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Und dieser Maik, der nachts einfach so von einer Brücke sprang und danach sagte, sterben kann man jeden Tag, dieser verrückte Hund, der keine Angst zu kennen schien, kniete nun zusammengesunken vor Christophs Grab, obwohl die beiden nur lose befreundet gewesen waren. Christoph hatte das Skaten ausprobiert, wie er alles Mögliche ausprobiert hatte, und da hatten sie sich hin und wieder getroffen.
»Es tut mir leid«, sagte Maik wieder, die Stimme war nun fester. Und dann hob er die rechte Hand und mit ihr eine schwere Pistole, die ich bislang nicht hatte sehen können. Seine Hand zitterte, und so nahm er die Linke dazu. Keuchend drückte er sich den Lauf gegen die Stirn, die Kimme nach unten, den Griff nach oben gerichtet. Er zog die Nase hoch und atmete tief durch. Zweimal.
Sterben kann man jeden Tag.
Wie erstarrt glotzte ich auf die Waffe und glaubte, dass Maik noch immer zitterte. Doch das hielt ihn nicht ab, ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, ließ er die Kimme über die Nasenwurzel hinabgleiten und öffnete den Mund, um die Mündung aufzunehmen. Er drückte den Rücken durch und schloss die Augen.
Er wollte sich in den Kopf schießen.
Ohne darüber nachzudenken, was man in einer solchen Situation tun sollte, platzte es aus mir heraus: »Sag mal, spinnst du?«
Augenblicklich zuckte Maik zusammen. Beinahe ließ er die Waffe fallen, sie glitt ihm schon aus der Hand, doch hastig packte er wieder zu, wirbelte herum und fuchtelte – noch immer auf den Knien – mit ihr in meine Richtung. »Wer ist da?«
Ich warf mich hinter dem nächsten Grabstein in Deckung und zerschmetterte mit dem Knie ein Grablicht. Das gesplitterte Plastik zerkratze mir die Haut und stach in die Schürfwunden, die ich mir beim Überklettern der Mauer geholt hatte. Blut quoll heraus. Mein Kinn schlug hart zwischen Blumen auf, süße Pollen drangen mir in die Nase, lockere Erde in den Mund. Zornig spuckte ich sie aus und zischte: »Tu die Waffe weg, du Idiot!«
»Zeig dich!« Auch er zischte mehr, als dass er rief. Ob er die Waffe noch erhoben hielt, konnte ich aus meinem Versteck nicht erkennen.
»Ich bin doch nicht blöd.« Ich zog die Beine näher an den Körper und suchte eine Position, aus der ich aufspringen konnte, sollte er sich nähern. Ich wusste nicht, ob er in seiner Verfassung auf mich schießen würde, und auch nicht, wie ich mich wehren sollte. Aber ich würde mich wehren. Ich musste einfach schneller sein.
Wie kam der Typ nur an eine Waffe?
In mir regte sich Angst. Warum hatte ich nicht einfach die Klappe gehalten? Hätte er doch lieber sich als mich erschossen.
»Zeig dich, Mann!« Seine Stimme wurde drängender, lauter.
»Halt die Fresse, die Schwerdtfeger hört uns noch.« Ich wusste nicht, wieso mir gerade das in den Kopf kam, wieso ich mir darüber Sorgen machte, wieso ich es auch noch aussprach, aber es war keine Situation, in der man klar dachte.
»Jan? Jan, bist du das?«, fragte Maik leise.
»Wer denn sonst?«
»Woher soll ich das wissen? Es ist dunkel, und du versteckst dich.«
»Weil du auf mich zielst!«
»Ich wusste nicht, dass du es bist.«
»Heißt das, auf andere Leute schießt du?«
»Quatsch! Du hast mich erschreckt.« Er klang beleidigt. »Jetzt komm schon raus.«
Vorsichtig lugte ich hinter dem Stein hervor. Er kniete noch immer auf der Erde, hatte jedoch die Waffe sinken lassen. Auch die Schultern hingen wieder herab. Obwohl ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, entschied ich, ihm zu vertrauen. Wir kannten uns, es gab keinen Grund, auf mich zu schießen. Aber welchen gab es, auf sich selbst zu schießen?
