12

Christophs Grab war mit einer Reihe hellgrauer, geschliffener Granitsteine eingefasst, die fast wie eine Mauer wirkten. Schon bei der Beerdigung hatte ich an ein Gefängnis denken müssen. Seine Mutter dagegen hatte die penible Einfassung als ordentlich und aufgeräumt bezeichnet. Ja, sie hatte ihren Sohn hier aufgeräumt.

Selina hatte die Blumen sorgfältig herausgeholt und in genau derselben Ordnung rechts neben der Umrandung abgelegt, damit wir sie zum Schluss wieder passend einpflanzen konnten. Wir durften keine Spuren hinterlassen.

Jetzt kauerte sie auf der linken Seite des Grabs und schaufelte die dunkle Erde heraus. Sie atmete schwer und konnte die Gartenschaufel kaum noch halten, doch sie wollte nicht aufgeben. Jedes Mal rutschten ihr ein paar Brocken von der Kelle, weil sie sie nicht mehr gerade hielt und der Arm zitterte.

Wortlos kniete ich mich neben sie und half ihr mit den blanken Händen, wühlte die lose Erde aus dem Loch, die sie mit der Schaufel lockerte.

»Danke.«

Wieder und wieder stieß sie die Spitze in den Boden und überließ mir das Rausschaufeln. Die Erde war kühl und noch erstaunlich locker. Die Wurzeln der nahen Tanne drangen überwiegend in die Tiefe; die wenigen dünnen, die bis hier gereicht hatten, waren beim Ausheben des Lochs abgehackt worden und mischten sich nun als totes Holz unter die Erde. Zwei Wurmhälften ringelten sich plötzlich zwischen meinen Fingern, ich schleuderte sie fort und wühlte mich weiter in die Tiefe. Keuchend stieß Selina neben mir wieder und wieder zu. Dreck drang unter meine Fingernägel, ich kratzte mich an einer Wurzel oder einem spitzen Stein und grub unbeirrt weiter.

Lena kniete sich mir gegenüber hin und hob ebenfalls Erde aus dem Loch. Dabei achtete sie darauf, sich keinen Nagel abzubrechen.

Selina schnaubte verächtlich und sagte: »Bring die Blumen hinter dir nicht durcheinander.«

»Seh’ ich so blöd aus?«

»Pass einfach auf!« Selina stieß die Gartenschaufel gefährlich nahe an Lenas Händen ins Erdreich.

»Pass du doch auf!«

»Reg dich ab. Deinen teuren Nägeln wird schon nichts passieren.«

»Sagt das Mädchen mit der Schaufel, das sich nicht einmal die Hände schmutzig macht.«

»Was willst du …?«

»Lass mich mal!«, unterbrach sie Maik, kniete sich vor Selina hin und griff nach der Schaufel.

»He!« Wütend zog sie den Arm zurück.

»Ich dachte, du brauchst vielleicht eine Pause, wenn du lieber schwätzt als arbeitest.«

»Nein.« Stumm grub Selina weiter.

Ich achtete darauf, meine Hände zwischen ihr und Lena zu halten, damit sie nicht doch noch getroffen wurde. Doch Selina begnügte sich damit, uns beiden ab und zu die Erde über Hände und Unterarme zu werfen. Warnend stierte ich Lena an, und sie beschwerte sich nicht.

Die Kirchturmuhr schlug einmal. Eins oder viertel zwei, ich wusste es nicht, hatte nicht darauf geachtet. Das Loch war inzwischen so tief, dass ich mich weit vorbeugen musste, um den Boden zu erreichen.

Wir wechselten uns ab, und auch Lena musste sich vorbeugen, und dabei löste sich ihr Ausschnitt ein Stück von der Haut. Es war zu dunkel, um etwas Genaues zu erkennen. Ich linste trotzdem hin und schämte mich dafür, und dann beugte ich mich wieder ins Loch, und dann wieder sie, und ich wollte nicht hinsehen und wollte es doch. Der Träger ihres BH war schwarz. Ich sah auf ihre Hände und das Haar, wenn der Kopf unten war, ihre Augen streifte mein Blick nur, wenn wir beide oben waren.

