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Am Tag von Christophs Beerdigung schien die Sonne an einem strahlend blauen Postkartenhimmel, es war der bis dahin wärmste und schönste Tag des Jahres.

Was für ein Hohn, dachte ich.

»Pass auf, dass du dir keinen Fleck auf die schwarzen Sachen machst«, sagte meine Mutter beim Frühstück. »Du hast nichts anderes.«

Ich erwiderte nichts, ich aß nicht einmal etwas, ich trank nur drei Tassen schwarzen Kaffee, um wach zu werden. Geschlafen hatte ich nicht, auch wenn ich lange im Bett geblieben war, um meine Ruhe zu haben.

»Und kondoliere den Eltern ordentlich«, erinnerte mich mein Vater, der ausnahmsweise eine dunkle Krawatte zum Anzug trug.

»Ja.«

Wir gingen zu Fuß zum Friedhof. Er lag nicht allzu weit von uns entfernt, und auf keinen Fall wollte ich mich in ein Auto setzen. Es war Mittag, die Sonne brannte furchtbar heiß vom Himmel, und wir erreichten die Aussegnungshalle vollkommen durchgeschwitzt. Auf dem Parkplatz fiel mir der Motorroller von Lena auf, schwarz und mit aufgemalten Knochen, und nicht nur mir. Ein paar Alte tuschelten, dass das kein angemessenes Gefährt sei: »Kann man nicht wenigstens an so einem Tag dezenter sein?«

»Keinen Respekt.«

Ich dachte, dass jeder ein Heuchler war, der sich auf einer Beerdigung Gedanken über fremde Fahrzeuge machte. Ich war froh um jeden, der gekommen war und es ernst meinte. Von Lena hatte Christoph nie gesprochen, aber sie war trotzdem da.

Während Mutter kurz um die Ecke ging, um ihr Deo aufzufrischen, nahm Pia meine Hand und drückte sie. Ich drehte mich zu ihr um, und sie sah mich traurig an. Sie war zwölf und hatte eher kapiert, auf was es ankam, auch wenn ich nicht wusste, ob sie mich trösten wollte oder ob sie selbst Halt suchte. Ich drückte ihre Hand und wandte mich wieder ab, um nicht loszuheulen.

Aus der Schule waren viele gekommen, nicht nur aus unserer Klasse, und auch aus dem Dorf. Alle sprachen betont leise, nickten sich bedächtig zu und achteten darauf, niemanden bei ihren Begrüßungen zu vergessen. Dennoch weiß ich nicht mehr, welche Hände ich geschüttelt habe, richtig angesehen habe ich kaum jemanden. Knolle und Ralph waren natürlich gekommen und umarmten mich lange, sie sahen beide fertig aus, Knolle stank nach Zigarette.

Christophs Freundin Selina war schmal und blass, ihr langes blondes Haar leuchtete hell in der Sonne, und als ich sie linkisch umarmte, roch ich frisches Shampoo und schweres Parfum; nicht das frische, das sie sonst benutzte.

»Verdammt«, sagte ich.

»Ja.« Mehrere Herzschläge lang hielt sie sich an mir fest, dann löste sie sich, atmete mit bebendem Unterkiefer und ging über den staubigen Kiesweg zu ihren Eltern, die zu uns herübersahen. Sie versuchte sich aufrecht zu halten, doch die Absätze ihrer schwarzen Sandalen drohten immer wieder umzuknicken, obwohl sie nicht hoch waren. Ihre Mutter nahm sie schützend in die Arme.

Die Zeremonie begann, irgendwer sprach, und ich hielt alles für Unsinn, für Floskeln, für austauschbares Gelaber. Es hatte nichts mit Christoph zu tun. Mit jedem Satz stieg meine Wut und verdrängte schließlich den Schmerz fast vollständig. Eine dumpfe Wut, die ich fest in mir verschloss, um sie nicht laut hinauszuschreien. Obwohl das Christoph wahrscheinlich gefallen hätte.

