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Maik lebte in einem Kaff, etwa zehn Kilometer von hier. Zwar ging auch er in unsere Schule, aber in die Parallelklasse; wir hatten kaum Kontakt. Ich hatte früher Fußball gespielt, er war Skater. Er fuhr Snowboard, ich manchmal im Sommer in die Berge. Dann reichten ihm die nahen Hügel der Stauden. Dort raste er mit seinem Skateboard downhill und soll sogar schon einen Rennradfahrer mit herausforderndem Lachen überholt haben. Die meiste Zeit verbrachte er an den Halfpipes der Gegend.
Es kursierten Geschichten, dass er sich schon an den Gepäckträger eines Motorrads gehängt hatte und mit 80 km/h die Landstraße entlanggebrettert war. Manche sagten 100 km/h, andere sprachen von der A96 Lindau – München. Er schwieg dazu.
Die Geschichte, die ich mit ihm verband, ereignete sich letzten Sommer.
Nicht weit von hier ragte eine Landzunge aus grobem Kies in den Lech, bestimmt fünfzig Meter lang und zehn, fünfzehn breit. Mit abgestorbenem Holz aus dem Waldstreifen am Ufer ließ sich leicht ein Lagerfeuer entzünden, es gab keine Anwohner, die es störte. Niemand wusste, ob es legal war, aber beschwert hatte sich noch keiner. Und so fanden dort regelmäßig Partys statt. Irgendwer organisierte das Bier, irgendwer anders die Musik, gesessen wurde auf dem Boden, auf Decken, Holzstümpfen oder leeren Getränkekästen. Wer kam, der kam, und dazu noch tausend Mücken, Menschen wie Insekten angelockt vom Feuer.
Es war Ende August und die Party, auf der ich mich in Jenny verknallte. Wir hatten drei Feuer brennen, sie saß an einem anderen, und ich blickte immer wieder hinüber. Christoph und Selina waren im Dunkeln verschwunden. Langsam leerte ich mein Bier und nahm mir vor, gleich hinüberzugehen. Jenny sah nicht ein einziges Mal zu mir.
Und dann stand sie mit einem anderen Mädel auf, und auch Maik und ein Kumpel erhoben sich. Zu viert schlenderten sie in Richtung Straße davon. Kurz wollte ich aufspringen und ihnen folgen, aber dann dachte ich, dass es peinlich wäre, blieb sitzen und leerte die Flasche in einem Zug. Ich dachte, sie wären ganz gegangen.
Doch Jenny wollte den anderen nur etwas am gegenüberliegenden Ufer zeigen, irgendein halb verfallenes Gebäude mit mysteriösen Symbolen an der Wand, wie aus einem Horrorfilm. Sie schlenderten auf dem Radweg der breiten Brücke hinüber, jeder eine Flasche Bier in der Hand. Außer den fernen Feuern und einem halben Mond gab es kein Licht.
»Schön, dass ihr mitkommt«, sagte Jenny. »Die anderen sind alle Langweiler.«
»Klar«, sagte Maik. »Wie könnten wir bei Ruinen und Horror Nein sagen?«
»Du könntest uns auch eine tote Ratte zeigen, Maik macht alles, was du sagst.« Sein Kumpel lachte und schlug ihm auf die Schulter. Das erklärte nicht, weshalb er selbst auch mitgekommen war.
Das andere Mädchen kicherte und fragte: »Echt?«
Jenny schwieg und sah raus auf den dunklen Lech.
»Aber klar«, sagte der Kumpel, der einer von diesen sprichwörtlichen Freunden war, die einem sämtliche Feinde ersparten. »Wenn sie sagt ›spring‹, dann springt er.«
»Echt?«, fragte das andere Mädchen wieder und hörte nicht auf zu kichern.
»Blödmann«, sagte Jenny bestimmt. Damit war das Thema eigentlich erledigt.
»Warum nicht?«, fragte Maik, und die anderen hielten die Luft an. Bei ihm wusste man nie, wann er einen Scherz machte. So gut wie nie verzog er das Gesicht, und er hatte einen anderen Humor als die meisten, auch eine andere Vorstellung davon, was Ernst war, was Vernunft und was zu viel. »Aber die meisten Leute sagen sowieso nicht, man soll springen. Die meisten Leute wollen einem das Springen nur verbieten.«
Der Kumpel lachte, das Mädchen kicherte.
»Ich nicht«, sagte Jenny.
»Das sagen alle.«
»Ach ja? Ich bin aber nicht alle«, sagte Jenny. »Dann spring halt.«
Sie hatten die Brücke fast zu zwei Dritteln überquert, der Fluss schwappte fünfzehn Meter unter ihnen durch die Nacht, und keiner wusste, wie tief er war. Niemand mit Verstand würde hier einfach springen, nicht einmal bei Tageslicht. Herausfordernd sah Jenny Maik an. Sie wollte sehen, wie er sich aus der Geschichte herauswand.
