24
Wir hatten die Ardennen hinter uns gelassen und fuhren durch eine ebene Gegend voller Felder. Mir fielen vor allem die riesigen Flächen an Sonnenblumen auf, vielleicht auch nur, weil ich das so nicht kannte.
Noch vor der Abfahrt hatte Knolle angerufen und gefragt, ob meine Eltern uns Geld für Einkäufe dagelassen hatten. »Die Finanzkrise hat uns jetzt auch erwischt. Und die Bierkrise, das ist nämlich alle. Und die Chips sind’s auch.«
»In meinem Zimmer, rechte Schublade im Schreibtisch. Das muss aber zwei Wochen langen.«
»Das Bier auch. Danke.«
Er hatte nicht noch mal gefragt, was ich trieb.
Ich saß hinter Lena, und die düsteren Gedanken vom Rastplatz waren verschwunden.
Weiße Ortsschilder und Vorwegweiser rauschten an uns vorbei, 3km, 7km, 9km, 4km, 14km, die Namen vergaß ich sofort wieder. Lenas Haarspitzen flatterten unter ihrem Helm hervor, ich achtete weiter auf Kilometerangaben und die wechselnde Landschaft. Sosehr sie unserer ähnelte, wirkte sie auch anders, aber den Unterschied konnte ich nicht richtig fassen. Auf jeden Fall wurde in Frankreich mehr gehupt, und die Verkehrsregeln wurden eher als Kann- oder Müsste-aber-Regeln betrachtet. Das erinnerte mich an Italien, man kam irgendwie miteinander zurecht. Erst wenn nicht, galten die Regeln.
Klasse, kaum einen Tag im Land, schon glaubst du, es durchblickt zu haben.
Vielleicht fielen einem im Ausland die Unterschiede auch nur auf, weil man ständig danach suchte.
Lena und Maik wechselten sich in der Führung ab, und als Maik gerade wieder an uns vorbeigeprescht war, nahm ihm ein dunkelblauer Renault Clio Gordini die Vorfahrt. Unvermittelt tauchte er hinter einem Maisfeld auf, verdeckt von einem Wegweiser, unter den irgendwer noch das Plakat für eine Party gehängt hatte: Bunte Silvesterraketen regneten auf eine fette Liste von DJs.
Maik stieg in die Bremsen und riss den Lenker nach links, doch zu langsam. Der Kühler touchierte sein Hinterrad, und er kam ins Schlingern. Selina wurde auf dem Sitz hin und her geschmissen, verlor den Halt und stürzte, als das Motorrad schon fast stand. Und dann kippte es um, ohne dass Maik es verhindern konnte. Er knallte mit der Maschine auf die Seite.
Das Auto stand.
Ich hatte noch immer das Scheppern des Zusammenpralls im Kopf und schrie. Vor meinem geistigen Auge sah ich Christoph durch die Luft fliegen und zu Boden prallen. Blut, überall Blut, er trug keinen Helm.
Auch Lena schrie. Sie bremste, und ich wurde gegen ihren Rücken gepresst, unsere Helme knallten dumpf gegeneinander. Ich spürte sie zittern und mein und ihr Herz schlagen. Direkt vor dem Auto kamen wir zum Stehen.
Die Frau hinter dem Steuer starrte uns entsetzt an, aber ich war nicht sicher, ob sie uns wirklich sah oder nur Schreckensbilder von dem, was hätte passieren können. Auf der Rückbank saßen zwei Kinder und regten sich nicht. Ein Mädchen mit von Schokolade oder Eis verschmiertem Mund und ein Junge mit verheultem Gesicht. Er heulte nicht mehr, mit weit aufgerissenen Augen stierte er hinaus zu Maik und Selina.
Selina saß inzwischen auf dem Asphalt und hielt sich den Helm, die Ellbogen auf die angewinkelten Knie gestützt. Maik würgte den Motor ab und rappelte sich wankend auf. Er humpelte und hielt sich die rechte Hand.
Ich riss mir den Helm vom Kopf, ich musste atmen.
Das Kennzeichen hatte die Nummer 413.
4 = 1 + 3.
Was hatte die 4 da verloren?
Endete auf 13, natürlich. Alles endete mit einem Unglück.
Und 41 war der Nachbar des Sinns. War also daneben, nur daneben.
Zitternd drehte sich die Frau zu ihren Kindern um und sagte etwas. Dann stieg sie aus. Ihr Gesicht war leblos blass wie die hellbeige Bluse mit der albern großen Schleife, nur die bebenden Lippen waren künstlich rot. Sie schloss die Tür und machte einen vorsichtigen Schritt auf uns zu, stammelte Satzfetzen voller Bedauern, und dann brach es halb jammernd, halb anklagend aus ihr hervor: »Trop vite, trop vite!« Als ob wir zu schnell gefahren wären.
