert aus, als sei er schon ewig unterwegs.
»Das gibt’s nicht«, murmelte ich und starrte ihm hinterher, wie er ganz langsam vorbeizog. Plötzlich packte ich das Paddel, um ihn einzufangen, aber dann ließ ich ihn treiben. Bestimmt war es ein anderer Hut, Strohhüte gab es Millionen.
Die wenigsten gehen im Meer verloren.
Gegen jede Vernunft und Statistik war ich überzeugt, dass es Mutters Hut war. Er war weit gekommen, und das hieß, Christophs Asche konnte überallhin gelangen.
»Was gibt’s?«, fragte Selina.
»Nichts.« Lächelnd tauchte ich das Paddel ins Wasser.
Endlich erreichten wir die Insel. Wir stiegen aus dem Boot und zogen es auf den Felsen. Selina hob den Beutel heraus, der inzwischen die anderen drei und alle Asche enthielt. Niemand machte ihr das streitig. Lena nahm den angebrochenen Kanister Wein.
Auf halbem Weg hatten wir kurz überlegt, die Asche vom Boot aus ins Meer zu kippen, aber nur sehr kurz. Es schwankte, und das Gummi quietschte bei viel zu vielen Bewegungen, niemand konnte auf dem wankenden Boden richtig stehen. Die Hälfte der Asche hätten wir wohl ins Boot geschmissen.
Die verlassene Festung erhob sich massiv vor uns, es roch nach feuchtem Stein. Am Fuß der Mauer schritten wir bis zum vorderen Ende der Insel, das dem offenen Meer zugewandt war. Sanfte Böen bliesen uns ins Gesicht und flauten wieder ab, kamen erneut und verloren sich irgendwo. Ich war froh, dass keine Windstille herrschte, es hätte Christoph gefallen.
»Halt!«, rief Maik. »Nicht hier! Hier bläst’s uns die Asche direkt ins Gesicht. So wie in dem einen Film, ich weiß nicht mehr, in welchem. Ist schon alt.«
Wir starrten ihn an, jeder fassungslos, dass er nicht selbst daran gedacht hatte.
»Fargo«, sagte ich, obwohl ich ihn nicht gesehen hatte, zumindest nicht bewusst. Höchstens aus Versehen reingezappt.
»Nein. Irgendwas mit Big. Großer Ärger oder …«
»Big Fargo?«
»Klärt das später«, bestimmte Selina und ging mit dem Beutel in der Hand weiter um die Insel. Zwischen den Schießscharten über uns pfiff es. Es klang, als würde es gleich zu heulen beginnen, doch dann verstummte alles. Wir gingen, bis wir den Wind im Rücken hatten und die Festung ihn von uns abhielt.
Vorsichtig leerten wir die drei eingepackten Beutel in den vierten und vereinten so Christophs Asche wieder, bevor die See sie in alle Welt zerstreuen würde. Auf beiden Seiten der Bucht und weiter die Küste hinab brannten Straßenlaternen und Licht in Fenstern, aber hier draußen war es trotz des Leuchtturms auf der Nachbarinsel dunkel. Der Himmel war unglaublich klar, die Sterne strahlten hell. Mit einem Auge wartete ich auf eine Sternschnuppe, und als sie erschien, wünschte ich Christoph lautlos eine gute Reise.
Wir wollten es anders machen als auf der Beerdigung, ohne die großen Reden. Weniger, aber auch nicht stumm. Jeder sollte einen oder zwei Sätze sagen, aber mir fielen nur Floskeln ein, und dafür hasste ich mich.
»Du warst das Beste, das mir passiert ist«, sagte Selina und nahm sich eine Handvoll Asche. »Ich liebe dich, und ich werde es immer tun.« Sie ließ die Asche ins Meer gleiten und tauchte anschließend die Hand hinein. »Wo auch immer du jetzt bist.«
Wellen leckten über das Ufer, und Selina gab Lena den Beutel.
