31

Wir teilten uns auf, um Selina zu suchen. Was auch immer sie geritten haben mochte, mit der Asche abzuhauen, auf unsere Rufe reagierte sie nicht.

»Ist das wegen mir?«, fragte Lena, und ich wusste nicht, ob sie sich damit schuldig fühlte oder gut, weil sie Konkurrentin genug war.

»Das ist mir egal«, sagte Maik sauer. »Das ist gegen uns alle!«

Wir machten aus, dass wir erst zurückkommen würden, wenn wir sie gefunden hätten. Hoffentlich kam sie nicht auf die blödsinnige Idee, die Asche doch in einen Fluss zu schütten, oder kippte sie versehentlich in den Wald. Wieso tat sie Christoph das an?

»Selina, verdammt!«, schrie ich, während ich durch die Nacht stapfte. Der Wind verwehte die Worte. Trotz aller Wut hoffte ich, ihr war nichts passiert. Ich erinnerte mich an das Rascheln im Unterholz, das zu einem Tier gehörte, und daran, wie verloren ich mich gefühlt hatte. Wie allein war sie?

»Verschütte bloß nichts!«

Lena suchte bachabwärts, wo sie und ich gewesen waren. Wir hätten sie wohl nicht bemerkt, wenn sie an uns vorbeigeschlichen war.

Maik drang senkrecht zum Weg weiter in den Wald vor, und ich eilte den Weg entlang, den wir gekommen waren. Immer wieder rief ich ihren Namen, doch nichts klang zurück außer raschelndes Laub und vereinzelte Schreie von Vögeln.

Irgendwo vor mir hörte ich ein Auto fahren.

»Selina!«

Ich schrie und lief und schrie. Als ich die Straße erreichte, blickte ich nach links, über die schmale Brücke zurück, dorthin, wo wir hergekommen waren. Die Straße machte eine Kurve und verschwand zwischen der schwarzen Baummasse. Licht schimmerte auf, und dann blendeten mich grelle Scheinwerfer, Fernlicht, und ich kniff die Augen zu, bis es vorbei war. Ich sah nach rechts, rote Lichter schrumpften mit jedem Meter, den sie sich schnurgerade entfernten. Im Scheinwerferlicht tauchte ein Mädchen in Schwarz auf. Sie stand am Straßenrand und hielt den Daumen hoch. Mit der anderen Hand umklammerte sie einen prall gefüllten Beutel.

Einen Beutel, der drei andere enthalten musste.

»Selina!«

Die Bremslichter leuchteten auf, der Wagen hielt. Die Beifahrertür öffnete sich, und das Innenlicht erhellte zwei Köpfe oder Kopfstützen, auf die Entfernung konnte ich das nicht erkennen.

Selina beugte sich vor.

»Nein!«

Ich rannte los. Ich rannte wie verrückt, trommelnd schlugen meine Füße auf den Asphalt. Ich musste sie erreichen, ich musste wenigstens so weit kommen, dass sie mich hörte. Der Wind kam von hinten und trieb mich voran, wehte meine Worte weiter, als ich schreien konnte. Ich brauchte die meiste Luft zum Laufen.

»Selina!«

Sie stieg ein, ohne sich umzudrehen. Sie tat es schnell, als habe sie es eilig, fortzukommen.

»Nein!«

Der Motor heulte auf, und das Auto brauste davon.

Ich blieb stehen, hielt mir die Seite und keuchte den roten Lichtern eine kraftlose Verwünschung hinterher. Dann drehte ich um und raste zurück. Ich war stinksauer auf Selina. Wie konnte sie uns derart verraten, jetzt, nachdem wir so weit gekommen waren? Zugleich hatte ich Angst und beschimpfte sie, wie sie allein zu einem Fremden ins Auto steigen konnte. Als wäre ich meine Mutter. Oder ihre.

