25

Allzu weit kamen wir nicht. Nach nicht einmal zehn Minuten bog Maik hinter einer Brücke in einen Feldweg, der in kurzem Bogen an einen keine zehn Meter breiten Bach führte. Dort hielt er an, um sich die schmerzende Hand zu kühlen. Jenseits der Brücke gab es einen kleinen Wasserfall, hier plätscherte das Wasser noch gemütlich vor sich hin. Die Äste der Bäume am anderen Ufer hingen bis in die Wellen hinab.

»Schlimm?«, fragte Selina.

»Nur geprellt, schätze ich.« Er schüttelte den Kopf.

»Ist dir übel?«, fragte sie, weil das ein Anzeichen für Brüche war.

»Nein.«

»Gut. Und was ist mit deinem Fuß?« Sie klang sachlich wie eine Ärztin.

»Geht schon«, sagte er, obwohl wir alle gesehen hatten, dass er die drei Schritte zum Wasser gehinkt hatte. »Trotzdem hätte ich nichts gegen eine kleine Pause und einen Happen zu essen. Was war denn im Beutel der Tusse, Lena?«

»Ich hab nicht nachgesehen, hab das Zeug einfach nur zu den Äpfeln geworfen.«

»Aber geile Aktion.« Er grinste. »Wie die geglotzt hat!«

Über den Blick der Frau konnte ich auch jetzt nicht lachen, ich hatte nur ihr verängstigtes Gesicht vor mir, das ergeben meinen Schlag erwartete. Diese Passivität machte mich wütend, so wütend wie meine eigene Aggression. Warum hatte sie kein Mann sein können? Dann ginge es mir jetzt besser.

Maik blieb am Wasser sitzen, betrachtete kurz seine geschwollene Hand, über die Tropfen rannen, und tauchte sie wieder ein.

Lena öffnete die Satteltasche und fasste hinein. Gleich darauf schwenkte sie eine große Packung Schokoeis. »Das muss zuerst weg. Bevor es schmilzt.«

»Und sonst?«

»Tiefgefrorene Erbsen.« Lena wühlte weiter. »Zwei fertig verpackte marinierte Steaks. Keine billigen.«

»Hast du auch eine Pfanne und zwei Herdplatten dafür?«

»Wer sich beschwert, kriegt nichts.« Sie riss den Deckel von der Eispackung. »Also, wer will?«

Alle wollten.

»Essen wir mit den Händen?« Selina runzelte die Stirn.

»Wir können auch reihum lecken«, sagte Maik, der selbst mit geschwollener Hand und schmerzendem Bein die dummen Sprüche nicht lassen konnte.

»Du bist eklig.« Selina sah selbst in die Satteltaschen.

»Ich hab keine Löffel eingesteckt.«

»Aber da sind Kekse.«

Ansonsten hatten wir noch Gummibärchen, zwei Packungen Butter, Essig und extra weiche Papiertaschentücher erbeutet. Damit konnten wir uns den Hintern abwischen, wenn wir uns wieder mit dem nächstbesten Baum begnügen mussten.

Wir setzten uns in die Wiese, Maik holte noch den neuen, vollkommen weißen Aschebeutel und setzte ihn zu uns. Keiner sagte etwas. Dann grub er einen ersten Keks gierig ins Eis und brach ihn ab. Hastig fischte er die Brocken heraus, leckte sich das Eis von den Fingern und langte noch mal zu. »Mann, hab ich einen Hunger.«

»Wenn wir heute Abend ein Feuer machen, können wir das Fleisch an einem angespitzten Stock braten«, schlug Lena vor.

»Oder wir reiten es genießbar, wie es die Hunnen gemacht haben.« Maik schmatzte. »Hauptsache Fleisch. Essen.«

»Das haben die nicht.«

»Doch. Hab ich gehört. Wir müssen uns einfach nur den ganzen Tag draufsetzen, und die ständige Muskelbewegung macht es irgendwie gar.«

»Ess ich trotzdem nicht. Die sind damals bestimmt zu Hunderten an Salmonellen gestorben. Das ist nicht schön, mein Onkel hatte das mal.«

»Dein Onkel ist an Salmonellen gestorben?«

»Nein. Inzwischen gibt’s da Medikamente. Tut aber tierisch weh.«

»Ich bin fürs Feuer«, sagte Selina. »Ich setz mich nicht in Marinade.«

»Der Fluch der Zivilisation, undraufsetzbare Steaks.«

Wir laberten einfach nur, während wir uns das Eis in die Münder schaufelten und immer mehr Brösel in der Packung verteilten.