»Ich hatte gehofft, dich irgendwann richtig kennenzulernen«, sagte sie und holte eine Handvoll Asche heraus. »Trotzdem habe ich dich geliebt. Danke, dass du mir vertraut hast.« Sie beugte sich zu den Wellen hinab und warf die Asche hinaus, wusch dann die Reste von der Hand. Als sie mir den Beutel gab, berührten sich unsere Finger kurz. Keiner zuckte.
Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, was ich nicht schon gedacht hatte. Zu vieles jagte durch meinen Kopf, kein einziges Wort schien angemessen. Wie sollte ich da einen ganzen Satz bilden? Zwei sogar? Wahrscheinlich hätte er über mein Grübeln gelacht, wie er es immer getan hatte, und vielleicht hätte ich ihm genau diesen einen Lacher mit auf den Weg geben sollen. Aber in dem Moment ging es um die Wahrheit, um das, was er mir bedeutet hat, und das war bestimmt kein Witz auf meine Kosten. Warum hast du mir das mit deinen Eltern verschwiegen? Auch das brachte ich nicht über die Lippen, auch nicht das Wort Liebe, nicht gegenüber einem Jungen. Also grub ich meine Hand in den Beutel und sagte mit rauer Stimme: »Du warst mein Bruder und wirst es immer sein.«
Die Asche war leichter und feiner, als ich mich erinnerte, so staubig und wenig, was von einem blieb. Ich schloss die Hand fest, ging in die Knie und ließ die Asche frei, wie ein kleines unbeholfenes Tier, das zum ersten Mal außerhalb des Gatters ausgesetzt wird. Die Reste, die auf der Haut kleben blieben, ließ ich von den Wellen fortspülen, er sollte ganz ins Meer gehen, wie er es sich gewünscht hatte.
Maik nahm sich die Asche und schwieg lange. Dann sagte er: »Ich werde dich tierisch vermissen, verrückter Hund, aber wenn sich sonst keiner traut, sag’s ich: Warum bist du blöder Idiot ohne Licht gefahren? Ich hab’s dir gesagt, und ich fühl mich nicht schuldig, nicht mehr. Das kannst du vergessen. Und jetzt treib in jeden Winkel der Welt. Ich lass dir ordentlich Vorsprung, aber in ein paar Jahrzehnten komm ich nach, und dann hol ich dich immer noch ein.« Mit einer schnellen Bewegung warf er die Asche in den Wind, ließ sie von ihm hinauswehen.
Ich presste vorsichtshalber die Lippen zusammen – auf keinen Fall wollte ich etwas von Christoph schlucken. Doch der Wind drehte nicht, sondern trug die Asche von uns fort.
Selina nahm mein Handy und ging auf YouTube. Dort gab sie Don’t Fear the Reaper ein, und der Song, den Christoph sich für seine Beerdigung gewünscht hatte, schepperte in die Nacht.
Gemeinsam hielten wir den Beutel und kippten den Rest ins Meer. Wir blickten auf die schwarzen Wellen hinaus, und ganz langsam begannen wir den Song mitzusummen. Keiner kannte den Text, aber es gab genug lalala, und der Refrain wurde oft wiederholt, wie ein Mantra: Don’t fear the Reaper. Lauter und lauter wurden wir, ich sang so falsch wie immer, Maik und Selina trafen den Ton, und Lena klang wunderschön, eine klare, helle zweite Stimme hoch über dem Sänger. Sie zog uns alle mit, und als der Song vorbei war, sagte Selina leise: »Danke.«
»Deine alte Band spinnt«, sagte ich. Mehr nicht, ich hatte einen Kloß im Hals.
Wir tranken den Wein aus dem mitgebrachten Kanister und schütteten einen kräftigen Schluck in die Wellen. Für Christoph.
»Jetzt holt ihn keiner mehr zurück«, sagte Maik. »Keiner sperrt ihn wieder ein.«
Das klang, als wäre er frei. Niemand sagte das, doch keiner widersprach Maik.
Dann paddelten wir an Land und brachten das Boot in den Garten zurück. Hinter der Terrassentür brannte kein Licht mehr, die Eimer lagen noch immer herum. Wir fuhren ein Stück aus der Siedlung hinaus und legten uns an ein verlassenes Ufer. Wir wollten Christoph noch einmal so nahe wie möglich sein.