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»Hast du gut geschlafen, Jan?«, fragte meine Mutter und stellte einen Becher Kaffee an meinen Platz.

Es war sieben Uhr, in zwanzig Minuten musste ich zur Schule. Meine Mutter musste heute nicht aus dem Haus, war aber mit Jeans und Bluse richtig angezogen, wie immer. Sie war auch geschminkt, das blonde Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden. Während ich mich setzte, blieb sie zwischen Kühlschrank und Kaffeemaschine stehen und musterte mich mit den graublauen Augen, die kleine Lügen viel zu leicht entdeckten.

»Ja«, sagte ich, obwohl ich fast gar nicht geschlafen hatte, und sah dabei den Becher an. Niemand hatte mitbekommen, dass ich nachts ausgebüxt war, aber auch danach hatte ich noch wachgelegen, bis die ersten Vögel zu singen begannen. Ich wusste nicht, warum es immer heißt, sie würden singen – für mich klang es wie ein ewig gleiches Schimpfen.

Mutters ständige Fragen, ob ich gut geschlafen hätte, gingen mir auf den Keks, und ich antwortete immer mit Ja. Wenn ich Nein sagte, änderte das auch nichts, aber dann fragte sie: Warum?

Ich wollte nicht reden, nur meine Ruhe haben, und in der Schule würden mich noch genug Leute nerven. Warum müssen Mütter sich immer Sorgen machen?

»Gut«, sagte sie, obwohl sie meine Augenringe bemerken musste. Sie sah darüber hinweg, mein Ja langte ihr. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich damit zumindest den Willen bewies, gut zu schlafen, und wo ein Wille war, da war ein Weg, wie es so schön hieß.

»Willst du Müsli oder Brot?«

Ich wollte weder noch, sagte aber: »Brot.« Weil es nur eine Silbe hatte.

Ich aß langsam und schweigend, sie sah mir dabei zu. Ich fragte nicht, worüber sie gerade schrieb, sie hatte es mir bestimmt schon gesagt. Irgendwas mit Wasser oder Schmelzöfen, aber vielleicht war das auch letzten Monat gewesen.

Mein Vater schaute herein, noch im Schlafanzug, ungekämmt und ohne Brille, er musste erst nach mir aus dem Haus. »Na, wie hast du geschlafen, Junge?«

»Gut.«

»Na bitte«, sagte er, als hätte er mir damit etwas bewiesen. »Wo ist deine Schwester?«

»Pia hat erst zur zweiten Stunde«, antwortete meine Mutter und deutete auf die ausgedruckten Stundenpläne an der Pinnwand neben der Tür. Darunter hing ein zwei Jahre altes Urlaubsfoto von uns vieren am Strand, auf dem wir alle lachten. Einen Augenblick später war Mutters Hut davongeweht worden, raus auf die Wellen, ein neuer heller Strohhut mit rotem Band. Pia und ich waren um die Wette gerannt und geschwommen, doch weder sie noch ich konnten ihn einholen. Manchmal machten wir noch immer Witze darüber und sagten bei Fernsehdokumentationen, gleich schwimmt Mamas Hut ins Bild. Kein besonders lustiger Witz, aber wenn ihn einer bringt, fühlen wir uns wohl. Der Witz verbreitet das Gefühl von Familie, von den schönen Seiten. Er ist so alt und vertraut.

Mein Vater eilte ins Bad, um sich zu duschen, bevor Pia aufstand.

»Ich muss dann jetzt«, sagte ich, klappte das angebissene Brot zusammen, nahm es in die Hand und stürzte zur Tür. Ich musste hier raus, aber wenn ich nicht aufaß, sahen mich die graublauen Augen wieder so an, und das ertrug ich nicht. Natürlich hätte ich es auch nicht ertragen, wenn sie mich nicht angesehen hätte. Nicht mal den Gedanken an ihren Hut ertrug ich. Ich musste raus, bevor ich noch losschrie.

»Fahr nicht einhändig!«, rief sie mir hinterher, als könnte ich das Brot auch mit der Nase oder den Ohren halten. »Und fahr vorsichtig!«

»Ja.«

»Und viel Spaß!«

Natürlich.