»Meint ihr eigentlich, es ist Schicksal, dass wir uns hier alle getroffen haben?«, fragte Maik, der nicht recht zu wissen schien, wie er uns helfen sollte, ohne seine Finger zu gefährden.

»Nein«, sagte Selina und stach tief in die Erde.

»Ja«, sagte Lena im selben Moment. »Was soll es denn sonst sein?«

»Zufall«, sagte ich. Ich glaubte nicht an Schicksal, damit sollte man mir vom Leib bleiben. Es konnte nicht vorherbestimmt gewesen sein, dass Christoph totgefahren wurde. Was wäre denn das für ein widerlicher Drecksack von Schicksal?

»Zufall?« Maik schnaubte verächtlich. »Vier vollkommen unterschiedliche Leute, die sich unabhängig voneinander gleichzeitig am selben Grab treffen? Mitten in der Nacht, wenn der Friedhof geschlossen ist? Das wäre ein arger Zufall.«

»Es ist Christophs Geburtstag«, sagte ich und suchte noch im Reden nach weiteren Erklärungen. »Keiner von uns wollte ihn tagsüber besuchen. Also mussten wir alle zwischen zehn und Mitternacht heimlich auftauchen. Je später, desto besser wegen der Nachbarn. Es ist vollkommen logisch, dass wir alle jetzt hier sind.«

Selina nickte.

»Wir hätten uns trotzdem verpassen können«, beharrte Lena und unterbrach ihre Arbeit.

»Das wäre dann eben Pech gewesen.« Mit einem Achselzucken hob ich weiter schwarze Erde aus der Tiefe.

»Für mich zumindest war es Schicksal, dass du gekommen bist«, sagte Maik leise, aber bestimmt. »Genau dann und nicht zwei Minuten später.«

»Warum nicht einfach Glück?« Ich legte die Hände auf die Oberschenkel und sah ihn an.

»Glück hatte ich viel zu selten im Leben. Das kann mir nicht geholfen haben.« In der Dunkelheit konnte ich seine Gesichtszüge nicht richtig deuten, Erleichterung oder Wehmut.

»Als du damals von der Brücke gesprungen bist, ohne dir was zu tun, war das kein Glück?«

»Nein. Ich wusste, wie tief das Wasser war. Glück wäre gewesen, wenn ich Jenny bekommen hätte und keine Erkältung.«

»Es war Schicksal. Keiner von uns hätte das hier allein durchgezogen«, sagte Lena nachdrücklich. »Hätten wir uns nicht getroffen, würde Christoph nie seine Seebestattung bekommen. Niemals. Das ist Schicksal.«

»Das ist …«, sagte Selina, und dann stieß die Schaufel auf etwas Hartes, und alle verstummten.

»Christoph«, flüsterte sie.

Keiner von uns rührte sich.

Mit einem Mal hatte uns Scheu erfasst, wir zweifelten, ob wir wirklich das Richtige taten. Weder Lena noch ich langten nach unten, um die letzte gelockerte Erde von Christophs Urne zu kratzen. War das wirklich das, was Christoph gewollt hätte?

Mein Blick huschte umher, als wäre die Antwort irgendwo in der Nacht zu finden. Ich war nicht abergläubisch, aber in Filmen schickten die Toten einem immer ein Zeichen, und so war der Blick ein Reflex. Nichts regte sich auf dem ganzen Friedhof, kein Wind frischte auf, kein Ast fiel vom Stamm, kein Eichhörnchen huschte über den Weg, keine Katze maunzte, kein Vogel krächzte, und schon gar nicht zeigte sich eine geisterhafte Erscheinung. Im Unterschied zu den Figuren im Film hätte ich auch nicht gewusst, ob ein Krächzen Ja und ein Blätterrauschen Nein bedeutete.