»Wenigstens Jan ist hoffentlich für die Hunnenart«, sagte Maik. »So, wie er die Frau angegriffen hat, das war Dschingis-Khan-like.«

»Haha«, sagte ich genervt. »Ich weiß selbst, dass das scheiße war.«

»Was soll’s. Sie hat uns angefahren.«

»Und dann ist es okay?«, blaffte Lena. »Frauen verprügeln?«

»Machst du jetzt auf pc? Frauen dürfen Männer zusammenfahren, weil sie auch im Auto das schwache Geschlecht sind, aber wehe, ein Mann scheuert ihr eine, dann ist das Geschrei groß.«

Selina sah ihn mit kalter Wut an. »Warum hast du sie dann nicht auch vermöbelt?«

»Was kann ich dafür, dass Jan schneller war?«

»Hey! Ich hab sie nicht verprügelt, ich hab sie nicht einmal getroffen!«, protestierte ich.

»Und das macht es besser?«, fuhr Lena mich an.

»Nein«, sagte ich sofort, weil ich mich schlecht fühlte und nicht irgendwie rausreden wollte. »Oder doch, eigentlich schon. Es ist besser, ein Auto zu schlagen als eine Frau. Frag die Frau.«

Einen Augenblick lang starrte sie mich zornig an, den Mund geöffnet, dann entspannte sie sich ein wenig. »Okay, ja. Aber im Prinzip …«

»Im Prinzip hast du recht. Und wenn es dich beruhigt, meine Hand tut noch immer weh.«

»Immerhin«, sagte sie.

Ich fragte mich, ob ihr Vater genauso geprügelt hatte wie der eine Bruder.

»Oh!«, spottete Maik. »Deine Hand tut weh? Pok! Pok ! Pok! Ist es arg schlimm?«

»Zeig her«, verlangte Selina. Mir fiel wieder ein, dass ihre Mutter im Krankenhaus gearbeitet hatte, irgendwo in der Verwaltung. Davor hatte sie wohl eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und Tonfall und Wissen an ihre Tochter weitergegeben.

»Ist nicht schlimm.« Zögernd streckte ich den Arm aus.

Sie tastete um die erneut aufgeplatzten Schürfwunden von der Rinde herum und drückte mit Daumen und Zeigefinger auf das Handgelenk. »Tut das weh?«

»Nö.« Es war angenehm. Ich genoss ihre Berührung, während sie noch meinen Handrücken abtastete.

»Das?«

»Nö.«

Sie tastete weiter, und ich sagte nicht danke, weil sie dann aufgehört hätte.

Sie hörte trotzdem auf. »Mehr als einen blauen Fleck gibt das nicht.«

»Was ist mit mir?«, protestierte Maik.

»Du solltest deine Hand kühlen.« Ihre Stimme war so eisig, dass es schade war, dass man die Hand nicht damit betäuben konnte.

Maik steckte die Hand in den Fluss. »Mann, Selina, das eben war bloß ein Spruch. Ich hab noch nie ein Mädchen geschlagen.«

»Und woher soll ich das wissen?«

»Weil … Traust du mir das echt zu?« Er wirkte verwirrt. »Das war nur Spaß.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Alles, was du sagst, ist Spaß, auch wenn es nicht lustig ist. Woher soll ich wissen, was du wirklich denkst?«

»Ich schlag keine Frauen, echt nicht.«

»Sicher?« Sie klang nicht mehr ganz so eisig.

»Tu ich nicht. Ich …« Er riss die Hand hoch und spritzte Selina eine fette Fuhre Wasser ins Gesicht. »Ich mach sie nur nass.«

Selina kreischte, Maik spritzte wieder.

»Na warte!« Selina warf sich drei Meter von ihm entfernt ans Ufer und spritzte verbissen zurück. Dabei lachten und schimpften und keuchten sie.