Als ob wir schuld wären.
Wir!
Gerber!, schoss es mir durch den Kopf, und ich drehte durch. Ich sprang vom Roller, ließ den Helm einfach fallen und stürzte auf sie zu. »Du bist schuld! Du! Nicht wir!«
Speichel spritzte aus meinem Mund auf ihre Bluse, auch in ihr Gesicht.
Sie wich zurück, bevor ich sie stoßen konnte, bis sie gegen die Fahrertür stieß und nicht weiterkonnte. Sie wehrte sich nicht, ließ meine Wut einfach geschehen, die Arme halb erhoben, mehr kraftlos als zur Abwehr, ein in die Ecke gedrängtes Tier. Ein Fluchttier. Tränen quollen aus ihren Augen.
»Sie könnten tot sein! Tot!« Ich weiß nicht, warum ich nicht zuschlug. Weil sie eine Frau war? Weil sie so reglos dastand? Dabei machte es mich noch wütender, dass sie sich nicht wehrte. Ich hämmerte mit der Faust gegen das Fenster. Es klang dumpf, nichts splitterte.
Hinter der Scheibe plärrten die Kinder.
Die Frau schluchzte erstickt, nicht einmal ihre Kinder konnte sie verteidigen. Goldene Ohrringe mit glitzernd roten Steinen zappelten in ihren Ohren, sie schienen das einzig Lebendige an ihr zu sein. Sie japste nach Luft.
»Tot!« Ich hob die zur Faust geballte Rechte und hatte das Gefühl, ich würde gleich losheulen. Hilflos wie vor Gerbers Haus stand ich da und konnte nichts tun.
»Tot!« Wieder schlug ich gegen das Auto, die frischen Wunden auf meinen Fingern platzten auf. Blut floss meine Hand hinunter.
»Jan!«, schrie Maik, aber ich ließ die Hand nicht sinken. Ich nahm seinen Schrei nicht einmal richtig wahr.
Warum tat diese Frau nichts? Selbst ihr Weinen war stumm, als dürfte es niemand hören.
»Jan!« Lena griff mir in den Arm, fast sanft, aber mit Nachdruck. Ihre Hand zitterte. »Sie leben. Niemand ist tot. Hörst du? Niemand ist tot.«
»Christoph.«
»Ja, Christoph. Aber Christoph ist nicht hier. Maik und Selina geht’s gut. Christoph ist nicht hier.«
Endlich kam der Satz bei mir an. Ich ließ die Faust sinken, mein Zorn fiel in sich zusammen, und ich fühlte nur noch Scham. Ich prügelte mich eigentlich nicht, und schon gar keine Frauen, die sich nicht wehrten. Herumschubsen ließ ich mich nicht, aber ich fing auch nicht an.
Ich verstand mich selbst nicht.
Ich stolperte zwei Schritte zurück, dabei stammelte ich Entschuldigungen.
Noch immer verängstigt starrte die Frau mich an, nickte aber vorsichtig. Die rot-goldenen Ohrringe schimmerten in der Sonne.
»Wir haben kürzlich einen Freund verloren«, erklärte Lena. »Ein Unfall.«
»Das tut mir sehr leid.« Ein Teil der Angst schwand aus dem Blick der Frau, aber nicht alles. Langsam löste sie sich vom Auto, schien aber bereit, jederzeit zu fliehen.
Ich wich noch drei weitere Schritte zurück, die gespreizten Hände vor mir, als müsste ich beweisen, dass ich unbewaffnet war. Auf dem Handrücken war Blut.
Die Kinder drinnen weinten und waren noch immer in ihren Gurt geschnallt.
Ein Sportwagen raste vorbei, ohne groß abzubremsen. Der Beifahrer glotzte zu uns herüber.
»Puh!«, stöhnte Maik und kam zu Lena und dem Auto und der Frau. Den Helm hatte er abgenommen. »Das war haarscharf.«
»Geht es?« Die Frau klang ernstlich besorgt.
»Nichts passiert«, sagte er, und ich fragte mich, ob er nur so ruhig reagierte, weil ich mich so aufgeführt hatte.
»Nein!«, rief Selina. »Christoph!«
Lena verdrehte die Augen. Gerade eben hatte sie mir erklärt, dass Christoph nicht hier war, und nun fing die Nächste damit an.
»Das Plastik ist gerissen!« Verzweifelt presste Selina die Hände in die eingedrückte Satteltasche. »Wir brauchen einen neuen Beutel!«
»Was?« Flehend wandte sich Lena an die Französin. »Haben Sie einen Beutel im Auto? Bitte!«
»Was?«, fragte sie verwirrt.