»Okay.« Maik blieb stehen, nahm einen Schluck von seinem Bier und drückte Jenny die Flasche in die Hand. »Halt mal.«
Dann machte er mit groß zur Schau gestelltem Ernst zwei Kniebeugen.
»Spinner.« Jenny lachte, das andere Mädchen auch.
Der Kumpel runzelte die Stirn.
»Dann sehen wir uns also drüben«, sagte Maik, warf einen Blick hinab, lächelte Jenny an und sprang seitlich über die Brüstung hinweg, als wäre sie lediglich ein kleiner Gartenzaun und fester Boden dahinter, weiches grünes Gras. Mit den Füßen voraus verschwand er in der Tiefe.
»Halt!«, schrie der Kumpel viel zu spät.
Die Mädchen waren viel zu verblüfft, um irgendwas zu rufen. Hilflos beugten sie sich über das Geländer und hörten, wie Maik aufs Wasser schlug.
»Warum hast du das getan!«, blaffte der Kumpel Jenny an.
»Ich?«
»Ja, du. Ich hab doch gesagt, er springt, wenn du es willst.«
»Aber ich wollte doch nicht …« In der Dunkelheit konnte Jenny nichts erkennen, dennoch stierte sie hinab. »Maik! Maik!«
»Yeah!«, schrie der und lachte. Der Fluss hatte ihn ein gutes Stück weit mitgerissen. »Das Wasser ist ganz warm. Kommt rein!«
»Spinnst du!«, schrie Jenny.
»Wieso?«
»Du kannst nicht einfach springen!«
»Doch. Ich kann alles!« Lachend wurde er immer weiter abgetrieben. Er würde wohl erst einen halben Kilometer von hier an Land kriechen.
»Ich warte nicht auf dich, du Spinner. Du kannst die verdammte Ruine allein suchen!«
»Was?«
»Ersauf doch!« Wütend drehte sie sich um und stapfte zurück zur Party.
Die anderen rührten sich nicht.
»Kommt ihr?«, rief sie über die Schulter. »Oder will noch einer springen?«
Jenny und das andere Mädel hatten sich nach ihrer Rückkehr an mein Feuer gesetzt, da war noch Platz. Die Geschichte von Maiks Sprung machte rasend die Runde, alle lachten und ich am lautesten, denn Jenny saß nun direkt neben mir. Wir quatschten über die Schule, und ich hätte ihr gern die Sternbilder gezeigt, aber dafür saßen wir zu nah am Licht. Ich kannte den Jäger Orion, die beiden Bären und Kassiopeia. Das war nicht viel, doch mehr als die meisten. Alle anderen Sternbilder erfand ich zur Not, wie ich sie brauchte.
»Kennst du die Story von der alten Friedenthaler, die ihrem eigenen Mann in der Freinacht ins Bein geschossen hat?«
»Was?«
»Mit der Schrotflinte. Hackedicht.«
»Erzähl«, sagte sie, und ich merkte zu spät, dass ich ihr dummerweise schon die Pointe verraten hatte. Trotzdem fing ich an, aber nach zwei Sätzen kam Maik zurück und wurde johlend und mit Applaus empfangen. Er drängte sich zwischen Jenny und mich ans Feuer, um zu trocknen.
»He!«, knurrte ich, aber das war ihm egal.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte sie ihn.
»Aus Spaß. Das war ein Witz.«
»Du hättest sterben können.«
»Sterben kann man jeden Tag.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin hier schon öfter gesprungen. Das Wasser ist tief genug.«
»Würdest du es wieder tun?«
»Wenn du es sagst.« Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen.
»Du spinnst«, sagte sie, stand auf und ging fort. Fort von Maik, fort von meinem Feuer.
Er rief ihr hinterher: »Ich dachte, ihr Frauen wollt immer, dass man tut, was ihr sagt.«
Ein paar Jungen lachten, Jenny nicht. Sie setzte sich ans nächste Feuer und fragte auch nicht mehr nach der Friedenthaler.
Was alle an der Geschichte amüsierte, war, dass er einfach nur über die Brücke hätte gehen müssen, um eine Chance bei ihr zu haben; langsam und immer geradeaus. Das war etwas, das jeder geschafft hätte, jeder andere zumindest. Sie zu beeindrucken, indem er runtersprang, was sich niemand sonst getraut hätte, hatte ihm alles versaut.
»Weißt du, was das beweist?«, fragte er mich, weil ich neben ihm saß, und stieß mit mir an. »Abgesehen davon, dass Frauen keinen Humor verstehen?«
»Nein.«
»Dass sie, egal, was sie sagen, doch immer die Langweiler bevorzugen.«
Ich stieß ein kurzes Lachen aus. »Was beweist, dass ich kein Langweiler bin.«
Wir tranken.