Ich sah Lena an. Eigentlich sollte ich froh sein, dass sie mich für meinen Ausraster verabscheute, denn wenn sie mich hasste, war es leichter, mich von ihr fernzuhalten. Aber das ertrug ich nicht. Ich würde mich auch so von ihr fernhalten, nur durfte sie mich nicht verachten. Also sagte ich leise zu ihr: »Ich hab das nicht gewollt, wirklich. Und sie hat mich zum Abschied angelächelt. Meinst du nicht, dass sie mir damit verziehen hat?«

»Kann sein.« Sie sah mich an, aber ich konnte ihren Blick nicht lesen, Vorwurf lag darin, Misstrauen, Traurigkeit und irgendwas, das viel angenehmer war, das ich aber nicht deuten konnte. »Wahrscheinlich. Frauen sind so dumm.«

»Du meinst, es ist dumm von ihr, mir zu verzeihen? Aber sie tut’s dennoch?«

Lena sagte nichts, hob nur die Augenbraue ein Stück.

»Ich habe und hätte sie nicht geschlagen, bestimmt nicht. Ich tu so was nicht.« Ich sah zur Seite. »Trotzdem danke, dass du mich gebremst hast.«

»Ich dachte echt, du schlägst zu.«

»Nein. Wahrscheinlich hätte ich mir irgendwann die Hand am Auto gebrochen, aber … Ich habe an Gerber denken müssen, und da habe ich rotgesehen.«

»An wen?«

»Was?« Ich war verwirrt. Wie konnte sie den Namen nicht kennen? »Der Typ hat Christoph überfahren.«

»Du weißt noch, wie er heißt?«

»Ich weiß, wo er wohnt und … überhaupt alles.«

»Warum?« Jetzt wirkte sie verwirrt.

»Weil ich … na ja, er ist doch schuld und …«

In dem Moment traf mich ein Schwall Wasser mitten ins Gesicht. Selina und Maik standen vorgebeugt bis zu den Knien im Bach und schaufelten mit beiden Händen Wasser nach Lena und mir. Wir sprangen auf und stürzten uns auf sie, ich mit vollem Schwung auf den viel größeren Maik. Angriff war schon immer die lustigste Verteidigung gewesen. Es ging jeder gegen jeden und endete erst, als wir alle vollkommen durchnässt waren. Ich war ausgepumpt und fühlte mich besser. Wir stapften ans Ufer, der neue Beutel war vom Wasser getroffen geworden. Hastig wischte Selina mit ihrem Top die Tropfen vom Plastik.

»Das hast du davon, ihn immer rauszuholen.«

»Du meinst, im Meer wird er nicht nass?«, fragte Maik.

»Das ist was völlig anderes.« Selina setzte sich zwischen die Tüte und den Bach, als wollte sie ihn schützen.

Wir ließen uns von der Sonne trocknen.

Knolle schickte eine SMS und fragte, wo meine Eltern die Grillkohle aufbewahrten.

Garage.

Nein.

Dann ist sie alle.

Der Whisky auch gleich, antwortete er, und ich konnte sein Lachen bis hier hören.

Maiks Hand war noch immer angeschwollen. Er versuchte, alle Finger zu bewegen und probierte, ob er richtig zugreifen konnte. Es ging, wenn auch nicht mit aller Kraft.

»Kannst du zur Not fahren?«, fragte er mich.

»Zur Not. Wenn du mir zeigst, wie es geht.«

»Dann warten wir lieber noch, ob die Hand besser wird«, bestimmte Selina. »Ohne Wasserschlacht.«

»Na danke für dein Vertrauen«, murrte ich. Trotzdem ließ ich mir zeigen, wie man startete und Gas gab und wo man bremste. Dreimal würgte ich den Motor ab, dann fuhr ich langsam hundert Meter am Bach entlang, wendete in der angrenzenden Wiese und rollte etwas schneller zurück, um neben den anderen eine fette Bremsung hinzulegen. Statt zu bremsen, gab ich versehentlich Gas. Röhrend raste ich an ihnen vorbei und direkt auf den Brückensockel aus Beton zu. Wie zur Hölle bremste man? Ich dachte nicht daran, das Gas loszulassen, sondern klammerte mich an den Lenker und riss ihn nach rechts und links und wand mich so um den Sockel. Staub wirbelte auf, und ich bretterte auf der schmalen steinigen Spur zwischen Wasser und Beton unter der Brücke hindurch. Drüben schoss ich aus dem Schatten in die Sonne und brachte das Gefährt endlich zum Stehen. Keuchend saß ich auf dem Sitz, mein Herz schlug wild, die zitternden Füße hatte ich rechts und links auf den Boden gesetzt. Ich hörte, wie Maik hinter mir jubelte und pfiff, Selina schrie: »Spinnst du?«

Ich hob die Arme zur Siegerpose und ließ sie in dem Glauben, es wäre Absicht gewesen. Wenn ich fahren lernte, müsste ich nicht mehr hinter Lena sitzen. Dann würde sich Selina an mir festhalten – das war okay, die Sache in der Kiesgrube Vergangenheit. Und Maik würde seine Hände auf Lenas Hüften legen, nicht auf den Gepäckträger, und das gefiel mir überhaupt nicht. Nein, ich würde nicht fahren. Langsam wendete ich und tuckerte zurück.

