16
Der Anruf von Selinas Mutter erreichte uns im Schwarzwald, den ich mir viel dunkler vorgestellt hatte, mit dichten Baumkronen, die alle Sonne schluckten, und undurchdringlichem Unterholz, wenigen Häusern und großen Waldgebieten, als könnten dort noch wilde Wölfe leben und vielleicht auch ein Bär. Doch alles, was ich von der Straße aus sah, war der gleiche lichte Nutzwald wie bei uns, immer wieder von Feldern und Dörfern unterbrochen. Wenn er doch irgendwo wild wirkte, war der nächste Busparkplatz für Touristen nicht weit.
Mittlerweile stand die Sonne so hoch, dass sie zwischen den Wipfeln hindurch auf die Straße schien. Ich fror schon lange nicht mehr.
Wir hielten am Straßenrand, und Selina riss sich den Helm vom Kopf.
»Mama, hi«, rief sie ins Handy. Sie klang erfreut und fröhlich, aber ihre Haltung war angespannt. »Hast du gut geschlafen?«
Die Mutter sagte irgendwas, das wir nicht verstehen konnten. Selina hielt den Blick gesenkt und ging zwei Schritte weg von der Straße.
»Aber ich hab dir doch einen Zettel geschrieben.« Nun klang sie völlig überrascht, aber auch entschuldigend und unterwürfiger, als ich es von ihr kannte.
(…)
»Doch, ganz bestimmt! Er liegt auf dem Küchentisch, damit du ihn gleich siehst. Auf deinem Platz.«
(…)
»Nicht? Aber … tut mir leid, ich hab ihn versehentlich eingesteckt. Ich hab ihn hier. Dabei war ich so sicher, dass … Tut mir wirklich furchtbar leid.« Selina klang aufrichtig zerknirscht, ich hätte ihr ohne Weiteres geglaubt. »Ich helfe einer Freundin, die neu ist und noch nicht so viel Anschluss hat, weil sie schüchtern ist. Sie soll für ihre Mutter ein paar Dinge bei ihrer Tante abholen, und sie wollte nicht allein fahren. Das hat mit ihrer Familie zu tun, eine furchtbar verfahrene Situation mit Scheidung und Krankheit und verrückten Erbstreitereien, wo eine Katze ein Konto bekommen hat, und jetzt wollen plötzlich alle die Katze, Felix heißt sie, nur irgendein Neffe will sie lieber vergiften, und eine Tante hat das Testament angefochten, aber mit irgendeinem Formfehler, und … Das kann ich dir schlecht alles am Telefon erzählen, ich bin nur froh, dass wir anders ticken.«
(…)
»Nein, ich weiß nicht, wie das rechtlich mit der Katze ist, aber ich will nicht, dass Felix vergiftet wird. Ich hab Fotos gesehen, der ist total süß.«
(…)
»Nein, nicht gefährlich. Ganz und gar nicht, wir fahren ja nicht zu dem Giftmischer. Sie braucht nur eine Außenstehende, die emotional nicht so drinhängt. Und du hast doch gesagt, ich soll wieder mehr unter Menschen gehen, mich nicht mehr verkriechen. Jetzt kümmere ich mich um eine Freundin, und es ist dir wieder nicht recht …« Selina zog einen perfekten Schmollmund. Eigentlich hatte sie nicht viel gesagt, nur dies und das angedeutet, und so vieles, dass ihre Mutter bestimmt nicht durchblickte. Aber wie sie es sagte, war famos. Als wäre sie wirklich besorgt, als wäre das alles wichtig und quälend, als verdiene diese fiktive Freundin alles Mitleid und alle Unterstützung der Welt, und die arme Katze hatte sogar einen Namen. Mit Tieren hatte jeder Mitleid, die Masche zog immer.
(…)
»Kennst du nicht.«
(…)
»Lena.«
Lena hob überrascht den Kopf.
(…)
»Aus München.«
(…)
»Was?«
(…)
»Nein, keine Drogen.«
Die Pausen, in denen Selina nicht sprach, wurden länger. Ihre Mutter schien das Gespräch an sich zu reißen, Selina wirkte immer defensiver. Ihre Mutter schien mehr und mehr zu sagen zu haben. Ich glaubte nun manchmal ihre Stimme zu hören, die spitz aus dem Handy strömte. Verstehen konnte ich noch immer nichts.