Wir rührten uns nicht. Nur Selina, erschöpft vom Graben, atmete schwer.

Gab es tatsächlich so etwas wie Totenruhe? Rissen wir Christoph aus seinem ewigen Frieden und verdammten ihn zu …

Ja, zu was eigentlich?

Christoph hatte Ruhe gehasst. Was sollte er also eine ewige wollen? Wenn er die Wahl gehabt hätte, hätte er sich für ewige Rastlosigkeit entschieden statt für Stillstand. Die Vorstellung eines Nirwanas war für ihn so schrecklich gewesen wie die einer Hölle.

Wie kann das Ziel des Lebens ewige Leblosigkeit sein?, hatte er mal gefragt.

Unwillkürlich lächelte ich.

Langsam zog Selina die Gartenschaufel aus dem Loch und legte sie hinter sich. Dann beugte sie sich hinab und lockerte die letzte Erde fast zärtlich mit bloßen Händen. Stumm halfen wir anderen ihr und legten die Urne frei. Unsere Finger, Arme und Köpfe berührten sich immer wieder, ich bekam eine Strähne von Lenas Haar in den Mund und roch frisch aufgeworfene Erde und Lenas schweres Parfum und auch das dezentere von Selina, irgendein Deo oder Shampoo oder Duschgel und dennoch den Schweiß von uns allen.

Das polierte Eisen der Urne war kühl, die Fingernägel schrappten über die im Deckel eingravierten Buchstaben. Mir lief ein Schauer den Arm hinauf, die Härchen richteten sich auf, Selinas Finger strichen über meine, und ich dachte: Christoph.

Ich berührte Lena.

Maiks Lippen bewegten sich, und ich war überzeugt, dass er lautlose Entschuldigungen murmelte.

Lena wischte wieder und wieder Erde von der Urne, obwohl ständig neue von den offenen Schachtwänden herunterrieselte.

Tiefer und tiefer gruben wir einen Spalt um die Urne herum, in den wir schließlich fassten und sie heraushoben. Sanft setzten wir sie vor das Grab und knieten uns schweigend um sie herum.

»Und jetzt?«, fragte ich nach einer Weile, weil sonst niemand etwas sagte.

»Holen wir die Asche heraus«, bestimmte Lena.

»Warum nehmen wir nicht einfach die ganze Urne mit?«, fragte Maik.

»Egal, wie gründlich wir die Erde zurückschaufeln, es kann sein, dass wir Spuren hinterlassen, die wir im Dunkeln nicht sehen, aber irgendwer morgen in der Sonne. Wenn sie dann das Grab öffnen, ist es gut, wenn die Urne noch in der Erde steckt.«

»Du glaubst, die heben einfach so ein Grab aus, nur weil Erde herumliegt?«

Lena zuckte mit den Achseln. »Ich würde es nicht drauf ankommen lassen.«

Wer auch immer sie waren, Polizei, Pfarrer, Angehörige oder irgendein Friedhofsamt, falls es das gab. Keiner von uns wusste es.

»Und was machen wir mit der Asche?«, fragte ich.

»Wir packen sie in meinen Beutel«, schlug Lena vor.

»Nein«, widersprach Selina sofort. »Du bekommst ihn nicht allein.«

»Und was willst du sonst tun? Ihn dir in die Hosentasche stecken?«

Die beiden Mädchen starrten sich an, und einen verrückten Augenblick lang dachte ich, sie würden gleich übereinander herfallen und sich prügeln.

»Ich müsste auch noch ein oder zwei Beutel in meiner Satteltasche haben«, sagte Maik ruhig und stand auf. »Ich geh sie mal holen.«

»Dann haben wir zwei oder drei«, sagte ich. »Aber wir sind zu viert.«

»Fängst du jetzt auch noch an?« Maik klang mehr verwirrt als verärgert. »Christoph geht doch leicht in die zwei, drei Beutel rein.«

»Wie sieht es mit dir aus?«, fragte ich Lena, ohne auf Maik einzugehen. Mich hatte eine alberne Idee von Gleichberechtigung gepackt, so eine Kinderlogik. Bei drei Beuteln wäre immer einer benachteiligt, es sei denn, wir würden uns mit Tragen abwechseln. Aber das erschien mir kaum praktikabel. »Hast du noch mehr in deinem Roller?«

»Kann sein«, sagte sie ausweichend.

