21
Mittags machten wir Pause in einem stillgelegten Steinbruch in den Ardennen, den wir von der Landstraße aus erspähten. Er lag am Ende einer kurzen Nebenstraße aus staubbedeckten Betonplatten, etwa fünfhundert Meter abseits zwischen zwei spärlich bewachsenen, felsigen Hügeln. Wir hatten noch massenhaft Äpfel, die nicht mehr ganz so saftig schmeckten wie die ersten beiden. Nach einem hatte ich genug, den anderen ging es genauso, Maik aß lustlos seinen ersten überhaupt. Gierig tranken wir Wasser, die Sonne brannte heiß, es hatte bestimmt dreißig Grad.
Wir saßen auf Felsbrocken, und Maik hatte seinen Aschebeutel wieder ausgepackt. Plump hockte er neben ihm. Selina sah immer wieder hin, sagte jedoch nichts.
Schweigend kontrollierten wir unsere Handys nach entgangenen Anrufen oder Nachrichten. Ich hatte keine Lust, mich irgendwo zu melden, ich vermisste keine Mails und kein Facebook. Da hatte ich mich seit dem Unfall kaum noch eingeloggt.
Coole Party. Danke :-), hatte Jenny gesimst, wie sie es bei jedem Gastgeber tat. Höflichkeit nannte sie das, mir zeigte es, dass sie nichts verstanden hatte. Ich löschte die Nachricht.
»Früher hat mich mein Vater mit in die Berge genommen«, sagte Lena und ließ den Blick über die Felsen schweifen. »Klettern.«
»Und jetzt?«, fragte Maik.
»Sehe ich ihn kaum noch. Nach der Scheidung ist er in München geblieben, und meine Mutter hat Höhenangst.«
»Hast du Geschwister?«
»Zwei ältere Brüder. Sind auch in München geblieben, aber wohnen allein, jeder für sich. Armin studiert Jura, Tommy zieht um die Häuser und boxt.«
»Als Profi?«
»Nein. Er muss nur irgendwohin mit seiner Energie.« Sie hob einen Stein auf und warf ihn in den Steinbruch. »Früher ist er oft mit Vater aneinandergeraten, einfach so.«
»Einfach so?«
»Ich glaub schon. Aber da war ich noch in der Grundschule.«
Ich wollte gern wissen, warum ihre Eltern sich getrennt hatten, traute mich jedoch nicht zu fragen.
»In der Grundschule hab ich auch nicht alles gerafft.« Maik lachte und warf einen größeren Stein.
»Ich weiß nicht, was ich gerafft hätte. Mir hat keiner was gesagt.«
Christoph und ich kletterten durch den Steinbruch von Sollnhofen, seine Eltern warteten im Schatten und sahen uns zu. Wenn wir uns einer steilen Stelle näherten, rief seine Mutter: »Obacht!«
Jeder durfte dort nach Fossilien suchen, und wir klopften die Steinplatten mit einem schmalen Meißel vorsichtig auseinander. Wir fanden schneckenartige Ammoniten und Zeug, das wie Farne aussah, Christoph sogar einen fingerlangen Fischschwanz. Stolz zeigte er ihn seinen Eltern.
»Schön, wirklich schön«, sagte seine Mutter. »Dann können wir jetzt gehen?«
»Noch nicht.« Er rannte zurück. »Wir brauchen noch den Kopf.«
»Mach dich nicht noch weiter schmutzig«, rief sie ihm hinterher.
Fünf Minuten lang achteten wir auf unsere Hosen, dann war alles vergessen. Den Fischkopf fanden wir nicht.
Ich fragte mich, wo der Fischschwanz abgeblieben war und wer wohl den Kopf gefunden hatte.
»Hörst du eigentlich lauter so Zeug wie AC/DC?«, fragte Maik.
»Manchmal«, sagte Lena. »U.D.O. und Judas Priest sind coole alte Säcke. Am liebsten höre ich aber Florence + the Machine.«
Ich grinste.
»Was?«, fragte sie scharf.
»Nichts. Ich dachte nur, von Hells Bells zu einer Harfe ist ein weiter Weg.«
»Gute Musik ist gute Musik.« Sie kniff ein Auge zu. »Magst du Florence?«
»Ja. Dog Days are over ist geil.«
»Das wollten wir mal covern.«
»Du spielst in einer Band?« Ich war beeindruckt.
»In München damals.«
»Und jetzt?«
»Jetzt haben sie eine andere Sängerin. Eine bessere.«
»Wer sagt das?«
»Alle.«
»Sing was!«, verlangte Maik und lehnte sich lässig zurück. Mit der Pose konnte er dem Bohlen jeder Jury locker Konkurrenz machen.