Kurz dachte ich an Jenny, die eben einen anderen auf unserer Terrasse küsste, aber so cool wie er damals am Lagerfeuer reagiert hatte, konnte es daran nicht liegen. Und bei wem hatte er sich entschuldigt?
Sterben kann man jeden Tag.
Vorsichtig erhob ich mich, jederzeit bereit, mich wieder hinter den Grabstein zu werfen.
Er ließ die Pistole unten.
Langsam ging ich zu ihm hinüber, mein Herz schlug schnell, und ich zitterte. »Was sollte das?«
»Ich sagte doch, ich hab dich nicht erkannt.«
»Nein. Dass du … dich selbst …« Ich konnte es nicht aussprechen und hob die ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger an die geöffneten Lippen. Wie im Spiel, und doch bildete ich mir ein, meine Finger würden nach Eisen schmecken, dabei war es nur Erde. Kühle Graberde. Rasch ließ ich die Hand wieder sinken, als könnte ich mich damit wirklich verletzen. Die Nähe der echten Pistole machte mich nervös.
Maik zuckte mit den Schultern. Er war so drahtig und schlaksig, dass es fast aussah wie bei einer Marionette. Mit einem Mal wirkte er furchtbar müde. »Es war mein Fahrrad, Jan. Ich hab’s ihm geliehen, obwohl er gebechert hatte. Wenn ich ihm das Rad nicht geliehen hätte, wäre er noch am Leben.«
»Dein Rad?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wen kümmerte das Rad? Es war Gerbers Auto gewesen, nur darauf kam es an.
»Ich hatte ihm gesagt, dass die Batterien am Vorderlicht leer waren, aber er meinte, er fahre immer ohne. Aber es war trotzdem mein Rad.«
Christoph noch am Leben? Daran konnte ich nicht denken, auch nicht an Räder ohne Licht, ich konnte nur auf die Pistole starren, die Maik noch immer umklammert hielt. Jederzeit konnte er sie wieder hochreißen, sie sich in den Mund rammen und abdrücken. Fast hörte ich den Knall, sah den Kopf aufplatzen.
Nein!, dachte ich, aber ich brachte kein Wort heraus.
»Mein Rad. Meins.« Das mein klang mit jeder Wiederholung anklagender.
»Wenn nicht deins, dann hätte er sich ein anderes Rad genommen. Auf der Party gab es hundert Räder, und ich hätte ihm auch meins geliehen.« Natürlich hätte ich das, und bei dem Gedanken daran wurde mir ganz übel. Ich wollte nicht wissen, was ich in dem Fall getan hätte. Ich hatte keine Waffe, aber … Ich kniete mich zu Maik. »Jeder hätte ihm ein Rad geliehen.«
Seine Wangen waren eingefallen, die Augen geschwollen, verzweifelt umklammerte er die Waffe. Sobald er wieder allein war, würde er schießen, davon war ich überzeugt. »Das weißt du nicht. Ich weiß nur, dass es meins war. Ohne Licht.«
»Er hätte jeden nach Licht fragen können, er hätte sich ein Rad mit Licht nehmen können. Du bist selbst ohne Licht gefahren, ich oft genug auch, und Christoph dauernd. Das ändert doch nichts an Gerbers Schuld! Er hat ihn totgefahren, nicht du!«
»Aber …«
»Kein Aber.«
Er sackte noch weiter zusammen, der Griff um die Pistole lockerte sich. Mit angezogenen Knien setzte ich mich neben Maik und starrte auf Christophs Grab. Der Stein wirkte in der Dunkelheit größer und schwärzer, als ich ihn von der Beerdigung in Erinnerung hatte. Eine Weile sagte keiner etwas, ich wartete. Noch immer zitterten meine Hände, und das Herz schlug zu schnell.