»Dann schau doch bitte mal nach.«

»Gehen wir«, drängte Maik, bevor sie etwas entgegnen konnte, und nahm sie mit in Richtung Tor.

»Hatte Christoph was mit der?«, zischte Selina, als Lena und Maik außer Hörweite waren.

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte ich.

»Lüg mich bloß nicht an.« In ihrer Stimme schwang so viel Wut und Kälte mit, als wäre ich ihr Problem und nicht Lena.

»Das tu ich nicht, hab ich nie getan.«

»Und was macht sie dann hier?«

»Ich weiß es nicht. Christoph hat sie nie erwähnt, das schwör ich dir.«

»Nie? Ehrlich?«

»Vielleicht irgendwas Belangloses über die Schule oder über die schwarzen Klamotten oder den Knochenroller, das, was alle gesagt haben. Sonst nichts. Ich war selbst überrascht, als sie hier auftauchte.« Dass ich sie auf der Beerdigung gesehen hatte, verschwieg ich. Da waren viele gewesen, einhundertsieben oder einhundertzwölf, genau konnte ich mich nicht erinnern.

»Ich will, dass sie verschwindet.«

»Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Immerhin ist sie hier. Seine angeblichen Freunde feiern eine Party, aber sie ist hergekommen. Ich finde, dadurch hat sie auch das Recht, hier zu sein.«

Ihr Blick wurde noch kälter. »Fängst du jetzt auch mit der Schicksal-Nummer an? Du hast gesagt, es ist ein dummer Zufall.«

»Dass wir uns getroffen haben, ja. Aber dass sie überhaupt hier ist, ist keiner, sondern ihre Entscheidung. Sie ist mit Absicht hier, wie wir alle.«

»Aber warum? Sie war nicht mit ihm befreundet!«

»Da musst du sie fragen.«

»Das werde ich auf keinen Fall!«

Ich zuckte mit den Schultern und versuchte ein Lächeln, das misslang.

»Und du bist sicher, dass sie nichts …?«

»Christoph hat dich geliebt, keine andere«, sagte ich und dachte an die Kiesgrube. »Aber sie kann sich ja trotzdem in ihn verknallt haben.«

»Dann ist sie also tatsächlich in ihn verliebt gewesen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Warum sagst du es dann?«

»Warum sollte sie sonst hier sein?«

Wir schwiegen, die Stille zog sich hin und wurde mir mit jedem Moment unangenehmer, und so betonte ich noch einmal: »Er hat sie nie erwähnt.«

»Ich vermisse ihn wie verrückt«, gestand sie leise. »Es tut immer noch weh, wenn ich an ihn denke. Und das tu ich jeden Tag, jede Stunde.«

»Ich weiß.«

»Ich kann nicht vergessen, wie er zugerichtet war. Beim Einschlafen sehe ich seinen zerschmetterten Kopf vor mir, und dann sticht es mir in den Schädel, und ich reiße die Augen auf und starre ins Dunkel. Sehe seine verdrehten Beine, seine Hände, seine eingedrückte Brust, und alles ist Schmerz. Ich denke daran, dass sein Herz nicht mehr schlägt, und dann wird meines ganz klein und hart wie Stein und will auch aufhören zu schlagen. Und ich lass es nicht, befehle ihm: weiter, immer weiter, weiß aber nicht, warum. Alles hat so wenig Sinn ohne ihn.« Selina schluckte. »Dass die Zeit alle Wunden heilt, ist eine Lüge. Sie lässt einen höchstens abstumpfen. Sich mit etwas zu arrangieren, ist doch keine Heilung, und zu vergessen auch nicht.«

»Ja.« Ich nickte, weil ich mir dieses Geschwätz von der mit wundersamen Heilkräften ausgestatteten Zeit auch viel zu oft hatte anhören müssen, als wäre sie eine Halbgöttin in Weiß, Dr. med. Zeit. Doch eigentlich rinnt sie nur blöde vor sich hin, und die wirklich Kranken denken bei Zeit nicht an Heilung, sondern fragen ängstlich, wie viel ihnen noch bleibt. X Wochen oder Y Tage, es geht um Fristen statt um Heilung.