Die Tür zur Garage fiel hinter mir ins Schloss. Ich klemmte die Schultasche auf den Gepäckträger und radelte los. Sobald ich im Tritt war, löste ich beide Hände vom Lenker. Früher war ich fast nur freihändig gefahren, die Arme verschränkt oder lässig in die Taschen gehakt, und trotzdem die volle Kontrolle. Ich hatte es getan, weil es einfach cooler war, nun tat ich es, um meine Mutter zu ärgern. Die Arme ließ ich einfach hängen.

Als ich aus ihrem Sichtfeld geraten war, warf ich das Brot in den Rinnstein und legte die Hände zurück auf den Lenker. Sollten sich irgendwelche Vögel darum streiten.

Die Schule war in der nächstgelegenen Kleinstadt, knapp fünf Kilometer entfernt. Dafür brauchte ich an guten Tagen zehn, an schlechten dreizehn Minuten. Es fuhr auch ein Schulbus, etwa hundert Meter vor unserer Haustür, aber den hatte ich seit Wochen nicht genommen. Ich hatte keinen Nerv, mit den anderen zu warten, zu labern und neben ihnen zu sitzen. Auf dem Rad hatte ich meine Ruhe.

In der Schule waren die meisten Arbeiten geschrieben, und die meisten Lehrer ließen mich wegen Christoph in Ruhe. In Mathe bekam ich eine Klausur zurück, zwei Punkte, eine glatte Fünf. Bislang hatte ich auf einer Eins gestanden, mein bestes Fach, ich hatte Zahlen schon immer geliebt. Wenn ich eine sah, versuchte ich irgendwelche Reihen oder andere Verbindungen zwischen ihren Ziffern festzustellen, ich drehte sie um wie ein Spielzeug. Von klein auf hatte ich die Stufen jeder Treppe gezählt, die ich hochgestiegen war oder runter.

»Jan?«, fragte Herr Riedmüller und sah mich prüfend an. Ich zuckte mit den Schultern, und er ging zum Nächsten im Alphabet weiter.

Ich starrte aus dem Fenster und dachte darüber nach, warum ich das verdammte Auto nicht angezündet hatte. Bis zum Unterrichtsende fand ich keine Antwort.

»Kommst du mit an den Baggersee?«, fragte mich Knolle auf dem Weg nach draußen.

»Ich kann nicht.« Letzte Woche hatte ich am See erst Spaß gehabt und mich dann scheiße gefühlt, weil Christoph nicht dabei gewesen war. Es war irgendwie falsch ohne ihn. Und ich wollte nachher noch einen Brief schreiben, aber davon sagte ich nichts.

»Mann, Jan.«

»Das nächste Mal wieder«, murmelte ich, aber ich war nicht sicher, ob ich dann Lust haben würde.

»Komm schon. Heut kommen die Mädels sicher.«

»Ich kann nicht, verdammt. Muss meiner Mutter helfen«, log ich.

»Das hat dich früher auch nicht gestört.«

»Vielleicht komm ich nach. Ich ruf dich an«, sagte ich ausweichend. Zum Abschied klatschten wir uns ab.

Auf dem Heimweg kaufte ich im Copyshop einen dieser dämlichen personalisierten Autoaufkleber für Kleinkinder, ein grinsendes Baby im Spielzeugauto mit der Schrift: Tommi auf Tour oder Petra an Bord. Jungs hatten drei Haare, Mädchen eine Schleife. Man konnte jeden Namen anfertigen, aber da ein Tommi vorrätig war, nahm ich Tommi.

Was sollten die Aufkleber eigentlich? Als würde der Raser von rechts, der eine rote Ampel übersieht, den Aufkleber auf der Heckscheibe lesen können und deswegen spontan beschließen, doch erst das nächste Auto zu Schrott zu fahren. Als wäre es nicht so schlimm, ein Auto zu rammen, in dem nur Erwachsene oder Zehnjährige sitzen. Für den Verkehr taugte er nichts, er war einfach ein Ausdruck von übersteigertem Elternstolz.