»Da kommt der neue Valentino Rossi«, rief Maik.

»Wer?«

»Du kennst Rossi nicht? Der beste Motorradfahrer der Welt!«

»Ich schau keinen Motorsport.«

»Das sah grad ganz anders aus.« Maik lachte.

»Machen und schauen ist ein Unterschied.« Ich grinste, noch immer war mein Puls viel zu hoch und ich voller Adrenalin.

»Dann willst du Rennfahrer werden?«

»Was? Nein. Ich will Mathe studieren.«

Alle drei stöhnten auf.

»Und was machst du damit?«, fragte Maik. »Mathelehrer werden?«

»Bloß nicht. Ich red doch nicht den ganzen Tag vor Leuten, von denen es neunzig Prozent nicht interessiert. Zahlen sind einfach schön, das ist wie Philosophie. Wenn ich gut genug bin, bleib ich an der Uni. Ansonsten ist die ganze Welt voll Statistiken, da find ich schon einen Job.«

»Hätte ich nicht gedacht«, sagte Lena.

»Wieso? Was dachtest du, was ich mache?«

»Ich weiß nicht. Was mit Menschen, nicht mit Zahlen.«

Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, aber es klang, als sei ich eben in ihrer Wertschätzung gesunken. »An der Uni hab ich auch mit Menschen zu tun. Ich sprech nicht nur mit Zahlen.«

»Ja, schon, aber …«

»Und was willst du machen?«, fragte ich sie.

»Als Kind wollte ich immer Zoodirektorin werden, später dann Sängerin. Aber wenn mich schon eine ungesignte Band feuert, welche Chancen hab ich da? Inzwischen mag ich lieber freie Tiere, vielleicht studier ich Meeresbiologie und erforsche Walgesänge.«

»Auch nicht wirklich was mit Menschen …«, murmelte ich. Aber ein Job, bei dem man rauskam und die Welt sah. Wie auch Christoph es gewollt hatte.

»Was?« Sie hatte mich nicht verstanden.

»Nichts.«

Nach einem kurzen Moment wandte sich Lena ab. »Und ihr? Was wollt ihr machen?«

»Ich will ein Jahr nach Amerika«, sagte Maik. »Skaten, wo die Größten geskatet sind.«

»Damit verschwendest du ein ganzes Jahr?«, fragte Selina.

»Das ist keine Verschwendung!«

»Aber wie willst du das bezahlen?«

Er verzog den Mund. »Macht mein Vater, wenn ich das Abi schaffe. Und danach studiere. Er hat total Schiss, dass ich mein Leben wegwerfe, weil ich mal gesagt habe, ich will Spieletester für Playstation werden.«

»Und willst du?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich will ein gutes Leben haben und auf keinen Fall Jura studieren. Vielleicht mach ich einen YouTube-Channel mit meinen Amerikaerlebnissen, skate an den verrücktesten Orten und so. Grand Canyon, Eisbärgehege im Zoo von L.A. und so was. Wenn ich damit Geld verdienen kann, schmeiß ich das Studium wieder.«

»Selina?«

»Ich würd gern was mit Fotografie machen, vielleicht auch Kunst studieren. Mangas zeichnen. Oder Goldschmiedin werden und eigenen Schmuck designen. Ohrringe, die aussehen wie zerdrückte Coladosen, eine Kette aus zerfallenen Blättern, Ringe, die aussehen, als hätten sie einen Riss oder würden gerade schmelzen.«

»Cool«, sagte Lena. »Da komm ich einkaufen.«

»Schon wächst der Kundenstamm.« Selina lächelte, aber ich wusste nicht, ob sie damit glücklich war.

Die Sonne wanderte weiter, und ich vermisste plötzlich eine Kippe, am besten eine starke selbst gedrehte. Wir waren in Frankreich, und aus einem Augsburger Café kannte ich noch von früher das Existenzialisten-Frühstück: ein großer Kaffee, schwarz, und dazu eine filterlose Zigarette. Nach Kinobesuchen waren Christoph und ich manchmal dort gewesen, und seit dem Rauchverbot gab es dieses Frühstück natürlich nicht mehr. Trotzdem dachte ich bei Frankreich und Frühstück noch immer erst an Croissants und dann daran. Auch wenn es längst Nachmittag war, Frankreich war für mich das Land der Raucher.