»Nein.«
»Komm schon! Es lacht auch keiner.«
»Vergiss es!«
Mit einem Schulterzucken zückte Maik sein Handy und tippte irgendwas. Wir schwiegen wieder.
»Darf ich mal mit deiner Pistole schießen?«, fragte Lena in die Stille hinein. Die Felswände schluckten alle Geräusche von der Straße, nur ein paar Krähen krächzten über uns.
»Wenn du singst.«
»Leck mich.«
Er lachte. »Wann?«
»Sehr witzig.«
Einen langen Moment sah er sie an. »Warum willst du schießen?«
»Weil ich es noch nie getan hab.«
»Noch nie? Nicht mal als Kind auf dem Jahrmarkt?«
»Meine Mutter hat es verboten.«
»Wenn deine Mutter es verboten hat, dann mit dem größten Vergnügen.«
Er klaubte die Apfelbutzen zusammen, die wir auf den Boden geschmissen hatten, und klemmte sich den Beutel Asche unter den Arm. »Komm mit, alter Junge.« So stapfte er mit Lena weiter in den Steinbruch hinein.
Als ich hinterherwollte, hielt mich Selina am Handgelenk zurück und raunte mir ins Ohr: »Der ist doch nicht ganz klar im Kopf.«
»Es ist Maik«, entgegnete ich, als würde das alles erklären. Für mich tat es das auch.
»Ach, wenn man Maik heißt, darf man rumballern und Christophs Asche überallhin mitschleppen?«
»Nein …«
»Kommt ihr auch?«, brüllte er in dem Augenblick, und ich brüllte zurück: »Gleich!«
»Du kannst da allein hingehen«, fauchte Selina.
»Maik ist ein Spinner, aber er ist in Ordnung. Sonst wäre Christoph nicht mit ihm befreundet gewesen.«
»Er wollte sich erschießen, das ist nicht in Ordnung. Und jetzt macht er wieder mit der Waffe rum.«
»Es war nicht seine Idee.«
»Verdammt, Jan, du warst doch immer der, der nachgedacht hat! Also denk!«
»Sieh es einfach wie Jahrmarkt. Wir merken es, bevor er richtig austickt.«
»Ach ja?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Klau ich ihm die Waffe.«
»Aber wirklich! Sonst mach’s ich.«
»Ja. Und jetzt lass uns zusehen, wie Lena Löcher in die Luft schießt.«
Die Apfelbutzen waren auf einem quaderförmigen Felsbrocken tief im Steinbruch aufgereiht, der aussah wie ein uralter Opferstein. Lena hielt die Waffe in der Hand, bereit, in den Steinbruch hineinzuschießen. So würde sie nicht zufällig einen Spaziergänger oder seinen Hund treffen; bis zur Rückwand des Steinbruchs konnten wir alles überblicken.
»Siehst du? Kann nichts passieren«, raunte ich Selina zu. Querschläger fürchtete ich nicht, obwohl ich das schon hundertmal im Film gesehen hatte.
Sie nickte kaum merklich und starrte mit einer Mischung aus Abscheu, Furcht und Faszination auf die Waffe. Mir ging es ähnlich.
»Pass auf.« Maik zeigte Lena, wie sie die Pistole halten sollte, am besten mit beiden Händen, um den Rückstoß abzufangen. Sekundenlang legte er seine Hand auf ihre und erklärte, wie man zielte. Er stand direkt neben ihr, ihre Körper berührten sich. »Nicht so verkrampft, du musst die Waffe als Teil von dir sehen.«
Ich versuchte, ihm zuzuhören, aber ich starrte auf seine Finger, die sich an Lenas Finger schmiegten. Billard, Tennis, Schießen, alles dieselbe Masche. Darauf konnte sie doch nicht reinfallen? Endlich trat Maik einen Schritt zurück und ließ sie zielen.
»Wenn du triffst, will ich auch«, sagte Selina plötzlich. Ich drehte mich zu ihr um, und sie zuckte mit den Schultern, dann sah sie wieder zur Pistole. »Ich hab noch nie mit einer echten Waffe geschossen.«
»Girls and guns, yeah.« Maik grinste. »Immer wieder sexy.«
»Willst du sagen, ich brauch dafür eine Waffe?« Selina blitzte ihn an.
»Äh, nein.«
Ich beachtete die beiden nicht, sondern sah Lena an. Breitbeinig stand sie da, der kurze Rock spannte an ihren Oberschenkeln. Es war nicht die gun, die sie sexy machte, sondern die Entschlossenheit in ihren Zügen, die Haltung und der leicht geöffnete Mund. Ihre Augen waren mitleidlos und hart, und ich fragte mich, ob sie sich jemanden als Ziel vorstellte. Ihre Mutter?
Schwachsinn!
Sie drückte ab. Laut hallte der Schuss von den hohen Wänden wider und schlug irgendwo ein. Ihre Arme wurden förmlich hochgerissen, die vier Apfelbutzen standen unbewegt in der Sonne.
