14
Ich hatte eiskalte Knie, als wir die erste Pause einlegten. Der Morgen deutete sich bereits am Himmel an, die letzten Sterne verblassten, und aus der Schwärze schälte sich Blau. Als ich den Helm abnahm, konnte ich die ersten Vögel zwitschern hören. Wir hatten uns mithilfe von Maiks Smartphone orientiert, eine Landstraße nach der anderen Richtung Westen genommen und immer wieder kurz angehalten, wenn er sich vergewissern musste, dass wir noch richtig waren.
Nun standen wir auf dem verlassenen Parkplatz zu einem Waldlehrpfad irgendwo hinter Biberach. Er zweigte nach einer lang gezogenen Kurve von der Straße ab, direkt vor einer kleinen Erhöhung, und war so unscheinbar und langweilig, wie es solche Parkplätze eben sind. Nachlässig gekiest, sodass die meisten Steine bereits in die Erde gedrückt worden waren, und durch ein einfaches Holzgeländer vom Wald getrennt. Er war groß genug für etwa fünfzehn Autos und um einem Bus Platz zum Wenden zu bieten, falls eine Schulklasse hergekarrt wurde. Es gab zwei Bänke, deren Sitzfläche aus dem längs halbierten Stück eines Baumstamms bestand, und mehrere große, mit Holzlatten verkleidete Mülltonnen mit grünen Deckeln. Wo der Pfad in den Wald führte, standen mehrere Buchen und zwei große Infotafeln mit schmalem Zierdach.
»Alles okay?«, fragte Lena, als ich abgestiegen war.
»Alles bestens«, sagte ich und riss mir die Gummistiefel von den Füßen. Die Zehen fühlten sich zerquetscht an, aber wenigstens nicht durchgefroren wie die Knie. Ich stakste wie ein altersschwacher Reiher umher, weil ich die Beine nicht richtig bewegen konnte. Laut zu jammern ließ mein Stolz nicht zu, Lenas Knie waren mit der dünnen Strumpfhose kaum besser geschützt gewesen als meine, und sie bockte den Roller ohne Klagen auf.
»Kalt?« Maik lachte, als er mich sah. Seine Jacke hatte er Selina geliehen, die auch Jeans trug und natürlich nicht fror.
»Geht schon«, brummte ich. Im Stehen ging es, nur der Fahrtwind fraß sich in die reglosen Gelenke. Der erdige Boden unter meinen nackten Fußsohlen war kühl und feucht vom Morgentau, die runden Kiesel spürte ich kaum. »Eher hungrig.«
Hunger hatten wir alle, doch keiner hatte etwas zu essen eingesteckt, das lagerte nicht in Garagen, Kellern und Schlafzimmern. Wir zählten unser Geld, obwohl weit und breit kein Supermarkt zu sehen war und auch keine Imbissbude. Viel hatten wir nicht, und nur Lena und ich hatten unsere EC-Karten dabei. Meine half uns aber nicht groß weiter, wenn ich an meinen Kontostand dachte, ich war nicht gut im Sparen. Warum hatte ich das Geld meiner Eltern in meinem Zimmer gelassen?
Weil ich nicht dachte, es auf dem Friedhof zu brauchen.
Ich schlenderte zum Eingang des Lehrpfads hinüber und starrte auf das Orientierungsschild. Es war von Hand gemalt und die schwarze Schrift auf dem grünen Baumhintergrund im Dunkeln schwer zu lesen. Mit dem Handydisplay leuchtete ich den Plan an, doch nirgendwo waren Bäume oder Büsche mit Beeren oder Obst eingetragen.
»Hier gibt’s nichts«, rief ich zu den anderen hinüber und ließ das Display ausgehen; das Aufladegerät hatte ich natürlich nicht dabei. Die Luft roch frisch und nach Wald, in der Ferne raschelte ein kleines Tier durchs Unterholz. Mein Magen knurrte, und ich ging wieder zurück. »Wir müssen irgendwo was kaufen.«
Zwei Vögel beschimpften sich wüst und jagten flatternd davon.
»Und wo?«
»Im nächsten Dorf.«
»Um die Zeit hat alles zu.«
»Tanke.«
»Dahin müssen wir eh bald«, sagte Lena. »Aber ich brauch erst eine kurze Pause.«
»Müde?«, fragte ich.
»Bisschen. Ein Kaffee oder Energydrink wäre gut.«
»Oder was zu essen«, ergänzte Maik.
Ich hüpfte auf der Stelle, um mich aufzuwärmen, die anderen schüttelten die steifen Gelenke aus, und das Gespräch drehte sich im Kreis. Ich wünschte, ich hätte eine lange Hose angezogen, und zumindest Lena musste es ähnlich gehen. Mit der aufgehenden Sonne würde irgendwann alles gut werden.