»Ich dachte, heute schaffe ich’s«, sagte Maik schließlich leise.
»Heute?« Ich schaute ihn wieder an.
»An seinem Geburtstag. An seinem Grab. Schon zweimal hab ich’s versucht. Aber die Tabletten hab ich wieder rausgekotzt, und als ich von der Eisenbahnbrücke springen wollte, kam ewig lang kein Zug, die hatten alle Verspätung. Als dann endlich doch einer kam, tat mir der Zugführer leid. Ich habe mir vorgestellt, wie ich in Stücke gerissen werde und wie sich ein Auge von mir im Scheibenwischer verklemmt und mit all dem Blut hin und her geschoben wird, und der Zugführer muss das sehen und kotzen und kann trotzdem nicht wegschauen, wie hypnotisiert, und mein Auge starrt zurück. Und wie ich an mein hin und her schwappendes Auge gedacht hab, musste ich plötzlich lachen. Kurz dachte ich, ich dreh durch, aber ich bin nicht gesprungen.«
»Du schaust zu viele Splatterfilme.«
»Kann sein.« Maik stieß ein kurzes Lachen aus, mehr ein Prusten.
»Wenn du dich umbringst, hilft das Christoph auch nicht mehr.«
»Aber mir.« Er sagte es leise, unsicher.
»Unsinn.«
Prüfend sah er mir in die Augen, mehrere Sekunden lang, dann wandte er sich dem Grab zu. Die Pistole legte er vorsichtig auf die Erde vor sich. Voller Abscheu starrte er sie an, als hätte sie ein Eigenleben und könnte ihn anspringen wie ein Tier. Entschlossen schob er den Unterkiefer vor und hob den Blick zum Grab. »Fuck.«
Ich atmete tief durch und hoffte, dass es damit vorbei war, doch ganz traute ich der Waffe nicht.
Schweigend saßen wir nebeneinander.
»Danke«, sagte er nach einer Weile.
»Ja.«
Ich hatte auch schon mal an Selbstmord gedacht. Ich war überzeugt, dass die meisten das irgendwann taten, wenn auch nicht richtig. Man dachte daran, wie man an Sex mit einem Filmstar dachte. Man stellte es sich richtig vor, malte es sich in Einzelheiten aus, auch wenn man eigentlich wusste, dass es nicht geschehen würde. Den Filmstar traf man nicht zufällig auf der Straße, also konnte man den Mangel an Gelegenheit verantwortlich machen. Beim Selbstmord nicht, da gab es genug Gelegenheiten, und trotzdem taten die meisten den letzten Schritt eben nicht. Nicht einmal den vorletzten. Ich hatte mir nie eine Waffe an den Kopf gehalten. Ich hatte nicht einmal Zugriff auf eine. Ich hatte nur von einer Brücke gestarrt.
Bevor ich Maik fragen konnte, woher er sie hatte und wie es nun weitergehen sollte, hörten wir Schritte, die sich vom Eingang her über den Kies näherten. Offenbar waren wir zu laut gewesen.
»Hinter die Tannen«, raunte ich, und wir huschten auf Zehenspitzen weiter in den Schatten hinein. Leise drückte sich jeder hinter einen eigenen Stamm, nur fort von den befestigten Wegen.
Die Schritte verharrten. Wer auch immer da kam, hatte etwas gehört.
Wir machten uns so schmal wie möglich und hielten den Atem an, die borkige Rinde drückte durch das T-Shirt in meinen Rücken. Irgendwas rieselte auf mein Haar, trockene Brösel oder ein Käfer, der sich totstellte und gleich weiterkrabbeln würde. Ich rührte mich nicht und hoffte, dort kämen weder die Schwerdtfeger noch die Bullen, obwohl die niemals so schnell hätten hier sein können. Und die Schwerdtfeger hätte laut gemosert und jeden Schatten irgendwelcher Untaten bezichtigt. Dennoch blickte ich mich nach möglichen Fluchtwegen um.