»Das ist gerade ungeschickt … Nein, wirklich …«
(…)
»Okay.« Sie nahm das Handy vom Ohr, hielt es zu und drehte sich verzweifelt zu Lena. »Sie will dich sprechen. Unbedingt.«
»Kein Problem.« Lächelnd streckte Lena die Hand aus und nahm das Handy. »Grüß Gott, Frau Schmidtbauer. Wie geht’s Ihnen?« Plötzlich klang sie sehr viel münchnerischer als sonst. Jedes Wort war nun vom bayrischen Dialekt gefärbt, und sie sprach laut und selbstbewusst, wie man es von einem Münchner erwartete.
(…)
»Ja, die Selina ist ein Schatz. Ohne sie würde ich das hier nie packen, nicht nachdem mein Vater uns sitzen hat lassen. Und jetzt mit meinem verrückten Cousin, das hätte ich nie gedacht, er war immer so nett. Meine Cousinen sind völlig fertig, die sind auch noch jünger, und verstehen es nicht, gerade das mit Felix, den hat mein Onkel eigentlich der Susi geschenkt, ihm bedeutet das Tier nichts, und Susi hat Felix versteckt, und jetzt ist er ausgebüxt, oder Jochen hat ihn sich gekrallt, und das verstehen Susi und Elena noch weniger und … Ach, ich fang schon wieder an zu plappern, und Sie kennen ja meine Familie gar nicht, ich will Sie damit gar nicht vollquatschen. Ich bin nur so froh, Selina an meiner Seite zu haben, sie ist die beste Unterstützung, die man sich nur vorstellen kann.«
(…)
Lena lachte gequält. »Ja, das ist ein riesiges Durcheinander, ich blicke selbst nicht ganz durch.«
(…)
»Danke. Das hoffe ich auch. Und meiner Mutter richte ich aus, dass sie sich bei Ihnen melden kann. Vielen Dank noch mal.«
Ich sah dem Gespräch zu und beschloss, nie wieder einem Mädchen zu glauben. Ich hätte schon längst gestammelt und gezögert, ich konnte höchstens Dinge verschweigen, aber noch nicht einmal das besonders gut.
»Wunderbar, Frau Schmidtbauer«, sagte Lena. »So machen wir das. Nur noch eine Frage: Wenn meine Tante uns bittet, ein bisschen zu bleiben, weil sie seelischen Beistand braucht, vor allem wegen Susi, könnte Selina dann vielleicht bei mir übernachten?«
(…)
»In Eching.«
(…)
»Wunderbar, danke. Auf Wiederhören, Frau Schmidtbauer. Bis dann. Und ich gebe Ihnen Ihre Tochter noch mal.« Lena reichte Selina das Handy.
»Mama?«
(…)
»Ja, ich melde mich. Auf jeden Fall, versprochen. Danke, du bist die Beste.« Und damit legte sie auf und wandte sich an Lena: »Danke.«
»Das war leicht. Ich musste nur freundlich sein und bla bla bla, Katze, Tränendrüse, bla bla bla. Um ein richtiger Big Brother zu werden, muss deine Mutter noch viel lernen.«
»Mir reicht’s. Wenn ich heimkomme, muss ich ihr alles haarklein erzählen, von Felix und Susi, dem Neffen und allem. Da brauche ich Stunden, um mir das auszudenken.«
»Wenn du magst, helf ich gern.«
»Danke.«
Sie lächelten, und ich fragte mich, ob das noch immer gelogen war. Obwohl ich eine Schwester hatte, hatte ich Mädchen nie verstanden. Zumindest waren wir der mütterlichen Bespitzelung entronnen.
Mittags machten wir wieder Pause, abseits der Straße und am Rand eines Waldes, nur halb im Schatten der Bäume. Als Erstes riss ich mir die Gummistiefel von den Füßen und sah nach, ob sie nicht doch zwei Nummern zu klein waren, so wie sie drückten. Wir setzten uns im Kreis und aßen von dem, was wir uns im letzten Supermarkt gekauft hatten. Die Sonne knallte inzwischen vom Himmel, wir schwitzten und fühlten uns faul wie Reptilien. Wir taten nichts Anstrengenderes, als die Flasche zum Mund zu führen.
