32
Die Silvesternacht war mit Temperaturen um den Gefrierpunkt halbwegs mild und Lena seit über einer Stunde auf dem Heimweg. Sie war in Augsburg gewesen, was ihre Mutter verboten hatte, und wollte noch nicht heim, darum fuhr sie Umwege durch jedes mögliche Siedlungsgebiet der umliegenden Dörfer und probierte Querstraßen aus, die sie nicht kannte. Sie war in Augsburg gewesen, weil sie das Leben in der Stadt vermisste, die Menschenmassen und vielen Lichter in der Nacht, und weil München zu weit weg war. Es war weit nach drei Uhr. Sie würde sowieso Ärger bekommen, und dafür sollte sich ihre Mutter ruhig noch ein wenig Sorgen machen. Schließlich tat sie das so gern, sich sorgen.
Die schmalen Straßen der Wohngebiete waren meist verlassen, nur noch selten stolperten Partyheimkehrer an ihnen entlang, und dann bemerkte sie einen Jungen, der den Gehsteig kehrte. Um diese Zeit. Ohne Handschuhe und Mütze schob er alle Überreste der Silvesterkracher, Pappbecher, Kiesel und Glasscherben den Rinnstein entlang, der Gehweg selbst war exakt bis zur Grundstücksgrenze schon gesäubert. Sie hielt an und erkannte Christoph aus dem Jahrgang über ihr. Seinen Namen kannte sie irgendwoher, geredet hatte sie jedoch noch nie mit ihm. Sie hielt an und schaltete den Motor aus. Er richtete sich auf, stützte sich auf den Besen und sah zu ihr, während sie den Helm absetzte.
»Was machst du da?«, fragte sie.
Unter seiner Nase klebte ein Tropfen Blut, die obere Lippe war aufgeplatzt. »Ich fege.«
»Das sehe ich.«
»Warum fragst du dann?«
»Es ist halb vier.«
»Meine Mutter will den Gehweg sauber haben, wenn am Morgen die ersten Passanten kommen. Und ich will nicht um halb sieben aufstehen.« Der Anflug eines Lächelns zeigte sich auf seinen Zügen, und das passte so überhaupt nicht zu der Lippe und dem Blut. Aber es gefiel ihr, und so stieg sie ganz von ihrem Roller.
»Und was machst du?«, fragte er.
»Ich vermeide es, heimzufahren.« Sie versuchte ebenfalls ein vorsichtiges Lächeln. »Wenn ich dir also helfen könnte, komme ich damit gut voran.«
»Ich hab keinen zweiten Besen.«
»Dann …«
Im Haus schepperte es, irgendwas zerbarst an der Wand.
… schaue ich einfach zu, hatte sie sagen wollen, aber sie kam nicht dazu. Er ließ den Besen fallen und stürmte ins Haus. Sie sah ihm nach und konnte hinter dem Vorhang zwei Schemen ringen sehen, zumindest wirkte es so.
»Bitte … nein …«, drang eine Frauenstimme heraus, als Christoph die Tür aufriss, etwas klatschte, Haut auf Haut, und dann knallte die Tür hinter ihm zu, und ein dritter Schemen stürzte auf die anderen, und gemeinsam verschwanden sie hinter der Mauer.
Lena hob den Besen auf und lehnte ihn gegen den Zaun. Der Stein auf dem Pfeiler vom Gartentor war zu kalt, um sich daraufzusetzen, also wartete sie im Stehen. Im Rasen neben dem Weg zur Tür stand ein kleines Rehkitz mit kitschig großen Augen, im Licht der Straßenlampe glänzte es wie Porzellan.
Nach drei Minuten griff sie sich den Besen und säuberte den Rest des Rinnsteins. Sie machte es gründlich und lief dann den Gehweg von einer Ecke des Grundstücks bis zur anderen ab, um zu schauen, ob Christoph etwas übersehen hatte. Sie fand eine rote Raketenspitze und einen Sektkorken, die sich aufs Grundstück gemogelt hatten. Sie schaffte sie fort. Sie schrubbte abgeplatzte Raketenreste aus der Ritze eines Gullis, und dann fand sie nichts mehr zu tun. Sie brachte den Besen zum Gartentor und wartete tatenlos.