Zögernd setzten sich die Schritte wieder in Bewegung, direkt auf uns zu.
Der weiß, wo wir sind, schoss es mir durch den Kopf. Das Kribbeln auf meinem Kopf wurde stärker, als wären es zwei oder drei Käfer, die sich zwischen den Haaren verfangen hatten. Ich wollte sie fortschütteln, tat es aber nicht, sondern hielt verbissen die Luft an. Nichts durfte uns verraten. In dem Moment fiel mir die Pistole ein; ich konnte mich nicht erinnern, dass Maik sie bei der Flucht an sich gerissen hatte. Weder er noch ich, sie musste noch vor dem Grab liegen.
Shit! Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander, um nicht laut zu fluchen. Es war zu spät, um sie zu holen. Die Schritte waren zu nah.
Er hat kein Licht bei sich, beruhigte ich mich, er würde die Waffe übersehen, wenn er nicht zufällig direkt draufstarrte. Sie war klein und dunkel, nicht viel mehr als ein unauffälliger Huggel im Gras. So viel Pech konnten wir nicht haben.
Ich schielte zu Maik. Er schien unser Problem auch erkannt zu haben, schätzte es jedoch anders ein. Hektisch deutete er zum Grab vor, formte mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole und hielt sie sich an die Schläfe. Ich hoffte, damit wollte er mir nur mitteilen, wir wären geliefert. So nervös, wie er herumhampelte, würde er uns noch verraten, und wenn der Unbekannte dann die Pistole entdeckte, müsste Maik nicht einmal selbst abdrücken.
Blödsinn, das hier ist kein Gangsterfilm! Niemand würde auf uns schießen.
Nachdrücklich schüttelte ich den Kopf, um Maik davon abzuhalten, etwas zu tun. Egal, was.
Die Schritte kamen näher und näher, und ich lugte vorsichtig um den Stamm. Ich konnte einen Schemen erkennen, klein, zierlich und weiblich.
Sie kam genau auf uns zu. Wenn sie nicht zufällig auch zu Christophs Grab wollte, hatte sie uns gehört. Und unmöglich konnte auch sie zu Christoph wollen, das widersprach jeder Wahrscheinlichkeit, und doch …
Wenigstens ist es weder die Schwerdtfeger noch die Polizei, dachte ich erleichtert, und dann erkannte ich Lena aus dem Jahrgang unter uns. Und das verwirrte mich komplett.
Von Lena wusste ich so gut wie nichts. Vor zwei Jahren war sie aus München hergezogen und seitdem einfach da, klein, brünett und schweigsam. Oft trug sie schwarze Klamotten, aber selten etwas Auffälliges. Nur ihr ebenfalls schwarzer Motorroller fiel auf, ihm hatte sie mit Airbrush ein bleiches Knochengerüst verpassen lassen, vorne ein Brustkasten, unter dem Sitz das Becken. Es wirkte, als sähe man den Roller durch Röntgenaugen, und er wäre ein seltsames kopfloses Tier oder ein Alien. Der Roller war der einzige Grund, warum die meisten an der Schule wussten, wer sie war. Der Roller und ihr schwarzer Helm, der mit einem grinsenden Schädel verziert war.
Und diese Lena näherte sich uns nun auf schwarzen Stiefeletten mit Absätzen und in einem überraschend kurzen Rock. An den Handgelenken klimperten zahlreiche silberne Armreifen, als wäre sie wie ich von einer Party fortgelaufen oder aus einem Club. In der Hand trug sie einen großen Plastikbeutel und eine kleine Gartenschaufel.
Direkt vor Christophs Grab blieb sie stehen. Wenn sie den Blick senkte oder in die Knie ging, musste sie die Pistole sehen.
»Lena?« Maik trat hinter der Tanne hervor.