Das Auto hatte den Kavalierstart eines Machos hingelegt, und wenn sich Selina fühlte wie ich, wie Lena, dann hätte sie ihm nichts entgegenzusetzen, wenn er in einen Waldweg abbog. Dann würde sie nach jeder Nähe greifen, die sie kriegen konnte.

Das durfte sie nicht, nicht wenn sie Christophs Asche dabeihatte. Das durfte sie ihm nicht antun! Und das würde sie nicht, nicht freiwillig. Aber ich wusste nicht, was der fremde Fahrer tun würde. Sie war zu schön und allein, um nicht angegraben zu werden, und hoffentlich verstand er ein »Nein!«

Verzweifelt stürmte ich weiter. Ich hatte den Fahrer nicht erkennen können, aber ich war überzeugt, dass es ein Mann war.

»Maik!«, schrie ich, als ich bei unseren Schlafsäcken angekommen war. »Lena!«

Ich schrie, dass mir die Lunge schmerzte, doch niemand antwortete.

»Lena! Maik!«

Das Laub raschelte im Wind.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich sie finden sollte, und keine Zeit für eine Suche. Noch immer spürte ich den Wein in meinem Kopf, und ich fühlte mich stark, weil Lena zu mir gekommen war. Ich riss den Kein-Kind-mit-doofem-Namen-an-Bord-Aufkleber aus meiner Tasche, klebte ihn auf den Sitz des Rollers und kritzelte darauf:

Selina ist weggetrampt! Ich hinterher! Komme wieder.

Ich setzte den Hirnhelm auf und sprang auf Maiks Maschine. Einen Meter hopste ich nach vorn, bevor ich den Motor abwürgte. Beim nächsten Versuch schaffte ich drei. Ich schlug auf den Lenker, so würde ich sie nicht einholen.

»Konzentrier dich!«

Endlich brachte ich die Karre zum Laufen und ruckelte über den Waldweg zur Straße vor. Nachts war kaum Verkehr, da war das Fahren kein Problem, redete ich mir ein, und bog eiernd und ohne zu blinken in die Straße. Ich erinnerte mich nicht, wo der Blinker war.

Es begann zu regnen.

Und ich lachte, weil ich sonst nichts tun konnte. Der Asphalt wurde nass und rutschig, ich war angetrunken und hatte keine Ahnung vom Fahren. Weshalb kam immer alles zusammen?

Murphy’s Law.

Ich gab Gas, scheiß auf Murphy und Gesetze! Ich musste Selina finden, bevor es zu spät war. Bevor ihr etwas passiert war oder sie etwas tat, das sie danach nur bereute. Bevor sie zu weit weg war, hinter zu vielen Kreuzungen, bei denen ich die richtige Richtung nicht kannte.

Wassertropfen klatschten gegen mein Visier, das Scheinwerferlicht zersplitterte an ihnen und verwandelte sich in herabsinkende Sterne. Ein nasses Nachäffen von Sternschnuppen auf Plastik, und ich wünschte, ich würde nicht stürzen. Der Himmel war dunkel und leer.

In jeder Kurve bremste ich ab, ich konnte nicht abschätzen, wie schnell ich sein durfte. Meine Finger verkrampften, so fest umklammerten sie den Lenker.

Rechts führte ein ausgefahrener Kiesweg zwischen die Bäume, und ich hielt an. Ich drehte den Scheinwerfer und sah hinein. Ein Fuchs huschte mit glimmenden Augen davon, kein parkendes Auto weit und breit. Würde der Kerl ihr etwas tun wollen, würde er nicht so nah an der Straße halten, nicht da, wo man noch Schreie hören konnte. Sie würde sich wehren. Selina war stolz und stark, sobald er abbog, würde sie sich wehren, ganz bestimmt. Sie würde ihm ins Lenkrad greifen und den Wagen an den nächsten Baum setzen.

Ich fuhr weiter, ich konnte nicht jede Abzweigung kontrollieren, es gab einfach zu viele. Die meisten Autofahrer waren keine Vergewaltiger, ich durfte mich hier nicht in etwas hineinsteigern.