»Eine Tüte. Plastiktasche, was auch immer. Schnell!« Lena drängte wie der Arzt bei einer Not-OP.
Ich stand noch immer abseits und rührte mich nicht. Maik stürzte humpelnd zu Selina und bückte sich zur Satteltasche hinunter.
»Aber …«
»Bitte!«
»Zwei!«, rief Selina. »Am besten zwei!«
Dieses Flehen schien die Frau noch mehr zu verstören als mein Ausraster eben. Menschen rasteten nun mal manchmal aus, aber niemand bettelte so aufgebracht um einen Plastikbeutel. Sie musste uns alle für durchgeknallt halten.
»Bitte!«, drängte Lena noch einmal, und endlich bewegte sich die Frau.
Wir hatten Glück, Lena hätte es vielleicht sogar Schicksal genannt, wenn man an unsere Diskussion auf dem Friedhof zurückdachte. So oder so, die Frau kam vom Einkaufen. Eingeschüchtert leerte sie einen Plastikbeutel in den Kofferraum, Obst polterte heraus, Marmelade, Käse, Wurst, Nudeln und anderes. Lenas Augen leuchteten bei dem Anblick hungrig auf.
Als die Frau unentschlossen nach dem zweiten Beutel griff, riss ihr Lena diesen noch gefüllt aus der Hand und sprang damit zum gestürzten Motorrad hinüber.
»Das ist …«, hauchte die Frau, aber sie protestierte nicht länger und schon gar nicht laut. Leise klappte sie den Kofferraum zu und schlich zur Fahrertür, den Blick ängstlich auf Lena, Selina und Maik gerichtet, die auf der Straße knieten und sich um irgendwas in den Satteltaschen kümmerten, sie konnte ja nicht wissen, um was. Vielleicht dachte sie an kleine Haustiere, die wir mitführten, Fische möglicherweise, vielleicht an gar nichts. Vielleicht reichte ihr die Erklärung, dass wir alle verrückt waren.
Ich stand noch immer einfach da und tat nichts.
Als sie die Tür öffnete, konnte man das Weinen der Kinder hören, und sie zuckte zusammen. Die drei am Motorrad scherte das nicht. Sie drehte sich zu mir um, als wäre ihr plötzlich wieder eingefallen, dass ich auch noch da war, der Typ, der sie angegriffen hatte. Selbst auf die Entfernung konnte ich sehen, dass sie zitterte und schwer atmete.
Ich versuchte ein Lächeln. Obwohl sie zwei von uns angefahren hatte, fühlte ich mich schuldig. Sie wohl auch, denn sie erwiderte das Lächeln ebenso verwirrt und hilflos.
»Sorry«, sagte ich, das französische Wort dafür wollte mir nicht einfallen, mein Kopf war leer.
Sie nickte und stieg ein. Langsam fuhr sie davon und machte einen großen Bogen um Lenas Roller, der noch immer auf der Fahrbahn stand.
Ich ging rüber und schob ihn an den Straßenrand. Weil wir kein Warndreieck hatten, stellte ich mich ein Stück weiter vorn auf und warnte Autofahrer mit den Händen, damit sie abbremsten. Es war nicht viel los, nur zwei oder drei Wagen kamen, aber die achteten alle auf die liegende Maschine und die daneben kauernden Gestalten. Einer hielt mit laufendem Motor an und fragte etwas, das ich auf die Entfernung nicht verstehen konnte. Maik schüttelte den Kopf und winkte ihn weiter. Hoffentlich rief niemand die Bullen.
Als die drei endlich die Maschine aufrichteten, ging ich zu ihnen.
»Habt ihr alles?«, fragte ich.
»So gut wie. Ein bisschen hängt noch in den Ecken der Satteltasche«, sagte Selina. »Das schütteln wir direkt ins Meer aus.«
Ich ließ den Blick über den Asphalt wandern, Asche war keine zu sehen.
»Wenn etwas rausgestaubt ist, muss es sich selbst den Weg suchen«, sagte Maik.
Selina sah mich scharf an, und ich sagte: »Tut mir leid.«
»Hoffentlich.«
»Wie geht’s deinem Kopf?«, fragte ich.
»Wieso?«
»Bist du nicht draufgefallen?«
»Ach so, ja. Ist okay, nur der Ellbogen tut weh.« Zum aufgeschürften Unterarm sagte sie nichts.
Auch Maik sagte, dass es ihm gut ging. »Das Bein kommt schon wieder in Ordnung, ich muss es einfach nur belasten.«
Er musterte das Motorrad, Lenker, Speichen und Kette. Nichts schien verbogen. Als er es anließ, klang es normal.
»Also, weiter.«