Maiks Jacke hing Selina fast bis zu den Knien, und sie hatte die Ärmel vorn umgekrempelt. Sie ging zur Einfahrt hinüber und sah nach Osten, die Straße zurück, auf der wir gekommen waren. In der Dämmerung konnte ich sie nicht mehr genau erkennen, nur ihr Profil erahnen, ihre Haltung. Einen Moment lang dachte ich, sie würde nach Verfolgern Ausschau halten, dann begriff ich, dass sie auf die Sonne wartete. Trotz aller Müdigkeit wirkte sie fast glücklich, und ich musste lächeln.
Die Stille hier war eine gute Stille, vielleicht weil sie nicht vollkommen war. Die Kälte in meinen Beinen zog sich immer weiter zurück.
Inzwischen war ich wirklich überzeugt, dass es richtig war, die Asche ans Meer zu bringen. Verboten, aber richtig. Und wer etwas anderes dachte, konnte uns mal.
Du kriegst deinen Willen, Christoph, dachte ich, niemand sperrt dich zurück unter die Erde. Keine Eltern, keine Gesetze, niemand.
In dem Moment drehte sich Selina zu mir um und nickte, als hätte sie mich gehört. »Der Horizont wird schon rot, gleich ist die Sonne da.«
Ich schlenderte zum Roller hinüber, öffnete das Staufach und tat so, als würde ich nach einem Kaugummi suchen. Dabei wollte ich nur nach der Asche sehen, mich vergewissern, dass sie noch da war, als könnte sie unterwegs verloren gehen. Lenas und mein Beutel lagen wie schlafend nebeneinander. Vorsichtig strich ich über meinen, nur mit den Fingerkuppen, ohne Nägel, um das Plastik ja nicht zu beschädigen. Lenas Beutel berührte ich nicht, als wäre er verboten. Ein Tabu oder etwas Privates wie ein fremdes Tagebuch. Dreimal prüfte ich, dass nichts von den Beuteln über die Kante ragte, dann schloss ich das Fach wieder und vermied jede Erschütterung. Albern, wenn man bedachte, wie der Roller während der Fahrt durchgeschüttelt wurde.
»Hat jemand ein Feuerzeug?«, fragte Maik.
Ich dachte an eine Zigarette im Sonnenaufgang und wollte auch eine, nur einfach so, und drehte mich um. Dabei klopfte ich auf meine Taschen, obwohl ich wusste, dass sich dort nichts befand.
»Ich rauche nicht«, sagte Selina.
»Im Fach«, rief mir Lena zu, und ich holte es.
»Ich will auch nicht rauchen«, sagte Maik und zog einen zerknitterten Umschlag aus der Gesäßtasche. »Ich will den hier mit euch verbrennen.«
Einen Moment lang starrten wir ihn an, ohne etwas zu sagen. Entschlossen schob er den Unterkiefer vor, und das beruhigte mich. Ohne Brief kein Abschied, ohne Abschied keine Kugel in den Kopf.
Ich dachte an die Waffe und konnte mich nicht erinnern, dass er sie mit in sein Zimmer genommen hatte. Sie musste noch immer in seiner Satteltasche sein, vielleicht unter der Asche, beim Packen hatte ich sie nicht gesehen. Ohne Brief würde er nicht abdrücken, sagte ich mir und nickte.
Mitten auf dem Parkplatz bildeten wir einen Kreis, der mathematisch gesehen natürlich auch ein Viereck sein konnte. Wir waren vier Punkte, es kam darauf an, wie man uns verband. Wie, das wusste ich nicht, aber wir waren verbunden.
Ich reichte Maik das Feuerzeug, seine Hand zitterte. Er hielt den Umschlag schräg und über das Feuerzeug. Es schnappte, die Flamme ging jedoch sofort wieder aus.
»Mist.«
Die Nähe zum Wald und die Verbotsschilder waren uns egal, der Boden hier würde nicht brennen.
Maik versuchte es erneut, aber die Flamme verlosch sofort wieder, obwohl kaum Wind ging. Maik war wohl einfach nur mit dem Daumen abgeglitten.
Ich leckte den Zeigefinger an, um nach einem möglichen Lüftchen zu spüren.
Selina hielt ihre Hände schützend über das Feuerzeug. Wind oder nicht, schaden konnte es nicht. Nach kurzem Zögern hielt Lena ebenfalls die Hände um das Feuerzeug, nur ich stand da, den Finger dämlich in die Höhe gereckt. Die Luft rührte sich tatsächlich so gut wie nicht, und was ich spürte, konnte auch Atem sein.
Diesmal blieb die Flamme. Sofort erfasste sie das Papier und loderte hoch, die Mädchen zogen ihre Hände zurück. Maik drehte den Brief in der Hand, ließ jedoch nicht los. Es musste wehtun, aber sein Gesicht blieb unbewegt. Ich hätte an seiner Stelle auch nicht gewollt, dass nur die Hälfte verbrannte.