Ich hatte Der Fremde des Existenzialisten Albert Camus gelesen, aber trotzdem nicht verstanden, was Existenzialismus war. Ich hatte nur begriffen, wie wenig es manchmal braucht, um einen anderen Menschen zu töten.

Ich fragte: »Hat jemand Tabak dabei?«

Niemand hatte.

»Das letzte Dorf ist einen halben Kilometer zurück«, sagte Lena. »Da gibt es bestimmt …«

»Kein Geld«, unterbrach ich sie. »Benzin geht vor.«

Sie nickte. »Tanken müssen wir auch bald.«

Ich riss die Tüte mit den Gummibärchen auf, nahm eine Handvoll und kaute lange auf jedem einzelnen herum. Es fühlte sich ganz und gar nicht existenzialistisch an.

Im Schutz ihres Rollers zog Lena die Strumpfhose zum Trocknen aus, und ich schaute nicht in ihre Richtung, nicht einmal aus dem Augenwinkel. Als sie sich wieder setzte, achtete sie genau darauf, dass man ihr nicht unter den Rock sehen konnte. Wir aßen das Eis und die Kekse auf und waren pappsatt.

Und dann klingelte Selinas Handy.

»Ja?« Schon bei diesem Wort konnte man erkennen, dass es ihre Mutter war. Die Stimme wurde ein wenig leiser, der Kopf sackte ein Stück nach vorn.

(…)

»Ich bin nicht allein.« Sie erhob sich und ging zwei Schritte zur Seite, aber falls wir sie nicht mehr hören sollten, war es nicht weit genug.

(…)

»Sie ist kein schlechter Einfluss.«

(…)

»Dann bin ich halt in Frankreich. Ja und?« Selina hob den Kopf und die Stimme. Sie hatte rote Flecken auf den Wangen und wurde lauter. »Ich hab dich belogen, weil du die Wahrheit nicht hören willst. Weil du mir immer alles verbietest, ohne zuzuhören!«

(…)

»Das kann ich dir nicht sagen!«

(…)

»Mir egal, dass sich das widerspricht! Aber was ich hier tu, tu ich für Christoph. Und ich muss es tun, das muss dir als Antwort reichen. Er hat es sich gewünscht.«

(…)

»Du hast ihn nie leiden können, und Papa noch viel weniger. Euch war er doch immer egal!«

(…)

»Beschützen?« Sie lachte. »Ich bin siebzehn, Mama! Siebzehn!«

(…)

»Nein, ich bin vernünftig. Und genau deshalb komme ich nicht zurück! Und du solltest mir nie wieder nachspionieren!«

(…)

»Doch! Das ist Spionieren!«

(…)

»Soll er doch anrufen! Ich geh nicht ran! Ich schmeiß das verdammte Ding weg! Dann seht mal zu, wie ihr mich findet!« Wütend beendete sie das Gespräch und drehte sich zu uns um. Sie atmete schwer und zitterte.

»Was ist los?«, fragte ich, obwohl wir es alle gehört hatten.

»Meine Mutter. Tut mir leid, wir müssen los.«

»Sofort?«

»Sie haben mein Handy geortet. Ich trau ihnen zu, dass sie irgendwen anrufen, vielleicht die französische Polizei oder einen Privatdetektiv.«

Ich bezweifelte, dass eine deutsche Mutter mal eben französische Polizisten herumkommandieren konnte, aber sicher war ich nicht. Ich stand auf.

»Dann muss es gehen.« Auch Maik erhob sich, und Selina zog sich hastig den Gürtel aus der Hose.

»Au ja«, tönte Maik. »Auch wenn wir’s eilig haben, so viel Zeit ist immer.«

»Idiot. Gib mir deinen Arm.« Sie wickelte den Gürtel um sein Handgelenk, um es grob zu stabilisieren. Dann öffnete sie ihr Handy, nahm die SIM-Karte raus und steckte beides in unterschiedliche Taschen. Das war fast so gut wie wegwerfen.

»Bei nächster Gelegenheit klauen wir uns Kippen«, sagte sie. »Jetzt könnte ich auch eine brauchen.«