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In der dritten Klasse bekam ich zu Ostern einen nagelneuen Lederball, einen teuren Original-WM-Ball. Stolz nahm ich ihn mit zum Bolzplatz zwischen der Siedlung und dem mehrere Meter hohen Wall, auf dem die Eisenbahngleise entlangführten. Auf der anderen Seite des Walls plätscherte ein winziger Bach dahin, an dem wir manchmal kleine braune Frösche fingen, die wir im Wettrennen quer über den Feldweg scheuchten. Die Älteren erzählten, dort habe es früher sogar Salamander gegeben und Molche mit orangefarbenen Bäuchen. Da sie jedoch weniger für ein Rennen geeignet waren, vermissten wir sie nicht.

Der Bolzplatz war kleiner als ein richtiger Fußballplatz, kürzer und schmaler, und der Rasen so zertrampelt, dass fast überall die schwarze Erde heraussah. Doch vom Vereinsgelände vertrieb uns der Platzwart, sobald er uns entdeckte. Zum Kicken war der Bolzplatz ideal: Man konnte allein hinfahren, und es fand sich immer jemand, der mitmachte. Solange der Drecksack Michi nicht da war, war alles gut.

Michi war vier oder fünf Jahre älter als ich und lungerte manchmal auf dem Spielplatz herum. Ich glaube, er sollte auf seine kleine Schwester aufpassen, die sich jedoch nicht um ihn scherte und stundenlang im Sandkasten spielte und schaukelte. Michi war ein kräftiger Kerl mit Sommersprossen und hochgegelten Haaren, und irgendwann schnappte er sich immer unseren Ball, setzte sich darauf und rauchte. Die Kippe drückte er dann auf dem Ball aus, und jedes Mal hatten wir Angst, dass er platzen würde wie ein Luftballon, auch wenn er es nie tat. Erst wenn Michi die Lust verlor, uns zu triezen, und aufstand, konnten wir weiterspielen. Wir alle wussten, dass er kein Problem damit hatte, Kleinere zu verdreschen, ganz im Gegenteil. Und so warteten wir, statt zu kämpfen.

Wir ließen uns demütigen und hofften, dass kein Zug käme. Denn dann begann Michi stets zu grinsen, fischte den Ball unter seinem Hintern hervor und kickte ihn wie ein Torwart beim Abschlag auf die Gleise. Meist prallte der Ball auf das Geröll und hüpfte wild weiter und über den Wall hinaus, manchmal schoss Michi zu kurz, und der Ball landete im Gestrüpp am Fuß des Walls. Aber ich war auch dabei, als ein Ball unter die Räder geriet und von der ungebremst dahinrasenden Bahn zerfetzt wurde.

An diesem Nachmittag nach Ostern hatte ich Michi nicht bemerkt, doch plötzlich sprang er aufs Feld und krallte sich den Ball. Genüsslich setzte er sich auf ihn und ließ einen fahren.

»Ahhhhh«, sagte er und machte ein Gesicht wie Feinschmecker bei der Weinprobe. »Die Peperoni waren so scharf, die brennen gleich ein Loch in den Ball.«

»Nein!«, rief ich. Ich hatte nur Ball und Loch verstanden und nicht weiter nachgedacht. Ängstlich stand ich drei, vier Schritte vor Michi und wusste nicht, was ich tun sollte. Die meisten anderen hatten sich verkrümelt, es war nicht ihr Ball.

»Dann brennen sie aber zuerst ein Loch in deine Hose, und du stehst mit blankem Arsch da«, sagte Christoph, der als Einziger bei mir geblieben war, obwohl wir uns gar nicht kannten. Er war neu, seine Familie lebte seit zwei Monaten in der Siedlung, nur zwei Straßen von hier. Zwar saß er in meiner Klasse, aber am anderen Ende des Zimmers, und das war weit weg. Zum Bolzen trug er ein Original-FC-Bayern-Trikot mit der Nummer 12 auf dem Rücken, die passende Hose und sogar makellose Stutzen. Ich wusste nicht auswendig, wer bei Bayern die 12 hatte, das Trikot war mit Christophs Namen beflockt. Sofort hatte ich »Angeber« gedacht und ihn beim ersten Angriff umgegrätscht und neben ihm ausgespuckt wie ein Großer. Jetzt stand mir allein der Angeber zur Seite und sprach ganz lässig von Michis blankem Arsch.

»Was willst du, Kleiner?«, fragte Michi und starrte ihn finster an.

»Das ist unser Ball.«

»Welcher Ball?« Michi grinste.

»Du sitzt drauf.«

»Ach, der.« Langsam kramte Michi die Zigarettenschachtel aus seiner Tasche und zündete sich eine an. Den Rauch pustete er in unsere Richtung, aber er kam nicht weit genug.

»Das ist unserer«, sagte Christoph noch einmal, der Michis Ritual nicht kennen konnte.

»Der ist neu«, ergänzte ich, nun auch mutiger geworden.

»Der ist bequem«, sagte Michi und sog mit seiner Feinschmeckermiene an der Kippe.

»Gib ihn her«, forderte Christoph.

»Sonst was?« Michi sah ihn belustigt an. »Läufst du sonst zu deiner Mami? Bist du ein Mamisöhnchen?«

»Wir sind mehr als du.«

»Ach ja?« Michi klang halb belustigt, halb drohend. »Glaubst du nicht, dass ich mit zwei Scheißern wie euch fertigwerde?«

Christoph blickte sich um, er hatte erst jetzt bemerkt, dass wir beide allein waren. Verächtlich sah er zu den anderen, die sich beim Tor herumtrieben, irgendwas vor sich hinmurmelten und abwarteten. Schultern und Köpfe hingen herab, irgendwer trat kraftlos gegen den Pfosten. Christoph drehte sich wieder um und schob den Unterkiefer vor. »Zwei sind mehr als einer.«

Michi lachte und rauchte in aller Ruhe weiter. »Und was wollt ihr tun?«

Wir taten nichts. Als Christoph zu mir schielte, schüttelte ich ganz leicht den Kopf. Er zuckte mit den Achseln, er war neu. Wir warteten, bis Michi fertig war, und dann drückte der die Zigarette ganz langsam auf dem Logo des Balls aus, gähnte demonstrativ und steckte sich noch eine an.