Lena stieß einen französischen Fluch aus und stampfte auf den Boden wie eine Siebenjährige, die beim Mensch ärgere dich nicht verloren hatte. Ich fand sogar das sexy. Dann hob sie die Waffe erneut. Sie suchte Halt auf dem felsigen Boden. Die Muskeln in ihren Beinen spannten sich an, das war sogar durch die Strumpfhose zu sehen. Eine breite Laufmasche zog sich über den rechten Oberschenkel bis unter die Kniekehle hinab. Kurz fragte ich mich, ob sie Sport trieb, und wenn ja, welchen. Die einfachsten Dinge wusste ich nicht von ihr, nur von ihren verborgenen Gefühlen für Christoph und von ihrer bekloppten Mutter. Als hätte ich sie falsch herum kennengelernt, von innen, nicht die Oberfläche zuerst.
Konzentriert presste sie die Lippen zusammen und schloss das linke Auge. In ihrer Versunkenheit fand ich sie wunderschön, und in dem Moment gestand ich mir endlich ein, dass ich mich in sie verliebt hatte. Gegen jede Vernunft und auch nicht wegen irgendwelcher Geburtstags-Zahlenspiele – aber so war es. Vergeblich, weil sie noch immer Christoph liebte, und verboten, weil wir es uns geschworen hatten.
Christoph ist tot.
Ich sah zu dem Beutel Asche, den Maik auf einem Stein platziert hatte wie auf einem Thron. Tot, aber noch immer unter uns. Wir erfüllten hier seinen letzten Willen, dann sollten wir uns auch an Schwüre halten.
Eva ist ne dumme Schlampe.
Ich presste die Hände gegen meine Schläfen, als könnte ich so alle Gedanken zerquetschen – ich wollte das alles nicht.
Lena schoss, und der zweite Apfel von rechts spritzte auseinander. Ein Fetzen wurde nach oben abgerissen, der Rest taumelte vom Felsen.
»Oui!« Lena lachte und riss die Arme zur Siegerpose hoch.
»Yeah!«, brummte Maik.
»Jetzt ich!«, rief Selina, und ihre Augen glänzten. So schnell konnte man seine Meinung ändern.
Plötzlich wollte ich auch schießen. Ich wollte treffen und Lena beeindrucken. Ich hatte früher oft auf dem Jahrmarkt geschossen und mir für jeden Treffer Aufkleber vom FC Bayern oder Totenköpfe ausgesucht. Als wir Jungs begannen, uns für Mädchen zu interessieren, hatte ich damit aufgehört. Für Mädchen Stofftiere zu schießen, kam mir bizarr vor, Waffen und Kuscheltiere brachte ich nicht zusammen. Ich steckte mein Geld lieber in den Autoscooter, um die Wagen der Mädchen zu rammen, oder lud sie zu Fahrten ein, bei denen sie kreischten und von der Schwerkraft an mich gedrückt wurden.
Selina traf beim ersten Schuss und wollte gleich noch mal. »Lena durfte auch zweimal.«
Maik zuckte nur mit den Schultern. »Dann also jeder zwei Schuss.«
Sie ballerte vorbei.
Bevor ich etwas sagen konnte, nahm sich Maik die Waffe und schoss die beiden verbliebenen Butzen kaputt. Die Mädchen jubelten, und mein Plan, Lena zu beeindrucken, war gestorben. Maik kotzte mich langsam ganz schön an.
»Jetzt Jan«, rief Selina und lief zum Felsen vor, um die Überreste aufzureihen, während Maik mich kurz einweisen wollte.
Ich lehnte ab, weil ich bei Lena zugehört hatte und nicht als vollkommen ahnungslos gelten wollte. Von Lenas Butzen waren noch gut drei Viertel übrig, von allen anderen kleinere Brocken, höchstens halb so groß.
»Sorry«, rief Selina.
»Macht nichts.« Ich versuchte, lässig zu klingen, und nahm die Waffe. Sie war schwer und der Griff warm.
»Wenn du magst, kannst du zum Ausgleich einen Schritt vorgehen«, sagte Maik, und spätestens damit war aus dem Schießen ein Wettbewerb geworden.
»Nein.« Schon als Kind hatte ich es gehasst, wenn uns beim Bolzen Ältere ein Tor oder gar drei Vorsprung geben wollten. Wie sollte man sich über einen solchen Sieg freuen?
Wenigstens Lenas Butzen wollte ich treffen, als würde das irgendetwas bedeuten. Romantik pur: Wir sind füreinander bestimmt, wir haben dasselbe Stück Kompost erschossen.