Nach einer Weile kam er wieder heraus. Er hatte sich das Blut aus dem Gesicht gewaschen, doch die Lippe war jetzt dicker. »Du bist noch hier?«
»Ja.«
Er griff sich den Besen, trat auf die Straße und stutzte, als er den sauberen Rinnstein bemerkte.
»Ich hatte sonst nichts zu tun.«
»Danke.«
»Kein Ding.« Sie sah ihn an. »Alles okay?«
»Ja, klar.«
»Ich meine da drin. Ich konnte hören, wie … Waren das deine Eltern?«
Christoph zuckte mit den Schultern. »Jedes Jahr geraten sie über die guten Vorsätze in Streit, weil ihre Vorsätze sich widersprechen.«
»Das war kein Streit. Er schlägt sie.«
»Er versucht es.«
»Und sie wehrt sich?«
»Nein. Ich.«
»Und dich schlägt er nicht?«
»Ich halte es aus.«
Es klang trotzig und grob, aber dennoch schien er verletzlich. Sie wusste nicht, wie gut er es wirklich aushielt, und plötzlich packte sie Bewunderung, ihr Herz schlug schneller, und sie wollte unbedingt für ihn da sein, wollte, dass er für sie da war.
»Warum lassen sie sich nicht scheiden?«
»Das tut man nicht.« Beiläufig trat er gegen den Pfeiler. »Was kümmert dich das überhaupt?«
»Ich habe es gehasst, als sich meine Eltern getrennt haben. Aber als meine Mutter dann mit mir gegangen ist, war es schön. Zumindest eine Weile lang. Ich glaube, für meinen Vater ist es das immer noch. Und das ist besser, als wenn keiner glücklich ist, oder?«
»Ich zwing sie nicht, zusammenzubleiben. Aber meine Mutter sagt, sie würde die Schande einer Scheidung nicht aushalten.«
»Und was macht sie jetzt?«
»Sie schläft in meinem Zimmer, ich leg mich auf die Couch im Wohnzimmer.«
»Und morgen?«
»Morgen sind sie nüchtern und zerknirscht und schwören den guten Vorsätzen ab. Sie funktionieren wieder, wie das ganze Jahr über, weil das ja immer geklappt hat. Sie geben nicht so leicht auf wie andere, sagen sie. Als ginge es in einer Beziehung darum, nicht aufzugeben.«
Sie schwieg, weil sie darauf nichts zu erwidern wusste, und weil er keine Erwiderung erwartete. Dann fragte sie: »Und du? Hast du gute Vorsätze?«
»Nein. Daran glaube ich nicht, ich hab … was anderes.« Misstrauisch sah er sie an. »Ich hätte das alles nicht erzählen sollen. Ist ja alles nicht so schlimm, wie es klingt, ich hab einen schlechten Tag, da übertreibe ich gern.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ich hab keinen schlechten Tag, und ich hab sie gehört.«
»Es ist nicht so schlimm, das ist nur der Sekt.« Misstrauisch musterte er sie. »Ehrlich. Und das geht niemanden etwas an. Versprich mir, dass du keinem davon erzählst.«
»Ich versprech’s.«
»Meine Mutter … Er würde …« Hilflos hob er die Hände und ließ sie wieder fallen und widersprach damit seinen Beteuerungen von eben.
»Ich sag nichts, Ehrenwort.«
»Schwörst du’s?«
»Wenn wir den Schwur mit einem Kuss besiegeln«, sagte sie und wurde rot, überrascht vom eigenen Mut.
Er blinzelte. »Ich … ich hab eine Freundin.«
»Eine feste?«, fragte sie leise. Ihr Herz verkrampfte sich.
»Eine sehr feste.«
Und sie stand da und fühlte sich vom Leben verraten. Es wäre einfach zu schön gewesen.
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Vorsichtig, ob wegen seiner Lippe oder der Freundin wegen, wusste sie nicht. Aber er küsste sie, und das hatte doch etwas zu bedeuten. Da, wo die Wange feucht war, brannte die Kälte, aber sie wischte sie nicht fort.
»Danke«, sagte er.
»Danke«, sagte sie.
Und sie stieg auf den Roller und fuhr heim. Er war nicht wie seine Eltern, er würde sich nicht an eine tote Beziehung klammern. Und alle Beziehungen starben irgendwann, das hatte sie von ihren Eltern gelernt. Sie würde nur warten müssen. Er schien jemand zu sein, für den sich das Warten lohnte.