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In den nächsten Tagen verschickte ich noch weitere Briefe mit Aufklebern vom Tod oder zertrümmerten Modellrädern. Manchmal legte ich auch einen Zettel mit einer Botschaft aus ausgeschnittenen Buchstaben bei.

Warum?

Justizirrtum.

Wir vergessen nicht.

Das alles war nicht sehr geistvoll, aber das sollte es auch nicht sein, sondern unangenehm. Es sollte ihm wehtun und am besten Angst machen.

Wir lassen dich nicht vergessen.

Wir klang einfach besser als ich. Er sollte sich von einer unsichtbaren Masse bedroht fühlen. In seinem Kopf sollte sie jeden Tag größer werden, er sollte denken, dass alle gegen ihn waren, er durfte nicht wissen, dass ich nicht alle war, sondern allein.

Seit Christophs Tod war ich allein. Ich war abgeschnitten von der Welt, alles und jeder erschien mir hohl, sinnlos, fremd.

Ich malte mir aus, wie die Briefe Gerber immer weiter in die Ecke trieben, ihm den Schlaf raubten, den Verstand, und wie er schließlich aus dem Fenster sprang, um genauso zerschmettert auf der Erde zu liegen wie Christoph. Ich dachte an Blut und kalte weiße Linien auf Asphalt. Danach ging es mir keinen Deut besser.

Wie im Fieber überlegte ich, was ich in den nächsten Brief stecken konnte. Es musste etwas geben, das half.

Ein Umschlag mit schwarzem Rand, wie man ihn in Todesfällen verschickte.

Eine selbst gestaltete Briefmarke aus dem Foto eines Karners mit einem Altar aus Schädelknochen. Das Herkunftsland Jenseits, der Wert 30 Silberlinge. Hauptsache vorwurfsvoll und böse.

Irgendwann verschickte ich einfach drei Blatt Klopapier. Nichts half.

Jeden Tag erwartete ich, dass die Polizei mich befragte, aber sie kam nicht. Ich war erleichtert und zugleich enttäuscht, weil nichts geschah.

Stattdessen kam eines Abends mein Vater in mein Zimmer. Er arbeitete in einer Medienagentur in Augsburg, weil er immer etwas Kreatives hatte machen wollen. Seit ein, zwei Jahren machte er jedoch vor allem Überstunden, und wenn er von der Arbeit erzählte, erzählte er von zähen Kundengesprächen, von begriffsstutzigen Idioten, von Knausern und an guten Tagen von hoffnungsvollen neuen Kontakten in großen Firmen, in Weltkonzernen. Aus manchen tollen Kontakten wurden sehr schnell Idioten, oder ein Kollege verpfuschte den Deal, und dann musste mein Vater wieder eine kreative Lösung für das Problem finden.

»Die Gelder sitzen nicht mehr so locker wie früher«, sagte er, wenn er müde war und sah zu Pia und mir. »Für euch wird es nicht leichter.«

Im Flur hing ein Foto von ihm, dass ihn als Mittzwanziger auf der Berliner Mauer zeigte, unrasiert und jubelnd. Als Student war er sofort nach ihrem Fall hochgefahren, um zu feiern. Es war sein liebstes Bild von sich selbst, und ich als sein Sohn kannte ihn ganz anders. Ich glaube, das bedauerten wir beide. Er war ein großer schlanker Mann mit dünnem blondem Haar, kleinem Bäuchlein, festem Händedruck und einem lauten, ansteckenden Lachen. Zu jedem Thema wusste er eine passende Anekdote zu erzählen und hatte immer einen flotten Spruch oder eine schnelle Weisheit auf Lager. Je länger er arbeitete, desto schwerer fiel es ihm, das am Feierabend abzulegen.

Alle sagen, ich habe nur das dünne Haar von ihm geerbt, während ich die braunen Augen, die gerade Nase und die Statur von meiner Mutter habe: Auch wenn ich nicht richtig klein bin, groß bin ich auch nicht. 1,77 Meter, die 1,80 werde ich mit etwas Glück noch schaffen. Haare, Augen, Nase und Statur, mehr Ähnlichkeit fällt kaum jemandem ein.