Grinsend legte ich an und zielte. Mit dem rechten Auge starrte ich so konzentriert über die Kimme, dass es fast tränte, und dann fragte ich mich plötzlich, ob ich auf einen Menschen schießen könnte, echte Waffe, echtes Opfer. Sofort kniff ich das Auge zu. In der Dunkelheit hinter den Lidern erschien Maiks platzender Kopf, also riss ich das Auge wieder auf.
Gerber, dachte ich, während ich auf den Dreiviertel-Apfelbutzen starrte, der in der Sonne langsam immer brauner wurde. Wenn ich schon Gesichter sah, dann sollte es das richtige sein. Ich versuchte mich an seine Nase zu erinnern, seine Augen und das Kinn, aber alles verschwamm. Nicht einmal sein Auto hatte ich zerstören können. In Gedanken hundertmal.
Ich atmete aus und ein. Hier und jetzt durfte ich ihn töten, so oft ich wollte. Ganz langsam wurden seine Gesichtszüge deutlich, ich zielte zwischen die Augen, wie es immer hieß, nie in eines der Augen, warum auch immer. Langsam krümmte ich den Finger und schoss.
Ich schoss vorbei.
Hart schlug mir der Pistolengriff gegen den Handballen, ich hatte ihn zu verkrampft gehalten. Nicht einmal in Gedanken konnte ich es.
Im Zweifel für den Angeklagten.
Ich wollte nicht zweifeln, und schon gar nicht daran, dass ich einen Apfelbutzen vernichten durfte! Zweimal atmete ich tief durch und zielte erneut. Ich ließ keine Gedanken an Gesichter zu, hörte auf meinen Herzschlag und wartete darauf, dass er ruhig wurde. Ein lästiger Schweißtropfen rann mir über die Stirn und verfing sich in der Braue. Ich zählte lautlos bis vier, wie ich es als Kind immer gemacht hatte, weil ich es blöd fand, dass alle immer nur bis zur Drei zählten, obwohl ich die Vier viel lieber mochte. Auf keinen Fall wollte ich der Einzige sein, der gar nichts traf.
Drei.
Vier.
Ich drückte ab, und der Apfelbutzen wurde vom Fels gefegt.
»Oui!«
Die anderen applaudierten und johlten. Ich hob die Arme und verbeugte mich in alle Richtungen. Oben auf dem Rand des Steinbruchs standen plötzlich zwei Männer um die dreißig in Jeans und beschrifteten weißen T-Shirts. Sie zeigten uns den Vogel und riefen Schimpfwörter, die diesmal sicher uns galten.
Lena und Selina erstarrten.
»Was wollt ihr Brüllaffen?«, kläffte ich zurück und fuchtelte mit der Pistole in ihre Richtung. Was führten die Wichtigtuer sich so auf? Wir taten niemandem was! Natürlich wollte ich nicht auf sie feuern, aber sie wichen ängstlich zurück. Das war ein gutes Gefühl. Macht. Ich hielt die Waffe ruhig und reckte den Arm weiter vor. »Was?«
»Macht euch doch ins Hemd!«, schrie Maik. »Ihr elenden Steinschützer.«
Lena kicherte.
»Ruft doch Amnesty Apfelbutzen!«, schrie ich hinterher, und Lena kicherte noch mehr.
»Jan! Nicht!«, rief Selina.
Ich ließ die Waffe sinken. »Ich schieß schon nicht!«
Von oben tönte irgendwas mit la police. Wir verstanden nicht, ob sie selbst Beamte in Zivil sein wollten oder welche rufen. Beides war nicht schön. Hastig packte Maik den Beutel, ließ ihn fast fallen und erwischte ihn gerade noch. Wir rannten zu unseren Maschinen, Lena kicherte noch immer wie besoffen.
»Mein Hintern braucht ’ne Pause«, stöhnte Selina.
»Wir halten gleich wieder an. Nur erst mal weg.« Maik verstaute den Beutel in der Satteltasche, ich stopfte die Pistole daneben und passte auf, dass das Plastik nicht riss. Maik zog sie wieder raus und sicherte sie, bevor er sie zurücktat.
Vorsichtig lugten die beiden Gestalten über die Felskante. Einer schwenkte sein Handy: »La police!«
Der andere schrie uns etwas hinterher, das wohl so etwas wie Scheißausländer bedeutete.
Wir schimpften auf Deutsch und Französisch zurück, doch unter dem Helm verhungerten die Flüche ziemlich. Also schwenkten Selina und ich unsere Mittelfinger, während Lena und Maik ihre Hände am Lenker hielten und die Motoren starteten.
Ich schwang mich hinter Lena auf den Sitz, packte den Gepäckträger mit der Rechten und hielt den linken Mittelfinger ausgestreckt, bis wir außer Sichtweite waren. Ich zeigte ihn der ganzen Welt, sie konnte mich mal. Sie konnte uns alle vier mal.