»Wollt ihr auch?«, fragte er.

Das fragte er manchmal, und wenn wer Ja antwortete, sagte er: Dann kauf dir welche, und lachte laut. So was fand er lustig.

»Krieg Krebs«, blaffte Christoph.

Ich schüttelte schweigend den Kopf. Der Ball sah ganz eingedrückt aus, ich wollte nicht, dass der Drecksack ihn platt saß, aber ich traute mich nicht, ihn einfach unter seinem Hintern rauszukicken. Sollte ich es nicht schaffen, würde es Hiebe setzen, und sollte ich es schaffen, vermutlich auch. Ich war schnell, aber Michi hatte viel längere Beine.

»Mit der brenn ich das Ventil kaputt, dann kannst du ihn nicht mehr aufpumpen.« Michi grinste uns an und wackelte mit der Zigarette zwischen seinen Fingern.

»Nein«, hauchte ich, weil ich ihm glaubte.

Sein Grinsen wurde breiter und meine Angst größer, bis ich bemerkte, dass er nicht mehr uns ansah, sondern über uns hinweg. Er steckte sich die Kippe in den Mundwinkel und hielt sie nur mit den Lippen fest.

Hastig warf ich einen Blick über die Schulter und bemerkte einen Güterzug, der von Süden heranstürmte. Im gleichen Moment konnte ich ihn auch hören, das helle Summen. Sofort wusste ich, dass Michi diesmal auf die Gleise treffen würde, dass der Ball verloren war. Er wollte uns unbedingt demütigen, wir hatten nicht genug Angst gezeigt, er würde ganz genau zielen. Ich schrie: »Nein!«

»Doch!« Michi sprang auf, die wippende Kippe im Mundwinkel, packte den Ball mit beiden Händen und rannte ein paar Schritte auf den Zug zu.

Sofort wetzte Christoph hinter ihm her. Ich stand reglos da und starrte ihnen nach.

Michi warf den Ball hoch, fixierte ihn mit verkniffenen Augenbrauen, und als die Kugel sich senkte, drosch er sie mit dem Fuß Richtung Gleise.

Unerbittlich stampfte der Zug heran.

Ohne Rücksicht auf irgendwas warf sich Christoph direkt vor Michi in die Flugbahn des Balls, die Arme ausgestreckt. Der Ball knallte ihm mitten ins Gesicht und wurde abgelenkt. Er flog über den mannshohen grünen Maschendrahtzaun zur Wiese nebenan, weit entfernt von den Gleisen.

Der Zug raste vorbei.

Verdutzt starrte Michi auf den Jungen, der vor ihm auf der Erde lag und sich fluchend das Gesicht hielt. Einen Moment lang sah er so aus, als wollte er Christoph treten oder auf ihm herumtrampeln, aber dann lachte er los: »Voll in die Fresse! Zwei gegen einen, was? Voll in die Fresse!«

Er nahm die Kippe aus dem Mund und schnippte sie Christoph ins Haar, drehte sich um und ging zum Sandkasten zurück. Dabei schüttelte er lachend den Kopf. »Voll in die Fresse.«

Christoph rappelte sich auf, er fluchte noch immer und blutete aus der Nase.

»Danke.« Ich war fest davon überzeugt, dass er meinen Ball gerettet hatte, Michi hätte diesmal hundertprozentig getroffen. Dann erst fragte ich: »Geht’s?«

»Ja. Klar.« Das Blut tropfte auf sein Trikot und klebte ihm im Gesicht. »Lass uns den Ball holen.«

Wir sprangen über den Zaun und rannten hin. Ich nahm ihn mit dem Fuß auf, jonglierte ihn zweimal und fing ihn auf. Der Ball war sicher. Mit Daumen und Speichel rubbelte ich über das Logo, die Zigarette hatte kaum Spuren hinterlassen.

Wir stapften weiter über die Wiese zur nahen Unterführung, durch die ein asphaltierter Feldweg unter den Gleisen aus dem Dorf hinausführte. Ich zeigte Christoph den Bach, wo er sich das Blut abwaschen konnte.

»Ich hoffe, das geht aus dem Trikot wieder raus«, sagte ich.

»Bestimmt. Oder meinst du, die schmeißen in der Bundesliga immer das Trikot weg, wenn einer sich eine Platzwunde zuzieht?«

»Vielleicht haben die Spezialwaschmittel?«

»Vielleicht.« Vorsichtig tastete er mit den Fingern, ob noch immer frisches Blut aus der Nase lief. Er rotzte es direkt in den Bach. Darüber lachten wir, und ich rotzte auch in den Bach, obwohl ich nicht blutete und keinen Schnupfen hatte. Ich musste extra Speichel hochziehen. Wir kicherten und rotzten, bis wir nicht mehr konnten. Christophs Nase blutete schon lange nicht mehr.

»Wer ist eigentlich die Nummer 12?«, fragte ich.

»Die Fans«, sagte er. »Die Fans sind der zwölfte Mann.«

»Cool.«

»Ja. Aber ich hätte lieber die 9. Ich wäre lieber Torjäger«, sagte Christoph.

Wir gingen zurück zum Bolzplatz und spielten weiter, bis es dunkel wurde.