Ich wünschte mir Regen, ein Gewitter, einen Orkan herbei, der unerbittlich über uns hinwegfegen würde. Ich wollte sehen, wer dann noch blieb, durchnässt und gebeutelt. Doch der Himmel blieb blau.

Christophs Mutter stand am Grab und schluchzte unentwegt in ein weißes Taschentuch, das einen deutlichen Kontrast zu all dem Schwarz bildete. Trotz der Hitze trug sie sogar dünne Handschuhe zum Kostüm. Ihr Make-up war noch dicker aufgetragen als sonst.

Ich trauerte nicht. Trauer hatte in meiner Vorstellung etwas mit Würde zu tun, doch davon fühlte ich nichts in mir, nur Wut und Schmerz und einen blinden Hass auf alles und jeden, ich wollte irgendwas kaputt machen. Oder irgendwen. Stumm ballte ich eine Faust, bis mir der Nächste die Hand entgegenstreckte, als würde das etwas bedeuten oder bewirken.

Christophs Grab lag im Schatten der mächtigen, uralten Tannen in der hintersten Ecke des Friedhofs. Der große Grabstein bestand aus glattem schwarzem Granit, obwohl Christoph schwarz nicht besonders gemocht hatte, auch nichts, was glatt und poliert war. Ich hätte einen Stein ausgesucht, der zahllose Konturen aufwies, und ihn nur grob behauen.

Wie nannte man eigentlich Leute, die zu einer Beerdigung kommen? Besucher, Gäste, Publikum? Wie auch immer sie genannt wurden, sie drängten sich nahe um das ausgehobene Grab, und ich fragte mich, ob sie wirklich das belanglose Gelaber hören wollten oder ob sie nur im Schatten Schutz vor der Hitze suchten. Ich blieb in der brennenden Sonne stehen, der Schweiß quoll mir aus den Poren, und ich hoffte, meine Haut würde sich vom Fleisch schälen.

Ich zählte die Anwesenden, entdeckte dabei Lena ganz am Rand und vier Köpfe weiter den coolen Skater Maik, den ich noch nie hatte weinen sehen. Bis jetzt. Lenas Gesicht dagegen war vollkommen versteinert. Einhundertsechs Leute waren gekommen. Wie viele davon hatten ihn wirklich gekannt? Wer war berufsmäßig hier, wer begleitete nur einen anderen? Wer ging grundsätzlich auf jede Beerdigung im Dorf? Also trauerten nur 106 – x wirklich, wenn man all diese anderen unter der Unbekannten x zusammenfasste. Wie hoch mochte x sein? Ich presste den Gedanken aus meinem Kopf.

Als die Urne schließlich in der Erde war, steckte Christophs Mutter das Taschentuch weg und ließ die Tränen still laufen, während sie aufrecht neben dem schwarzen Grabstein stand und jede Kondolation mit einem mechanischen Händeschütteln entgegennahm. Neben ihr bewahrte sein Vater im schwarzen Anzug Haltung, die Augen gerötet, die Wangen schmal und penibel rasiert.

»Mein Beileid.«

»Danke.«

»Mein aufrechtes Beileid.«

»Danke.«

»Mein Beileid.«

»Danke.«

Wieder und wieder das Gleiche. Jedes Wort wurde gemurmelt, als wäre das besonders rücksichtsvoll oder aufrichtig, doch ich dachte nur, wie grausam es war, dass sich Eltern am Tag der Beerdigung ihres Kindes hundertvier Mal bedanken müssen. Also drückte ich Christophs Mutter stumm die Hand, damit sie nichts sagen musste. Sie sagte auch nichts und nahm mich kurz in den Arm. Danach brachte ich kein Wort mehr heraus und schüttelte auch seinem Vater stumm die Hand.

»Danke«, sagte er mechanisch mit rauer Stimme und laschem Händedruck. Dabei sah er mir stumpf in die Augen. »Danke, dass du gekommen bist.«

Natürlich, dachte ich und ging schweigend weiter.

Vom anschließenden Leichenschmaus aß ich nur drei Bissen, mehr brachte ich nicht runter.