Die Zeit heilt alle Wunden, das war eine Binsenweisheit, die zur Forderung nach Rückkehr zur Normalität passte: der Glaube, dass alles wieder so werden könnte, wie es mal gewesen ist. Aber wie? Und warum? Etwas Unwiderrufliches hatte sich geändert. Und was war an Normalität eigentlich so erstrebenswert?

Da verstand ich meine Eltern nicht. Egal, ob jemandem etwas außergewöhnlich Gutes oder Schlechtes widerfuhr, egal, ob ein Grund zum Feiern oder um die Zügel schleifen zu lassen, immer hieß es: Ab morgen ist wieder Normalität. Nach Christophs Tod hatten sie mir ein Mehr an Zeit zugestanden, es gab keine konkreten Fristen. Aber am Grundsatz der heiligen Normalität wurde nicht gezweifelt und schon gar nicht gerüttelt.

Aber was war sie schon?

Aufstehen mit dem Wecker, Tagwerk nach Dienst- oder Stundenplan, Hausaufgaben oder Überstunden und ein pünktliches Abendessen um 19:30 Uhr ohne Vorspeise und Nachtisch, möglichst mit Vater. Dreißig Mal kauen bei jedem Bissen, natürlich mit geschlossenen Lippen, dann schlucken. Alles wird schweigend verdaut, und bis zur Tagesschau ist die Spülmaschine eingeräumt.

»Wenn man einen Arm verliert, dann verheilt zwar irgendwann die Wunde, aber trotzdem hat man nur noch einen Arm. Der andere ist für immer weg, das ist keine richtige Heilung«, sagte ich. »Und wenn auch die Schmerzen verschwinden, der Phantomschmerz bleibt für immer.«

»Manchmal redest du ziemlichen Stuss«, sagte Selina, aber es klang nicht feindselig. »Aber Christoph ist kein Phantomschmerz.«

»Nein, das ist er nicht.«

Ich legte meine Hand auf die Urne und bemerkte, dass dort schon Selinas lag. Sie streichelte über den Deckel aus Eisen und die Zierummantelung aus Keramik, als wären das Zärtlichkeiten für Christoph, die er spüren konnte.

»Meinst du, er kann uns sehen?«, fragte ich.

»Ich hoffe es.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Doch, ja. Ich glaube schon. Und du?«

»Ich weiß nicht. Es wäre schön, aber … Ich glaub nicht an ein Jenseits.«

»Und du willst die Asche trotzdem ans Meer fahren? Warum?«

»Das war nicht meine Idee.«

»Aber du machst mit.«

»Weil es richtig ist. Es war sein Wunsch, egal, ob er es noch mitbekommt oder nicht. Du warst ihm auch dann treu, als er nicht hergesehen hat, oder? Darauf kommt es doch an, für einen da zu sein, wenn der es für sich selbst nicht sein kann.«

»Auch wenn du recht hast, deine Vergleiche sind echt daneben.«

»Das hat Christoph auch immer gesagt.«

»Ich weiß.«

Wir schwiegen wieder, und es war ein friedliches Schweigen. Auch sonst war die Nacht ruhig.

»Was ist mit Maik?«, fragte Selina nach einer Weile.

»Was soll mit ihm sein?«

»Hat er versucht, sich umzubringen?«

»Ja.« Ich erzählte ihr, wie ich ihn am Grab überrascht hatte, sie hatte ein Recht, es zu wissen.

Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, kamen die anderen zurück und brachten weitere Plastikbeutel mit. Jeder besaß nun einen eigenen, meiner war groß, weiß und mit dem Aufdruck einer Drogeriekette versehen, die Henkel waren verstärkte Schlaufen. Gründlich kontrollierte ich, dass er kein noch so kleines Loch hatte und dass die Henkel stabil waren. Auch die anderen überprüften ihre Beutel, dann brachen wir vorsichtig die Urne auf.

»Das ist verdammt wenig«, murmelte Maik, als der Deckel offen war. Es war wirklich nicht viel, was von einem blieb.

Trotz der Windstille knieten wir uns schützend um die Urne, dicht gedrängt wie Hände um ein Feuerzeug im Freien, falls eine plötzliche Bö käme. Aber die Luft regte sich nicht.

Reihum nahm sich jeder eine gehäufte Gartenschaufel Asche aus der Urne, wir teilten Christophs Überreste gleichmäßig und fair auf.

Bei meiner ersten Schaufel war ich so nervös, dass ich zitterte. Ich hatte Angst, niesen zu müssen, und hielt die Luft an, um nur ja kein bisschen von Christoph fortzupusten. Bei der zweiten Schaufel wurde ich von einer Welle Albernheit überschwemmt und dachte: Gut, dass er Asche ist, so müssen wir nicht streiten, wer sein Herz bekommt und wer nur die kleine Zehe oder den linken Arm.

Ich unterdrückte ein hysterisches Lachen. Und dann schämte ich mich dafür, alles in mir fiel zusammen, ich fühlte mich wie angefüllt mit abgestandener Dunkelheit.

Wir leerten die Urne so weit, bis man mit der schmalen Schaufel nichts mehr herauskratzen konnte. Dann hoben wir sie zu dritt hoch und schütteten den kläglichen Rest in Selinas Tüte. Vielleicht ging uns dabei ein wenig von Christoph verloren, doch wenn, so blieb eben etwas von ihm hier. Im Meer würde er sich auch in die ganze Welt zerstreuen, und es war gut, wenigstens einen Teil bei uns zu behalten.

Bei seinen Eltern, dachte ich und hatte nur für einen winzigen Augenblick ein schlechtes Gewissen, dass wir ihnen ihren Sohn nahmen.

Gründlich knoteten wir unsere Tüten zu, versenkten die leere Urne wieder in der Tiefe und schoben die Erde darüber. So gewissenhaft wie möglich setzten wir die Pflanzen wieder an ihren Platz.

»Das passt«, sagte schließlich Selina, nachdem sie das Grab von allen Seiten betrachtet hatte.

»Dann lasst uns aufbrechen«, sagte Maik.

»Und wohin?«, fragte Selina.

»Ans Meer.«

»An welches?«

»Ich dachte ans Mittelmeer«, sagte Maik. »Das dürfte am nächsten sein.«

»Aber die Nordsee ist in Deutschland«, sagte Lena.

»Die Ostsee auch.« Selina schüttelte den Kopf. »Und so national hat er auch nicht gedacht.«

»Das hab ich nicht gemeint.«

»In der Bretagne gibt es eine Kleinstadt am Meer, die hat er geliebt«, sagte ich. »Morlaix. Mit seinen Eltern hat er dort zweimal Urlaub gemacht, und danach wollte er im Fasching Korsar sein, Freibeuter, der Herr der Meere. So nannte sich irgendein Jean, der von einer vorgelagerten Burg auf weltweite Kaperfahrt aufbrach.«

»Gut«, sagten Lena und Selina zugleich und sahen sich dann grimmig an.

»Der Atlantik ist riesig. Viel besser als das Mittelmeer«, gestand Maik.

»Dann brechen wir jetzt auf?«

»Gleich. Ich muss erst noch mal heim«, sagte Maik. »Mein Abschiedsbrief liegt offen auf dem Schreibtisch. Den sollten meine Eltern besser nicht finden.«