Sie schrie auf und ließ den Beutel und die Gartenschaufel fallen.
»Pst!«, zischte ich und kam ebenfalls aus dem Versteck. »Die Schwerdtfeger.«
»Was?«, stammelte sie und blickte panisch von Maik zu mir und wieder zu Maik.
»Die Schwerdtfeger.« Ich deutete vage in Richtung ihres Hauses. »Wenn die uns hört, ist hier die Hölle los.«
Verständnislos starrte sie mich an, und ich sah trotz der Dunkelheit, dass sie geschminkt war. »Was macht ihr hier?«
»Ich wollte Christoph besuchen, er hätte heute Geburtstag«, sagte ich. Im Augenwinkel bemerkte ich, wie Maik versuchte, die Pistole unauffällig mit dem Fuß zu sich zu ziehen, weg von Lenas Schuhspitze. Es war ein plumper Versuch, ich musste Lena irgendwie ablenken, und so quasselte ich weiter und weiter: »Maik, ähm … auch. Er wollte Christoph auch besuchen. Und du? Was machst du hier? Liegen hier Verwandte von dir? Ich dachte, du bist aus München?«
Hohles Gerede, schließlich war sie direkt vor Christophs Grab stehen geblieben. Dabei war sie mit ihm nicht befreundet gewesen, ich hatte sie nicht einmal miteinander reden sehen. War sie irgend so ein kranker Friedhofsfreak? Der Knochenroller, die schwarzen Klamotten – keiner wusste Genaues von ihr.
Sie war auf der Beerdigung gewesen.
Doch anstatt sie mit meinem Gestammel über Verwandte in ein Gespräch zu verstricken, erreichte ich das Gegenteil. Sie wich meinem Blick aus und tat, was sie nicht tun sollte: Sie starrte zu Boden. Jedoch nur ganz kurz, dann wurden ihre Augen groß, und sie sah mich erneut an, dann Maik. »Ist die echt …?«
»Ja«, sagte Maik ohne Umschweife und ging in die Hocke, um die Pistole an sich zu nehmen. »Gehört meinem Vater.«
Sie wich einen halben Schritt zurück. »Ist die geladen?«
»Ja.«
»Spinnst du?« Lena klang, als würde sie gleich losschreien. Ich konnte nicht erkennen, ob sie wütend war oder Angst hatte, vielleicht beides. »Willst du hier etwa rumballern? Knallt ihr irgendwelche Tiere ab?«
»Nein. Ich wollte mir in den Kopf schießen«, brummte Maik. »Aber ich hab’s nicht getan, Jan hat mich gestört. Und es wäre toll, wenn du das nicht überall rumerzählen würdest, das geht sonst niemanden etwas an. War sowieso ’ne blöde Idee.«
»Ähm, klar.« Unsicher blickte sie zwischen uns hin und her, überrumpelt von Maiks Offenheit. Vielleicht fragte sie sich auch, warum es sie etwas anging.
»Und was machst du hier?«, fragte ich noch einmal, selbst verdutzt wegen Maiks Geständnis. Dabei hob ich die Gartenschaufel auf. Selbst die war schwarz, auf dem Griff klebte noch der Preis und ein runder roter Aufkleber 30 % Rabatt. Die Tüte trug den Namenszug eines Baumarkts.
»Ich wollte mir eine Blume von Christophs Grab holen und in einen Topf pflanzen«, antwortete sie zögernd, offensichtlich angesteckt von Maiks Ehrlichkeit »Für daheim. Als Erinnerung.«
»Das ist echt schräg«, sagte Maik.
Lena hob die Augenbrauen und deutete auf die Waffe in seiner Hand. »Das sagt der Richtige.« Dabei lächelte sie und kam den halben Schritt wieder auf uns zu, den sie vorhin zwischen uns gebracht hatte. Ja, sie kam sogar noch ein Stück näher. Nun nahm ich auch ihr Parfum wahr, es roch süß und schwer.