Dazu holte ich noch einen fetten schwarzen Permanentmarker, ich wusste nicht, ob ich meinen gestern nicht fast aufgebraucht hatte.

Anschließend ging ich zu Hobby Hubert, wo ich zu Grundschulzeiten mein Eisenbahnzubehör gekauft hatte, und dann mit Christoph zusammen Modelle von Flugzeugen und Kriegsschiffen, bis wir zu alt dafür geworden waren.

Christoph und ich saßen am Ufer des Goldbachs und hatten alle Modelle zur letzten großen Schlacht versammelt. Es war kühl, und das Wasser plätscherte. Wir klemmten übrig gebliebene Silvesterkracher in Rümpfe und zwischen Bomben und Flügel oder setzten die kleineren auf den Platz des Co-Piloten. Den letzten Kanonenschlag versteckten wir im Bug eines Flugzeugträgers.

»Schade, dass wir keine Titanic haben«, sagte Christoph.

»Dann bräuchten wir auch einen Eisberg«, sagte ich.

Dann zündeten wir eine Lunte nach der anderen an, jagten die Modelle in die Luft und lachten uns über das deformierte Plastik kaputt.

Vögel stoben auf, auf der anderen Bachseite bellte ein Hund.

»Tot! Tot! Tot!«, schrien wir die kleinen zusammengeschmolzenen Piloten an.

»Krass! Dem ist der ganze Kopf runtergetropft.« Christoph lachte.

»Und der hat so einen fahren lassen, dass sein ganzer Arsch weggebrannt ist!«

Das letzte Flugzeug hielt Christoph in der Hand, bis die Lunte fast abgebrannt war; dann warf er es. Es explodierte in der Luft. Die Plastikteile spritzten in alle Richtungen. Als alle Modelle zerstört waren, sahen wir uns das Schlachtfeld an, ließen die Reste liegen, stürmten heim, kratzten unser Taschengeld zusammen und radelten zu Hobby Hubert. Wir brauchten dringend neue Modelle.

Und jetzt war ich wieder hier. Ich zählte mein Geld, es reichte noch für vier kleine Modellfahrräder aus Plastik. Der junge Hubert an der Kasse erkannte mich nicht und steckte mir noch einen dicken Prospekt mit Eisenbahnzubehör in die Tüte.

Zu Hause schloss ich mich in meinem Zimmer ein und ließ Eminem laufen; the Slim Shady LP, da klang er wütender und roher als auf den aktuellen Scheiben.

I cocked the broomstick back and swung hard as I could

and beat him over the head with it til I broke the wood.

Knocked him down, stood on his chest with one foot …

Mit Aufkleber, Marker und Plastikrädern setzte ich mich an den Schreibtisch und übermalte Tommis grinsende Babyfresse sorgfältig mit einem schwarzen Totenschädel. Keinen Fetzen des widerlich süßen Lächelns ließ ich unbedeckt, die Augenhöhlen übermalte ich wieder und wieder, als könnte ich sie so noch schwärzer machen. Löcher ins ewige Nichts.

Aus dem Schriftzug exte ich das …mmi heraus und ersetzte es durch …d. Dafür nahm ich große Druckbuchstaben und ein Lineal zu Hilfe – so konnte kein Grafologe die Schrift mehr zuordnen, hatte ich mal gehört, es machte sie zu unpersönlich.

Die Botschaft war es nicht.

»Tod auf Tour«, murmelte ich und betrachtete den Aufkleber. Er sah gut aus, ich hatte nur die drei Haare übersehen, die jetzt albern von der Schädelplatte abstanden. Hastig exte ich auch sie weg.

I’m the one who burned your house down.