»Siesta«, sagte Lena und legte sich auf den Rücken. Den kurzen Rock zupfte sie ein Stück nach unten, und trotz der Hitze behielt sie die Strumpfhose an.
Selina legte sich neben sie, Maik blieb einfach sitzen und zog die Beine an. Im Handy checkte er seine Mails und Facebook und antwortete irgendwas. Auch Selina zog ihr Handy hervor und tippte. Ich hatte nur zwei unwichtige SMS und war als Erster fertig.
Mein Körper kribbelte vor Müdigkeit, aber ich legte mich nicht hin. Auch wenn ich mich wie in Zeitlupe fühlte, ich war aufgekratzt, nicht fähig, die Augen zu schließen. Das Essen hatte mir Energie gegeben, ich konnte nicht dösen.
Zwischen den letzten Bäumen, noch zwanzig oder dreißig Meter weiter von der Straße entfernt, stand ein offener Hochsitz. Ich ging hinüber. Das Holz war matt und trocken, die Rinde abgebröckelt. Als ich an den Stangen rüttelte, wackelte er kaum. Ich rüttelte fester, er schien stabil. Vorsichtig kletterte ich hinauf.
Er war so breit, dass wir bestimmt zu dritt auf der Bank Platz gefunden hätten. Ich setzte mich in die Mitte, legte die ausgestreckten Arme auf den Querbalken und sah hinab. Vor mir erstreckte sich ein Gerstenfeld, die Ähren waren trocken braun und zur Ernte bereit. Am Himmel zeigte sich noch immer keine Wolke, kein Lüftchen regte sich. Ich dachte an die brütende Mittagshitze in Horrorfilmen.
Da, wo meine Arme lagen, ruhte sonst das Gewehr des Jägers. Zumindest stellte ich mir das vor, ich war noch nie auf der Jagd gewesen.
Langsam krümmte ich die letzten drei Finger und streckte den Zeigefinger aus. Ich kniff das linke Auge zu und nahm den Daumennagel als Kimme. Noch immer lag das Feld reglos da. Hoch oben segelten Vögel durch das Blau, aber ich hob den Arm nicht. Ich hielt ihn weiter auf das Feld gerichtet, wo der Jäger in der Morgendämmerung Rehe oder Hasen finden mochte, vielleicht auch einen Fuchs. Ich stellte mir stinkende Zombies vor, die sich torkelnd ihren Weg durch die Ähren bahnten, die Köpfe umkreist von grünlich schillernden Fliegen, und drückte ab.
»Phhwww.«
Wie als Kind, wie am Rechner.
Fliegen taten nichts, und die Lebenden wurden von Stechmücken umkreist. Was sagte das über das Leben?
Ich malte mir aus, wie Gerber unten durchs Feld stakste, die Hände blutig rot, aber ich konnte mir sein Gesicht nicht vorstellen, und so hatte er einen breitkrempigen Strohhut tief in die Stirn gezogen, alles bis zum Kinn lag im Schatten. Weil ich ihn nicht erkennen konnte, drückte ich nicht ab.
»Was machst du?«, rief Maik, der plötzlich unter dem Hochsitz stand.
»Nichts.« Fast hätte ich den Finger auf ihn gerichtet, das wäre peinlich gewesen. Ich ballte die Fäuste, die Zombies und Gerber waren verschwunden.
»Ich dachte, du hättest was gesagt.«
»Nein.« Maiks Pistole kam mir in den Sinn, aber der Gedanke daran gefiel mir nicht. Vor meinem geistigen Auge steckte er sie sich wieder in den Mund, und diesmal drückte er ab. Der Schädel platzte in einer Fontäne aus Rot und Grau, wie ich es bei zahlreichen Zombies gesehen hatte; aber das hier wollte ich nicht sehen. Ich schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden.
Maik kletterte zu mir hoch und setzte sich neben mich. »Mann, da gehst du als ahnungsloses Reh unten vorbei, und dann … bamm!« Er schoss mit dem Finger auf die reglosen Ähren.
»Hast du schon mal gejagt?«, fragte ich.