Ich versuchte mich zu erinnern, ob Christoph Lena nicht doch einmal erwähnt hatte. Keine Ahnung, ich wusste es einfach nicht. Was, wenn er es geheim gehalten hatte? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er Selina betrogen hatte, aber zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, dass jemand etwas von Lena wollte, von dieser Lena, nicht von der aus der Schule. Auch konnte ich mir gut vorstellen, dass diese Lena selbst etwas wollte, und dass sie es auch bekam.
Grabblumen als Erinnerung.
Wir standen dicht beieinander und hatten leise gesprochen, und das nicht nur aus Angst vor der Schwerdtfeger. Ohne uns richtig zu kennen, waren wir uns in diesem Moment nah.
In Maiks Blick lag noch immer etwas Gehetztes, ich konnte seinen Schweiß riechen, und doch kämpfte sich das typische schiefe Grinsen auf seine Lippen. »Schräg sein ist nichts Verkehrtes.«
»Da bin ich aber beruhigt.« Lenas rote Lippen lächelten spöttisch.
Ich atmete ihr Parfum ein, um Maiks Schweiß zu überdecken, und spielte nervös mit der Gartenschaufel in meinen Händen.
Christophs Tod hatte uns aus der Bahn geworfen, und dass wir uns hier getroffen hatten, verband uns auf seltsame Art. Auch andere hatten ihn verloren, aber wir waren diejenigen, die nachts kamen, wenn der Friedhof geschlossen war und die Welt im Dunkel lag. Getrieben von Schuldgefühlen oder Sehnsucht oder dem Gefühl, das alles falsch lief.
Gescheiterte.
Gescheitert am Selbstmord, bei der Rache an Gerber, beim Blumenstehlen. Gescheitert an der Rückkehr zur Normalität.
Ich fühlte mich weniger allein. Seine Eltern, seine Freundin Selina und alle anderen waren stets tagsüber gekommen, ich nicht. Ich hatte niemanden treffen wollen, nicht noch einmal die Beerdigungsfloskeln austauschen. Ich wollte nicht beobachtet werden.
Er hätte nicht gewollt, dass wir aufhören zu feiern.
Mit jedem Atemzug hasste ich die Party in meinem Haus mehr. Knolle und Ralph konnten mich mal, und vielleicht erstickte Kev ja an seiner Kotze, wenn er so weitersoff, und dann konnte er im Jenseits prahlen, das habe er für einen Freund getan.
Falls es ein Jenseits gab.
Weiterfeiern!
Zurück zur Normalität!
Es musste etwas anderes geben, etwas, das darüber hinausging. Dass wir drei uns getroffen hatten, war der Beweis, dass es mehr gab. Oder zumindest die Sehnsucht danach.
Wenn nicht zurück, wohin sollten wir dann?
»Ich sag euch was …«, setzte Maik an, doch er kam nicht weit.
Vom Eingangstor näherten sich eilige Schritte, wieder die eines einzelnen Menschen.
»Das kann doch nicht wahr sein«, entfuhr es mir. »Wenn mir demnächst einer kommt mit still wie auf einem Friedhof, dann …«
Lena kicherte.
Der Kirchturm schlug Mitternacht.
Diesmal versteckten wir uns nicht, wir blieben einfach stehen und warteten, immerhin waren wir zu dritt. Ich drückte Lena die Schaufel in die Hand. Die Pistole verbarg Maik in der Bauchtasche seines Hoodys. Völlig unzusammenhängend dachte ich: Das Känguru gebärt den Tod. Das Bier schien doch noch im Hirn angekommen zu sein.
Wer auch immer dort kam – ein Nachbar, Bulle oder Satanist, der kleine Emo aus der Siedlung, ein morbider Liebeskranker, ein Grabräuber, der Küster, der Pfarrer selbst oder doch die alte Schwerdtfeger –, war allein. Ich rechnete mit jedem und niemand bestimmten, und dann erkannte ich Selina und wurde schon wieder überrascht.