Und warum rast du dann betrunken durch die Nacht?

Ich bin höchstens angetrunken, redete ich mir ein, und ich hatte keinen Führerschein, den man mir abnehmen konnte. Was spielte es also für eine Rolle, ob ich mich an die Regeln hielt? Sollten sie doch versuchen, mich zu bestrafen!

Ich wusste nicht, wohin Selina wollte, doch es war unwahrscheinlich, dass irgendein nächtliches Auto bis ans Meer fuhr. Die meisten wollten immer nur zwei, drei Dörfer weiter, und dann würde sie erneut mit erhobenem Daumen am Straßenrand stehen. Das war meine Chance, ich musste sie erwischen, bevor sie vom Nächsten mitgenommen wurde.

Große Tropfen klatschten immer dichter herab, durchnässten mich. Auch wenn es warmer Sommerregen war, fror ich im Wind an den nackten Knien und unter dem dünnen T-Shirt, das schwer und nass auf meiner Haut klebte. Das Trommeln auf dem Helm klang dumpf.

Warum hatte ich nicht zwanzig Sekunden schneller an der Straße sein können? Dann hätte ich Selina erreicht, bevor sie eingestiegen wäre.

Der Wald endete, die Straße führte zwischen Feldern und Wiesen hindurch auf ein Dorf zu, dessen Laternen nur gedämpft leuchteten. In keinem der Fenster brannte noch Licht. Nirgends waren rote Rückleuchten zu sehen, das Auto war längst fort, und vermutlich führte mehr als eine Straße aus dem Dorf hinaus. Verzweifelt beschleunigte ich auf dreiundachtzig Stundenkilometer, mehr konnte ich aus dem Motor nicht herausholen.

Vier Leitpfosten vom Dorfschild entfernt wuchsen links drei Tannen am Straßenrand, groß und dunkel und alt wie die, unter denen Christophs Grab lag. Hier kauerte unter ihnen eine schlichte Bank aus Holz und auf ihr Selina. Sie hatte den Beutel fest an ihren Körper gepresst und sich darübergebeugt, die Asche zum Schutz vor dem Regen unter sich begraben. Die blonden Haare hingen ihr nass ins Gesicht.

Ich legte eine Vollbremsung hin, die Maschine kam ins Schlittern und brach beinahe aus. Mit aller Kraft umklammerte ich den Lenker und hielt instinktiv dagegen oder eher mit dem sprichwörtlichen Glück der Betrunkenen, auch wenn ich so dicht gar nicht war. Und vielleicht war mein Glück deshalb auch beschränkt, denn als ich bei den ersten Häusern zum Stehen kam, hatte ich die Füße zu spät am Boden, und die Maschine kippte seitwärts um. Ganz langsam, aber ich konnte sie nicht halten. Ich konnte sie auch nicht liegen lassen, wuchtete sie mühsam hoch und bockte sie am Ende des Fußwegs auf. Ich riss den Schlüssel aus dem Zündschloss und spurtete zu Selina. Sie hatte sich nicht gerührt.

»Selina!« Ich ging vor ihr in die Hocke.

Sie sah mich an, und ich konnte nicht erkennen, was in ihrem Gesicht Tränen, was Regen war. Nur trocken war es nicht.

»Was hat er dir getan?«

»Wer?«

»Der Kerl! Der Kerl im Auto!«

»Nichts.«

»Was?«

»Nichts.«

Erst, als sie es zum zweiten Mal sagte, begriff ich es. Und ich begriff, dass ich sie gegen jede Wahrscheinlichkeit gefunden hatte und plumpste lachend vor ihr auf die Knie und kämpfte mich aus dem Helm.

»Du kannst gar nicht fahren«, sagte Selina, die sich noch immer über die Asche beugte.