»Nur Blechdosen mit ’nem Luftgewehr.«
»Ja, die Blechdosen sind eine wahre Plage, die müssen ausradiert werden.«
»Einmal hab ich auch einen Vogel erwischt, einen Spatz, glaube ich. Da war ich noch in der Grundschule, und mit Schorre und anderen Älteren in der Kiesgrube. Die haben gesagt, ich würde mich nicht trauen, und dann bräuchte ich nächstes Mal nicht mitzukommen. Da habe ich geschossen. Ich hab nicht richtig getroffen, und er hat am Boden gezetert und mit einem Flügel gezuckt und weiter gezetert. Ich konnte nicht noch mal schießen, obwohl das sein Leiden beendet hätte. Schorre hat gelacht und ist hingelaufen, um dem armen Kerl beim Sterben zuzusehen. Ich konnte das nicht und bin heimgerannt.«
Ich sagte nichts. Am Himmel jagten Vögel umher, ich konnte nicht erkennen, ob es Spatzen waren.
»Eigentlich hätte ich dazugehören können, ich hatte geschossen und getroffen, das getan, was sie mir nicht zugetraut hatten. Und dann bin ich am Zuschauen gescheitert, was doch viel einfacher sein sollte, weil man ja nichts tun muss. Ich konnte trotzdem nicht, hab das arme Tier also völlig umsonst getötet.« Er sammelte Speichel und spuckte hinab. »Das würde ich heute nicht mehr machen. Heute würde ich auch nicht mehr zu Schorre und den anderen gehören wollen.«
Ich schnaubte zustimmend, obwohl ich diesen Schorre überhaupt nicht kannte.
»Hast du schon mal auf Tiere geschossen?«, fragte Maik.
»Nein. Ich hab früher nur Insekten gefangen und in große Gläser gesperrt, immer zwei in eines. Kreuzspinne und Weberknecht, Käfer und Stechmücke, Wespe und Spinne. Ich wollte schauen, wie sie kämpfen und wer gewinnt. Weil ich dachte, dass ein Weberknecht allein keine Chance hat, habe ich drei zu einer Kreuzspinne gesperrt, aber die haben sich nicht verbündet, und am nächsten Morgen hat nur noch die Spinne gelebt.«
Maik lachte und schlug mir auf die Schulter.
Und dann sprachen wir über Belanglosigkeiten, und darüber, wer von uns Französisch sprach und wer schon mal in Frankreich gewesen war. Ich hatte es in der Elften abgewählt und davor mit Mühe eine Drei geschafft. Er war mit seinen Eltern in Paris gewesen und verstand bon jour und adieu und zwei wirklich derbe Schimpfwörter, weil er eine Weile mit einem Franzosen online gezockt hatte.
»Ich hoffe, die Mädels können uns helfen«, sagte er.
»Wäre besser.«
Wir mussten uns vorbeugen, um sie durch die Äste erkennen zu können. Sie lagen inzwischen auf der Seite, um ein wenig zu dösen, und hatten sich dabei die Rücken zugewandt. Die Gesichter bedeckten sie mit Armen, damit sie möglichst im Schatten lagen. Ich blickte von einer zur anderen und fragte mich, welche Maik ansah.
»Meinst du, die sind gut in Französisch?«, fragte Maik.
»Könnte ich mir schon vorstellen«, sagte ich.
Dann lachten wir und sahen weiter hin.
»Das Leben ist nicht fair.« Maik sprach plötzlich leise. »Da verlieben sich diese beiden Mädels in dich, und du wirst einfach überfahren.«
Darauf gab es nichts zu erwidern. Schweigend starrte ich weiter hinunter. So wie sie dort lagen, wurden ihre Hüften betont. Trotzdem dachte ich an die Asche in den vier Beuteln.
»Meinst du, er hatte was mit beiden?«
»Nein!«, sagte ich scharf. Es war ein Reflex, Christoph zu verteidigen, er hatte nicht betrogen oder gelogen. Er hätte es mir erzählt.