Zischend ließ er das Feuer endlich fallen und langte sich mit den Fingern ans Ohr, als wäre es aus Eis und würde betäuben.
Das brennende Papier drehte sich in der Luft und fiel langsam zu Boden. Glühend orange und schwarz wellten sich die Ränder und zerfielen zu Asche, die grau zu Boden regnete.
Der Brief wirbelte auf Lenas Knie zu, und sie floh zwei Schritte zurück. Ich wusste nicht, ob sie Angst vor dem Feuer hatte oder davor, sich mit den vergehenden Worten anzustecken, und das war ein seltsamer Gedanke: Selbstmord als übertragbare Krankheit. Wieder musste ich an die Waffe denken und sah zu Maik.
Er starrte in die verlöschende Flamme und schüttelte mit vorgerecktem Kinn den Kopf. Nur ganz leicht, doch ich konnte es genau sehen. Die Augen wurden schmal und hart, und im rechten schwamm eine einsame Träne. Bevor sie ausbrechen konnte, blinzelte er sie fort.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Danke«, sagte er, ohne sich von der sterbenden Flamme abzuwenden. Er wollte zusehen, wie jeder Fetzen des Briefs verbrannte, als könnte jedes Wort, das der Vernichtung entkam, ihm noch immer schaden.
Schweigend warteten wir mit ihm, und ich fragte mich, wie viele Patronen er dabeihatte.
Hätte er wirklich abgedrückt, wenn ich nicht zufällig genau in dem Moment gekommen wäre? Vor den Zug war er letztlich auch nicht gesprungen. Aber wie oft konnte man auf Brücken steigen, ohne zu springen, sich einen Lauf in den Mund schieben, ohne abzudrücken? Lebte er nur noch, weil ich von der Party geflohen war? Hatte ihm damit die dämliche Party das Leben gerettet und war so tatsächlich zu etwas gut gewesen? Ich hatte keine Lust, Knolle und Ralph dankbar zu sein.
Als das Feuer endgültig erloschen war, zertrat Maik die letzten glimmenden Reste zu Staub und rieb sie mit der Schuhsohle in den Boden.
Irgendwo hinter den Bäumen ging die Sonne auf, der Himmel über uns war vollkommen klar. Maik atmete tief durch und lachte. »Wow. Danke.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich hatte ja nicht vorgehabt, ihn zu retten. Sein Dank machte mich verlegen.
Auch Selina zuckte mit den Schultern, aber Lena sagte: »Mach das einfach nie wieder. Und damit meine ich nicht das Briefverbrennen. Wir fahren nächste Woche nicht noch mal ans Meer.«
Verblüfft starrte er sie an. Sie war einen ganzen Kopf kleiner als er und knurrte ihn an, als hätte er sie mit dem Selbstmordversuch beleidigt. Er schüttelte den Kopf: »Wegen mir müsst ihr nicht fahren.«
»Gut.«
In dem Moment meinte er das ernst, davon war ich überzeugt, sonst hätte er das gemeinsame Briefverbrennen nicht gemacht. Aber das Wesentliche hatte er ihr nicht versprochen. Die Waffe hatte er nicht daheim gelassen, und das gefiel mir nicht, egal, was er sagte.
Er gab das Feuerzeug zurück und ging »eine Stange in den Wald stellen.«
Ich musste ebenfalls, doch da klingelte mein Handy, und das war so unpassend, dass ich im ersten Moment nicht schnallte, dass es meins war. Wir hatten alles hinter uns gelassen, und es passte nicht, dass dieses alles uns hinterhertelefonierte, schon gar nicht um diese Zeit.
»Mann, Alter, wo steckst du?«, meldete sich Ralph. Er klang hackedicht.
»Luft schnappen. Hab ich dir doch gesagt.«
»Immer noch?«
»Luft kann man nie genug kriegen.«
»Hey, Alter, ich bin nicht blöd. Party kann man nicht genug kriegen, und Luft ist überall. Du machst da draußen doch mit einer rum. Nackt im Maisfeld.« Er gackerte los und begann zu singen: »Ein Bett im Kornfeld. Lalalala …«
»Jaja.«
»Tschuldige.« Wenn er dicht war, entschuldigte er sich immer.
»Was gibt’s?«
»Wer ist bei dir im Feld?«
»Niemand.«
»Komischer Name.« Er kicherte und entschuldigte sich. »Ist die verheiratet? Oder Lehrerin? Die Schmidt mit den dicken Titten?«
»Hier ist niemand.«
»Echt?«
»Ja.«
»Das dauert lang bei dir.« Was auch immer er damit meinte. Und er sang: »Ein Wichs im Kornfeld. Nee, nee, tschuldige, echt, tschuldige.«
»Was gibt’s?« Wenn ich jetzt auflegte, würde er wieder anrufen. Wieder und wieder. Betrunken entschuldigte er sich nicht nur, sondern war auch penetrant.