»Das stimmt.« Gerade wenn man an mein Bremsmanöver dachte. »Und wie das stimmt.«

»Warum fährst du dann …?«

»Ich hab dich gesucht. Ich hab dich wegfahren sehen und gebrüllt wie ein Verrückter, aber du hast mich nicht gehört.«

»Doch«, sagte sie leise.

»Doch? Und du bist eingestiegen.«

Sie nickte.

In mir stieg Wut auf, weil sie abgehauen war, Wut, die auch nicht von dem jämmerlichen Anblick gemildert wurde, den sie bot. »Und warum haust du einfach ab? Lässt uns allein zurück?«

Sie sah mich traurig an und biss sich auf die Lippe.

»Warum?«, schrie ich.

»Und du?«, fragte sie. »Warum hast du das gemacht?«

»Was?«

»Mit Lena.«

»Lena?« Alle Wut war verschwunden. Ich fühlte mich ertappt, obwohl ich nicht wusste, warum.

»Ich hab euch gehört. Der Wald war so still, ich konnte euch stöhnen hören.« Ihre Stimme zitterte, aber sie wurde mit jedem Wort lauter, anklagend. »Wie kannst du mir das antun? Maik ist verrückt, und sie will mir Christoph nehmen, oder hat es sogar, was weiß denn ich? Du warst der Einzige, der … Ich dachte immer, dass … Verdammt, Jan! Mit ihr! Nach Christoph auch du. Warum?«

»Sie hatte nichts mit Christoph«, sagte ich lahm.

»Woher willst du das wissen? Hat sie dir das gesagt, bevor sie dich bestiegen hat! Es dir leise ins Ohr gesäuselt, das kleine, unschuldige Ding?«

»Ja.«

»Und das glaubst du? Einfach so? Ihr Männer seid so bescheuert!«

»Ja.«

Ihre Lippen zitterten.

»Ich weiß, dass es stimmt«, sagte ich.

»Das macht es nicht besser!«, schrie sie und begann zu weinen, weil es eben doch alles änderte, weil es ihre Angst nahm, Christoph habe sie betrogen. »Das ist doch kein Grund, der für sie spricht. Warum hast du es mit ihr gemacht?«

»Du bist Christophs Freundin«, sagte ich, und das war eine seltsame Antwort, aber in dem Moment schien sie zu passen. Das ganze Gespräch lief seltsam. Und die Antwort schien alles zu erklären, auch wenn ich es selbst nicht ganz verstand.

»Ich war«, korrigierte sie.

»Für mich bist du es immer noch.«

»Ach ja?« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Und wie mache ich das? Ich rede und schlafe mit einem Haufen Asche? Ich lasse mich von ihr halten, lache mit ihr und kuschel mich im Kino an sie?«

»Nein.«

»Was soll das dann?«

»Für Freundinnen gibt es kein Wort wie Witwe.«

Sie starrte mich an, und ich starrte zurück. In der Dunkelheit konnte ich ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen.

»Du warst immer der einzige von Christophs Freunden, der mir was bedeutet hat«, sagte sie leise. »Seit damals in der Kiesgrube.«

»Du auch«, sagte ich, obwohl das überhaupt keinen Sinn ergab. Sie verstand es trotzdem.

»Es war schrecklich, dich mit ihr zu hören.«

»Ich …«

»Hast du dich verknallt?«

Ich zögerte, dann sagte ich: »Ich weiß nicht«, weil ich Selina nicht verletzen wollte, obwohl ich nicht wusste, wie ich das anstellen sollte. Ich wusste auch nicht, was Lenas Nein zu Christoph nun für mich hieß. »Darum ging es gar nicht. Wir waren nur allein.«

»Ich bin auch allein.«

Vorsichtig strich ich ihr das nasse Haar aus der Stirn. »Ich weiß.«

»Und treib ich’s deshalb mit Maik?«

»Ich hoffe nicht.«

»Ich darf also nicht?«

»Willst du denn?«

»Darum geht es hier nicht!«

»Ja, worum denn dann?«

»Du bist ein Idiot!«

Ja, ich war ein Idiot, ich hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, worauf sie hinauswollte. »Mag sein. Aber wir haben’s gar nicht richtig getrieben. Wir hatten kein Gummi.«

»Was?«

»Hast du etwa eins dabei?« Ich hatte nur auf den Friedhof gewollt.