»He, das war nicht bös gemeint. Ich meine, alles, was Lena tut, beweist doch, dass er jederzeit auch mit ihr gekonnt hätte. Und könntest du Lena von der Bettkante stoßen?«
»Wenn ich Selina hätte, ja.«
»Und wenn nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern. Das war rein theoretisch, schließlich war sie ja mit Christoph zusammen gewesen. Nun, vielleicht war er schwach geworden, nur kurz, einmal, betrunken auf einer Party, ein einziger Fehler? Aber daran wollte ich nicht glauben. Im Zweifel für den Angeklagten, und über Tote redete man nicht schlecht – all diese Grundsätze kamen mir in den Sinn. Galten die nicht erst recht für Freunde?
»Ich meine, du hast Selina nicht«, hakte Maik nach und gab dem Gespräch eine ganz andere Richtung. »Du hast keine Freundin, du könntest also stoßen oder nicht, ganz wie du willst.«
Natürlich konnte ich nicht, wie ich wollte – Lena saß nicht auf meiner Bettkante. Keine Lena, keine Selina, und beide sollten da auch nicht sitzen, sie waren Christophs. Aber das Bild von der sitzenden Lena war jetzt in meinem Kopf, die langen Beine übereinandergeschlagen, der Ausschnitt tief und die Lippen rot. Ich wusste nicht, wie ich sie runterstoßen sollte, auch wenn ich musste. Wegen Christoph. Aber es ging Maik eigentlich gar nichts an, wer auf meiner Bettkante saß.
Was löcherte er mich überhaupt? War das nur kumpelhafter Small Talk über hypothetischen Sex, oder wollte er herausfinden, was ich wirklich dachte? Wollte er indirekt nachfragen, ob er mir nicht in die Quere kam?
»Würdest du denn für sie von einer Brücke springen?«, fragte ich also, weil Angriff die beste Verteidigung sein sollte. Erst dann fiel mir auf, dass das eine ganz andere Frage war: Ich fragte, ob er etwas tun würde, mich hatte er gefragt, ob ich mich wehren würde.
»Klar. Macht ja Spaß.« Er grinste. »Und irgendwann muss das ja mal klappen.«
»Du solltest dir echt eine andere Anmachnummer überlegen. Eine, die auch für den Winter und in Clubs und im JUZ geeignet ist.«
»Wahrscheinlich. Aber noch haben wir Sommer, und in Frankreich wird’s schon ein paar Flüsse geben.«
Wieder wusste ich nicht, wie ernst er es meinte. Aber ich wollte, dass er die Finger von Lena ließ – sie war wegen Christoph hier, sie war tabu. Bevor ich etwas sagen konnte, klingelte mein Handy.
»Wo steckst du, Mann?«, rief Knolle. »Ralph hat was von einer Nummer im Maisfeld gesagt. Lässig, Alter, richtig lässig.«
»Was?«
»Sag schon, mit wem bist du gestern verschwunden?«
»Mit niemandem.«
»Wenn du meinst.«
»Ich seh doch, dass hier niemand ist!«
Maik grinste und deutete mit beiden Händen auf sich. »Das nenne ich blind.«
»War das ’ne Stimme?«, fragte Knolle. »Da ist doch ein Typ bei dir.«
»Und?«, blaffte ich. Ich war noch immer sauer auf diese bescheuerte Party. Ihn ging es einfach nichts an, was wir hier taten.
»Komm wieder runter, ich hab doch gar nichts gesagt. Mir ist das egal, wenn du schwul bist. Das erklärt wenigstens, warum ihr euch im Maisfeld versteckt und du dich bei Mädchen so ungeschickt anstellst.«
»Ich bin nicht schwul!«
Maik rief mit verstellter Stimme: »Vorhin hast du was ganz anderes …«
»Klappe!«
Knolle brüllte vor Lachen.
»Ich bin nicht schwul!«
»Ist mir auch recht«, sagte Knolle. »Aber weißt du, wann du wiederkommst? Deine Eltern haben gerade angerufen, und ich hab dich nicht gefunden.«
»Meine Eltern?« Verdammt. »Und du bist rangegangen?«
»Ja.«
»Was hast du gesagt?«
»Dass du einkaufen bist und zurückrufst.«
»Danke.«
»Und wann kommst du jetzt wieder?«
»Könnte noch zwei, drei Tage dauern.« Ich atmete durch. »Tut mir leid, aber das ist wichtig. Tut einfach so, als wäre es euer Haus, habt Spaß, und ich komme, sobald ich kann.«
»Alles okay?«
»Ja.«
»Sicher?« Er klang besorgt, und für einen kurzen Moment dachte ich daran, ihm alles zu erzählen. Von ihm kamen immer die schrägsten Ratschläge, aber sie waren ehrlich und manchmal sogar hilfreich.