Mein Vater glaubte daran, dass die Welt grundsätzlich gerecht war, zumindest die Welt, in der wir lebten. Er war nicht blind für die zahlreichen Ausnahmen, aber im Innersten war er überzeugt, dass man sein Glück erzwingen konnte, dass sich harte Arbeit auszahlte und Betrügereien irgendwann aufflogen. Er glaubte an Richtig und Falsch, und ich meist auch, aber nicht an dasselbe Richtig und Falsch. Und seit Christophs Tod glaubte ich nicht mehr, dass die Welt gerecht war.

Wenn er nach Hause kam, zog er zuerst den dunklen Anzug aus, den er im Büro trug, meist ohne Krawatte, und schlüpfte in eine weite Jeans oder Jogginghose. Nicht an diesem Abend – da kam er früher heim und schnurstracks zu mir, um mit mir zu reden, und ich fragte mich sofort, ob er das auch als Arbeit empfand. Das war nicht fair, aber ich musste nicht fair sein. Wenn der beste Freund stirbt, durfte man ein Arschloch sein.

»Wie war’s in der Schule?«, fragte er und zog den Schreibtischstuhl an den Sessel, auf dem ich lümmelte und vergeblich versuchte, einen Zombieroman zu lesen, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Er setzte sich verkehrt herum auf den Stuhl, das sollte wohl kumpelhaft wirken. Zugleich war die Stuhllehne wie eine gepolsterte Mauer zwischen uns.

»Gut«, sagte ich und legte das aufgeschlagene Buch auf der Lehne ab. Dabei war es einfach der übliche Trott gewesen.

»Keine Klausuren, keine Noten, nicht ausgefragt worden?«

»Nein.«

»Hm.« Er nahm die schwarzrandige Brille ab und hielt sie mit Daumen und Zeigefinger, während er sich mit dem Handrücken die Nase rieb. Langsam setzte er die Brille wieder auf. Das tat er immer, wenn er ein schwieriges Gespräch begann; wahrscheinlich wollte er so noch ein wenig Zeit gewinnen, bevor es unvermeidlich wurde. Vielleicht dachte er auch nur nach und sammelte sich. »Deine Mutter und ich machen uns Sorgen.«

Ich wartete und versuchte, ein möglichst gelangweiltes Gesicht aufzusetzen. Hatten sie etwas von den Briefen mitbekommen?

»Ich weiß, was du gerade durchmachst und …«

»Das weißt du nicht!«, unterbrach ich ihn.

Er holte Luft und sagte langsam: »Nein, nein, ich weiß es nicht.«

»Warum sagst du es dann?«

»Weil ich dich jeden Tag sehe. Weil deine Mutter sieht, wie du leidest.«

»Und?«

»Wir machen uns Sorgen.«

»Das hast du schon gesagt.«

»Wir wissen … nein, wir können uns vorstellen, wie hart Christophs Unfall dich getroffen hat, auch wenn es eigentlich unvorstellbar ist. Wir haben ihn auch immer gemocht, und seine Eltern haben ihn geliebt. Deine Mutter hat seine Mutter heute beim Einkaufen getroffen, und sie legt eine bewundernswerte Haltung an den Tag, trotz ihres schrecklichen Verlusts. Ein fester Rahmen, Normalität ist das Beste in einer solchen Situation, sagen die Psychologen. Normalität. Irgendwann muss man eben wieder zu ihr zurückkehren, oder es zumindest versuchen. Je früher, desto besser.«

Ich sagte nichts. Hundert Antworten wollten zugleich aus meinem Mund, drängelten und verkeilten sich ineinander, laut und ungestüm, aber keine polterte heraus.