Well I’m out now …

Meine Mutter klopfte an die Tür und rief: »Willst du nicht rausgehen? Die Sonne scheint so schön.«

»Später.«

»Pia ist auch draußen.«

»Später!«

»Gut.«

Ich steckte den Aufkleber in einen A5-Umschlag und klebte die Adresse von Herbert Gerber auf. Dafür nahm ich aus der Zeitung ausgeschnittene Buchstaben. Nicht, um nicht erkannt zu werden, sondern weil ich mir vorstellte, wie er die Sendung aus dem Briefkasten fischte und seine Anschrift aus Schnipseln entdeckte. Ausgeschnittene Buchstaben waren ein Klischee, und Klischees wirkten. Ich stellte mir vor, wie er sofort an Krimis dachte, beunruhigt, verängstigt. Wie er dachte, irgendwer sei entführt worden, seine Frau oder Tochter oder Mutter oder Cousine oder Geliebte. Diesen Augenblick, bis er den Brief aufriss, sollte er Angst haben, meinetwegen auch vor einer Morddrohung, ganz egal. Hauptsache Angst.

Für die Hausnummer verwendete ich normale arabische Ziffern.

Dann legte ich ein Plastikrad auf den Schreibtisch und schlug es mit der bloßen Faust in kleine Stücke. Ich schlug so fest zu, dass sich der Lenker schmerzhaft in mein Fleisch bohrte, auch die winzigen Pedale. Blut tropfte auf das helle Fichtenholz, der Permanentmarker rollte zu Boden, die Dose mit den Stiften hüpfte scheppernd auf der Stelle. Ich verfluchte den Schmerz und schlug wieder zu, wieder und wieder.

Fester und fester.

Die Dose fiel um, die Stifte ergossen sich über die Platte und weiter auf den Boden. Mit voller Wucht trat ich den erstbesten kaputt.

»Jan?« Erneut klopfte meine Mutter und rief auf dem Flur. »Was machst du da?«

»Hausaufgaben.«

»Hausaufgaben?«

»Ja, Kunst. Ein Objet trouvé.«

»Aha.« Sie klang nicht, als wüsste sie, was das war. »Und das muss so laut sein?«

»Nur noch ein bisschen.«

»Geht das nicht auch in der Garage oder im Vorraum?«

»Nur noch ein bisschen.«

»Na gut.« Vielleicht dachte sie, ich würde mir einen runterholen, wegen der verschlossenen Tür, aber ich hoffte, dann hätte sie gar nicht erst geklopft, sondern mich einfach in Ruhe gelassen. Außerdem war man dabei nicht so laut, niemand hämmerte dabei.

Ich starrte auf die Plastikstückchen. Man konnte noch erkennen, dass es ein Fahrrad gewesen war. Auf einigen Teilen war Blut, und das machte die Sache noch viel besser – echter. Aber dann dachte ich, dass Gerber den Brief bestimmt der Polizei zeigen würde, und die würde eine DNA-Analyse machen, und so leicht wollte ich mich nicht überführen lassen. Also schmiss ich das kaputte Rad weg, wischte das Blut von meiner Hand und klebte ein Pflaster darauf.

Das zweite Rad zertrümmerte ich mit dem Locher. Ich hatte einen richtig großen, schweren, der ständig klemmte und bei jeder Bewegung quietschte, den ich aber nicht wegwarf, weil ich ihn aus Großvaters Nachlass mitgenommen hatte, als ich sieben gewesen war. Mit einem Lineal schob ich die Bruchstücke in den Umschlag und klebte ihn zu. Dann steckte ich ihn mir unter dem T-Shirt in die Hose und ging los.

»Wo gehst du hin?«, rief mir meine Mutter hinterher.

»Raus. War doch deine Idee.«

»Bist du zum Essen wieder da?«

»Ja.« Damit sagte ich nicht, zu welchem Essen. Woher sollte ich das jetzt schon wissen?

Ich fuhr mit dem Rad drei Dörfer weiter, damit mich der Poststempel nicht verriet, zog eine Marke aus dem Automaten und warf den Brief ein.

Auf dem Heimweg setzte ich mich an den Goldbach und zündete mir eine Kippe an, weil auf der Tabakpackung stand, Rauchen sei tödlich, weil ich Christoph nahe sein oder dem Tod ins Gesicht spucken wollte. Oder einfach nur, weil ich irgendetwas anzünden wollte. Rauchend wartete ich auf den Sonnenuntergang.