»Ja«, sagte ich also nur.
»Okay. Und wenn deine Eltern noch mal anrufen?«
»Sollen sie mich auf dem Handy anrufen. Oder du schickst mir eine SMS, und ich ruf sie zurück. Einkaufen ist ’ne gute Ausrede, sonst sag, ich bin unter der Dusche oder Rasen mähen oder so.«
»Mach ich. Servus.«
»Servus.«
Während ich meine Mutter auf ihrem Handy anrief, kletterte Maik vom Hochsitz. Die letzten zwei Meter sprang er und landete elegant.
»Das habe ich nur für dich getan!« Er warf mir eine unbeholfene Kusshand zu. »Ich werde immer dein süßer Springer sein!«
»Idiot.« Ich lachte.
»Mein Turm!«
»Jan!«, meldete sich meine Mutter. »Ist alles in Ordnung bei euch?«
»Ja«, sagte ich automatisch. Warum klangen Eltern immer so, als würde man das Haus unter Wasser setzen oder abbrennen, wenn sie ein paar Tage weg waren? Die erste Frage galt der Kontrolle, und da sagte man am besten immer Ja, auch wenn meine Mutter meine Lage sicher nicht als in Ordnung bezeichnet hätte. Dann fiel mir ein, dass Knolle unser Bad tatsächlich unter Wasser gesetzt hatte, und ich wurde nervös. Ich hatte Angst, dass sie mich durchschaute, weil ich so knapp antwortete, und dann dachte ich an die famosen Lügen der beiden Mädchen und sagte: »Ja, wirklich alles bestens. Felix geht’s auch gut.«
»Welchem Felix?«, fragte sie, und da hatte ich den Salat. Schon beim ersten Satz versagt.
»Ähm. Lenas Cousine ihre Katze«, stammelte ich und machte es damit nicht besser.
»Welche Lena?«, fragte sie.
»Aus der Schule.« Ich musste aufpassen, was ich sagte. »Die ist neu, und die Katze war verschwunden, aber wir haben sie wiedergefunden.«
»Das ist schön.« Sie schien zufrieden und fragte nicht weiter nach Lena, wie sie es sonst bei jedem neuen Mädchennamen tat. Wahrscheinlich merkte sie ihn sich trotzdem, bis sie zurück war, und löcherte mich dann. Sie erzählte, dass auch der Urlaub und Schweden schön waren, wunderschön, und gab das Telefon reihum weiter.
Pia sagte, sie würde mich vermissen, habe aber schon Freunde gefunden, und wollte gleich wieder raus zu ihnen. Mir blieb nur Zeit für ein: »Tschüs.«
Vater mahnte, wir sollten keinen Unfug anstellen. »Wer ist denn alles da?«
»Knolle und Ralph. Die übernachten auf Matratzen, und ihre Eltern wissen Bescheid.«
»Ist doch gut, wenn er nicht allein ist«, rief meine Mutter im Hintergrund und griff sich wieder das Telefon.
»Mir geht’s wirklich gut. Ganz ausgezeichnet«, betonte ich, während mein Herz laut schlug. »Aber könntet ihr vielleicht nicht jeden Tag anrufen? Sonst denken die anderen, ich bin ein Mamasöhnchen.«
»Ach, Schatz, das wollen wir natürlich nicht. Soll lieber Papa anrufen?«
»Nein, darum geht’s nicht, die sehen ja nicht, mit wem ich rede. Nicht jeden Tag anrufen, darum geht es.«
»Einverstanden. Aber du kannst ja mal anrufen, wenn gerade keiner im Zimmer ist.«
»Mach ich.«
»Wir vermissen dich.«
»Ich euch auch.« Das war die leichteste Lüge, weil es nur eine Abschiedsfloskel war.
Dann folgte ich Maik zu den anderen zurück, sprang jedoch nur die letzten drei Stufen. Ich war barfuß.