»Wann kommst du wieder?«
»Dauert noch.«
»Wie heißt sie noch mal? Nee, tschuldige, nee. Ist okay, wenn du nicht mehr kommst, echt. Wir haben alles im Griff. Aber wir brauchen Klopapier.«
»Im Regal rechts neben der Dusche ist noch welches.«
»Die sind alle …«
»Alle? Das waren mindestens fünf Rollen.«
»Alle … alle durchgeweicht.« Er kicherte los. »Tschuldigung.«
»Dann müsst ihr neues kaufen.« Darüber, warum sie durchweicht waren, wollte ich nicht nachdenken, nicht jetzt.
»Aber ich brauch’s jetzt. Jetzt sofort.«
»Kackst du gerade?«
Er ließ das Handy fallen, ich hörte es am Boden aufschlagen und ihn kichern. Was war ich froh, nicht auf der Party zu sein. Das Klopapier war mir egal, und ich wollte auch nicht wissen, was noch alles durchweicht war. Ob Knolle vielleicht noch immer in der Sintdusche lag und wer mit wem in meinem Bett oder in Pias oder dem meiner Eltern. Solange noch jemand auf dem Klo saß, stand das Haus noch. Alles andere kümmerte mich nicht.
»Tschuldigung.« Ralph hatte das Handy wieder aufgenommen. »Bringst du Klopapier mit?«
»Nimm die Küchenrolle. Oder Taschentücher.«
»Küchenrolle?« Eine Pause. »Küchenrolle, klar! Du bist ein Genie.« Noch eine Pause. »Aber wie heißt sie jetzt?«
»Küchenrolle.«
»Tschuldigung.« Er kicherte, im Hintergrund ging die Spülung. Und dann wurde ich einfach weggedrückt, und es herrschte Stille.
Ich schüttelte den Kopf und suchte mir endlich auch einen Baum gleich hinter dem Eingang zum Lehrpfad. Selina wirkte neidisch, aber sie wollte bis zur nächsten richtigen Toilette aushalten. Lena auch, aber als ich erleichtert zurückkam, stapfte sie doch in den Wald. Typisch Mädchen ging sie deutlich weiter hinein als wir und verschwand hinter dichtem Unterholz.
»Kannst du eigentlich auch fahren?«, fragte mich Selina und nickte in Richtung Roller. Der Schlüssel steckte, es wäre leicht, jetzt zu dritt davonzudüsen und Lena einfach im Wald zurückzulassen. War das die eigentliche Frage gewesen? An Selinas Gesicht war nichts abzulesen, es wirkte beinahe unbeteiligt, doch der Blick war nachdrücklich.
»Nein«, sagte ich ebenso nachdrücklich. Ich hatte keinen Führerschein und war vor Jahren nur ein paar Male mit Christophs hochfrisiertem Kindermotorrad über die Felder gebrettert, mit bestimmt vierzig Sachen über Traktorfurchen und Mäuselöcher hinweg und um eingebildete Slalomstangen herum, bis wir stürzten und uns lachend überschlugen. Bis sich Christoph den Knöchel brach und niemand mehr lachte und seine Mutter das gemeingefährliche Spielzeug verschrottete und es als idiotische Männeridee beschimpfte. Irgendwie würde ich schon fahren können, auch wenn ich nicht wusste, wie man startete und ausprobieren musste, wo Gas und Bremse lagen. Doch ich wollte Lena nicht zurücklassen. Das wäre Verrat, und ohne sie wären wir überhaupt nicht hier und Christoph noch immer unter der Erde.
»Schade.« Selina schürzte die Lippen. »Ich auch nicht. Dann müssen die beiden wohl durchfahren, und wir können uns nicht abwechseln.«
»Das geht schon.« Maik zeigte ein lässiges Lächeln. Ein Lächeln, mit dem man sonst Mädchen angrub. Das versuchte er hier hoffentlich nicht – sie war Christophs Freundin, und wir fuhren seine Asche ans Meer.
»Gut.« Selina nickte nur kurz und ohne zu lächeln, und ich war beruhigt.
Schweigend warteten wir auf Lena, ich schlüpfte in die engen Gummistiefel, und dann machten wir uns wieder auf den Weg, die aufgehende Sonne im Rücken. Ich legte die Hände auf Lenas Hüften. Der Fahrtwind hatte ihr Parfum fast vollständig verweht, doch ich konnte es noch immer riechen, solange ich das Visier nicht herunterklappte. Ich ließ es offen.