»Nee.« Sie klang halb belustigt, halb erleichtert.

Wieder schwiegen wir. Die Tannennadeln waren so dicht, dass kaum Regen hindurchdrang. Dann hörte es auf zu regnen, nur von den Zweigen fielen noch letzte Tropfen um uns zu Boden.

»Und der Typ ist nicht weitergefahren?«, fragte ich nach einer Weile, weil ich die Stille nicht ertrug und nicht das Reden über Lena.

»Doch.«

»Falsche Richtung?«

»Nein. Ich wollte raus. Du hattest geschrien, ich sollte bleiben.«

»Und …?«

»Ich wollte nicht mehr weiter, und als ich hier stand, konnte ich doch nicht zurück. Ich wusste nicht, was ich wollte, wohin ich soll. Es fing an zu regnen, und zum ersten Mal hatte ich Christoph für mich allein. Ich hab mich einfach hingesetzt und ihn gehalten. Mit ihm geredet. Bescheuert, oder?«

»Nein. Vorhin wollte ich mit ihm in den Wald, aber ich hatte zu viel Angst, ihn zu verschütten.«

Sie sah auf den Beutel in ihrem Schoß und fuhr mit der Hand über das Plastik. »Nein, er soll ans Meer.«

Ich nickte und stand auf.

Sie blieb sitzen. »Warum hat dir eigentlich Maik sein Motorrad geliehen?«

»Hat er nicht. Ich konnte ihn nicht fragen, er sucht dich in der anderen Richtung. Ich hatte Angst, dass der Kerl dir was tut, und da konnte ich nicht warten.«

»Danke.«

»Schon gut. Ich hab nicht nachgedacht, ich habe getrunken.«

»Unsinn.« Sie lächelte. »Du denkst doch immer nach.«

»Ich werde das schon noch lernen.« Ich hielt ihr die Hand hin. »Komm mit zurück.«

Sie stand auf, ohne sie zu ergreifen. »Ich weiß nicht, ob ich bei dir hinten drauf will.«

»Auf keinen Fall. Ich bin inzwischen viel zu nüchtern, um zu fahren.«

Wir steckten die Asche in die Satteltaschen, und ich schob das Motorrad zurück, während Selina neben mir herlief. Am Himmel waren wieder Sterne zu sehen.

»Du Arschloch!«, kläffte Maik, als er mich eine Stunde später kommen sah. Und als das Motorrad ordentlich aufgebockt war, stieß er mich mit beiden Händen gegen die Brust.

Ich stolperte zwei Schritte zurück. »Spinnst du?«

Er stieß mich wieder. »Was nimmst du einfach meine Karre?«

»Du warst nicht da!« Ich schlug seine Arme weg.

»Ja und?«, schrie jetzt Lena. »Du kannst nicht fahren, du hättest sterben können!«

»Unsinn.«

»Doch!« Maiks Hände trafen mich wieder an derselben Stelle. Nicht fest, aber es nervte. »Das hätte niemandem was gebracht!«

»Aber ich bin nicht tot.« Ich schubste ihn.

»Reiner Zufall!«

»Ja und? Am Leben ist am Leben! Und dein blödes Ding hat keinen Kratzer!« Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, und falls er morgen etwas fand, würde ich es auf seinen Unfall schieben.

Er spuckte aus. »Das nächste Mal nimmst du den Roller. Der ist langsamer, da brichst du dir nicht so schnell das Genick.«

»He!«, blaffte Lena.

»Und wie hol ich damit ein Auto ein?«, fragte ich.

»Es gibt kein nächstes Mal«, sagte Selina und brachte uns damit alle zum Verstummen.

»Wo warst du?«, fragte Maik grob.