»Ich weiß, dass ich selten da bin, aber die Finanzkrise … Ich muss die Überstunden fahren, das Haus ist noch nicht ganz abbezahlt. Mama ist immer für dich da, aber solltest du fremde Hilfe brauchen, ist das kein Problem. Wirklich.« Er sah mich eindringlich an. In seinen Augen las ich Besorgnis und Zuneigung, aber auch Verwirrung, fast Hilflosigkeit. Er wusste nicht, wie er mit mir umgehen sollte, es gab keine launigen Anekdoten, die hier halfen. Seine Stimme klang ungewohnt leise und sanft. »Du weißt, dass das alles die Krankenkasse übernimmt, wir sind gut versichert. Darüber darfst du dir keine Gedanken machen.«

Dachte er ernsthaft, ich würde mir im Augenblick Gedanken um die Bezahlung eines Psychologen machen? Tat er es etwa? Vollkommen verdutzt vergaß ich, ihn anzuschreien. Hatte er etwa erst bei der Krankenkasse angerufen, um sich über deren Leistungen zu erkundigen, bevor er mir nun diese Hilfe vorschlug?

»Was für eine verdammte Hilfe denn?« Die Schulpsychologin hatte schon mit mir gesprochen, und nach der halben Stunde war ich sicher gewesen, dass ich keine Therapie wollte. Ich wollte nicht reden, sondern schreien. Ich wollte Gerbers Auto in die Luft sprengen, obwohl ich es nicht konnte. Ich wollte Christoph zurück, nicht mich mit seinem Verlust arrangieren. Ich wollte, dass der Schmerz verschwand. Auf keinen Fall wollte ich einen Fremden in meinen Kopf lassen, der Christoph nicht gekannt hatte und nicht verstehen konnte, für den Christoph Verlust Nr. 107 war und ich der Dienstagstermin von 16.00 bis 17.00 Uhr.

»Ein Spezialist. Jemand, der sich auskennt.« Vater wirkte müde.

»Ich brauch niemanden!«

Wir saßen im Zug nach Augsburg, als Christoph sagte: »Erziehungsberechtigter ist eigentlich eines der dämlichsten Worte, die es gibt, weil es im Endeffekt die meint, die berechtigt sind, einen zu strafen. Einen guten Rat darf einem schließlich jeder geben.«

»Erziehung ist Strafe! Wusste ich’s doch.« Knolle lachte.

»Dann ist es doch gut, dass sie nicht Erziehungsverpflichtete heißen«, sagte ich.

»Sicher?« Er sah mich an.

»Ja.«

»Weil … Es ist keine Schwäche, Hilfe anzunehmen. Und ein Kollege hat mir neulich erzählt, dass bei seinem Sohn Ritalin wunderbar geholfen habe. Das war eine ganz andere Geschichte, aber falls du dich in der Schule nicht konzentrieren kannst und dir das Abi nicht versauen willst, dann … Ich meine, du hast kein ADHS, aber es gibt ja für alles etwas, stimmt’s? In den letzten Jahren hat sich da echt viel getan.«

»Ja«, sagte ich, weil ich hoffte, so würde er rasch die Klappe halten und aus meinem Zimmer verschwinden, mich endlich in Ruhe lassen. Was kümmerte mich jetzt das Abi?

Echt viel getan?

Christoph würde nie wiederkommen, da half keine Tablette. Selbst wenn sie ihn aus meinem Kopf löschen konnte, ihn immer weiter verblassen ließ, was wäre daran gut? Das klang wie Alzheimer im Zeitraffer, mit siebzehn.

Die Normalität, die mein Vater beschwor, existierte doch längst nicht mehr. Normal war die Freundschaft mit Christoph, nicht seine Abwesenheit. Wie sollte ich dahin zurückkehren? Mit einer Zeitmaschine oder mithilfe von Totenbeschwörung?

Aber all das sagte ich nicht laut, ich schrie nicht und warf nichts gegen die Wand, sondern sagte nur: »Ja.«

»Gut.« Langsam stand mein Vater auf und wuschelte mir kräftig durchs Haar. »Dann gehe ich mich mal umziehen. In zehn Minuten gibt’s Abendessen. Und wenn du’s dir anders überlegst …«

»Ja.«

Ich starrte auf die Tür, die er hinter sich zuzog, auf das eingerissene Poster mit der waffenstarrenden Tussi aus Resident Evil und dachte an alles und nichts. Noch immer kribbelte die Kopfhaut, wo er sie berührt hatte.

Der Schreibtischstuhl stand verlassen mitten im Raum.