»Ich musste allein sein.«

Lena sah sie kurz an und dann mich. Hatte sie mich belogen, was Christoph anbelangte? Ich zuckte mit den Schultern.

»Mit der Asche?«, knurrte Maik.

»Ja.«

»Und Bescheid geben konntest du nicht?«

»Tut mir leid«, sagte sie, aber nichts von Lena und mir.

»Hoffentlich.«

Die Schlafsäcke hatten sich mit Regen vollgesogen, und der Boden war unangenehm feucht. Keiner wollte sich hier mehr hinlegen.

Wir packten zusammen und fuhren weiter, bis wir einen Heuschober aus dunklem Holz entdeckten. Er stand auf offenem Feld, die nächste Siedlung war ein Stück entfernt. Wir rollten hinein und leuchteten das Innere mit dem Scheinwerfer des Rollers aus. Es gab nichts außer aufgetürmtem Heu. Ich stellte den Weckruf meines Handys auf sechs Uhr, dann wären wir weg, bevor der Bauer käme. Drei Stunden Schlaf waren besser als nichts.

Wir suchten uns passende Plätze und rutschten das Heu zurecht, dann löschte Lena das Licht. Mit einem Schlag war es finster. Durch die Ritzen zwischen den Wandbrettern drang eine winzige Ahnung von Licht, viel zu wenig, um etwas zu sehen.

»Sagt was«, forderte Lena, damit sie sich orientieren konnte.

Maik rief: »Was.«

Vorsichtige Schritte schabten über den Boden, dann raschelte das Heu neben mir. Maik hatte gerufen, aber sie hatte mich gefunden. Als sie ruhig lag, herrschte beinahe Stille, nur leise konnte ich die anderen atmen hören. Und dann berührte mich Lenas Hand am Ellbogen. Ich drehte mich auf die Seite und schob meine Hand zwischen ihre tastenden Finger.

»Gute Nacht«, sagte ich.

»Nacht«, sagten die anderen.

Lenas Daumen strich über meinen Handrücken, bis ich eingeschlafen war. Ohne Zudecke war es kühl.

Viel zu bald weckte uns das Handy. Die Morgenkälte war mir unter die Haut gekrochen, ich zitterte und fühlte mich gerädert. Irgendwann in der Nacht hatten unsere Hände sich verloren.

Wir kämpften uns hoch, schimpften vor uns hin und rieben den Schlaf aus den Augen. Lena zog mir einen Halm aus dem Haar, und Selina bat Maik, ihr Haar nach Heu abzusuchen.

Packen mussten wir nichts, und so brachen wir nach zehn Minuten auf. Der Himmel war ohne Wolken und die Luft frisch. Wir fuhren bis zu einem kleinen Rastplatz, an dem ein Wanderweg die Straße kreuzte. Dort rollten wir die müffelnden Schlafsäcke aus und breiteten sie über die Steintische und Banklehnen, damit sie in der Sonne trockneten.

Ich sehnte mich nach einer warmen Dusche, aber wir hatten heute noch keinen Campingplatz gesehen. Ich putzte die Zähne, um den Geschmack nach Nacht loszuwerden, und spülte den Mund sparsam mit Trinkwasser aus. Dann packten wir das Essen zum Kanister auf den letzten freien Tisch. Die Sonne war noch schwach, ich rieb mir die Arme und Beine und hüpfte auf der Stelle. Maik hüpfte höher und schneller, und die Mädchen verschränkten die Arme.

»Was ist mit deinem Bein?«, fragte Selina.

»Besser«, sagte Maik.

»Geht schon«, sagte ich.

»Christoph hat mich gebeten, das niemandem zu erzählen«, begann Lena, ohne dass irgendwer sie darauf angesprochen hatte. »Er hat mich sogar schwören lassen, aber das war egal, ein Versprechen ist ein Versprechen. Wenn ich es euch erzähle, bleibt es unter uns?«

»Ja«, sagten wir alle, ohne nachzudenken.