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Von Selina wusste ich, dass sie Klavier spielte, von französischen Filmen schwärmte und amerikanische Serien schaute, dass sie fotografierte und dabei ein Faible für das Motiv Müll mit Blume oder Blume mit Müll hatte, weshalb sich Christoph immer wehrte, wenn er mit ihr zusammen auf ein Bild sollte: »Ja, ja, Blume und Müll, schon klar, wer ich bin.«
Sie hatte gelacht, und Christoph hatte mitgemacht. Wäre sie nicht mit Christoph zusammen gewesen, hätte ich mich in sie verlieben können.
In der fünften und sechsten Klasse war Selina hübsch und ziemlich klein gewesen, hochnäsig und vorlaut. Mir ging sie auf die Nerven, sie erinnerte mich an ein blondes Prinzesschen. Und wenn ich verstohlen Mädchen anstarrte, dann die, denen die Brüste deutlicher wuchsen.
In der Siebten trennten sich unsere Wege, sie wählte den neusprachlichen Zweig, ich – wie Christoph – den mathematisch-naturwissenschaftlichen. Auch wenn unsere Schule riesig war, das Gymnasium und die Realschule in einem Gebäude, die Hauptschule gleich nebenan, insgesamt über zweitausend Schüler aus dem Umkreis von zwanzig Kilometern, sah ich sie in den folgenden Jahren doch manchmal auf dem gemeinsamen Pausenhof. Sie schoss plötzlich in die Höhe, auch ihre Brüste wuchsen, und aus ihrem hübschen Gesicht wurde ein schönes. Manche sagten, ihre Nase sei zu groß, aber das waren blinde Dummschwätzer.
Wer über ihre Nase mosert, ist bei ihr abgeblitzt, dachte ich. Ich moserte nicht, verliebte mich aber immer in andere Mädchen.
Auf einem GrubeNRock-Festival in der alten Kiesgrube, auf dem Bands aus der weiteren Umgebung spielten und Jugendliche aus der näheren Umgebung Spaß hatten, sah ich, wie sie tanzte. Sie tanzte allein, nicht wie so viele Mädchen mit einer oder mehr Freundinnen im Pulk. Sie tanzte ungeschützt und ausgelassen und wild, ihr langes Haar flog im letzten Licht der Dämmerung und schien zu brennen, ihre Augen waren geschlossen. Sie sah sich nicht danach um, wer ihr zusah, sondern bewegte sich zu gecoverten Melodien, die unglücklich verzerrt aus den Boxen schepperten. Sie hörte die Musik, nicht die Fehler, nicht das Feedback, nicht den Lärm. Vielleicht musste sie die Augen auch nicht öffnen, um zu wissen, dass ihr alle zusahen. Und als alle der Band applaudierten und johlten und pfiffen, da jubelte ich mit und meinte Selina.
Es wurde dunkel, sie hörte auf zu tanzen, und ich verlor sie aus den Augen. Ich alberte mit Knolle und Ralph herum, wir versuchten, Kieselsteinchen in die Getränke der Leute zu werfen, die an uns vorbeiliefen. Ich war überdreht und hoffte, irgendwann würde auch Selina vorbeikommen, auch wenn ich dann natürlich nicht geworfen hätte.
Oder gerade dann.
Sie tanzte nicht wieder, inzwischen hüpften Dutzende vor der Bühne auf und ab, aber das ließ mich kalt. Auch die Band, die nun spielte.
»Ich geh mal Christoph suchen«, sagte ich und erhob mich, um Selina zu finden. Das Bier, die milde Nacht und ihr Anblick hatten mich mutig gemacht. Wenn sie vor allen ohne den Schutz ihrer Freundinnen tanzen konnte, konnte ich sie auch allein ansprechen. Was konnte schon schiefgehen?
»Christoph gräbt irgendein Mädel an«, rief mir Ralph hinterher. »Stör da mal nicht.«
»Dann schau ich, ob sie ’ne Freundin hat«, rief ich zurück.
Knolle grölte: »Ah, Reste abgreifen.«
Ralph lachte.
»Arsch!« Ich lachte auch.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis ich Selina fand, und sie war allein. Glück musste man haben. Sie saß abseits der Feiernden auf der schrägen Grubenwand und starrte zur Band hinüber. Die Arme hatte sie um die angezogenen Beine geschlungen, als würde sie in ihrem Top frieren.
Warum habe ich keine Jacke dabei?, dachte ich. Mein verschwitztes T-Shirt konnte ich ihr schlecht anbieten. Langsam stieg ich die paar Schritte zu ihr hinauf, der grobe Kies unter meinen Sohlen rutschte knirschend weg.
»Hey, Selina«, rief ich über die Musik hinweg.
»Hi, Jan.« Sie kniff ein Auge zusammen und lächelte. Sie schien glücklich und wusste, wer ich war.
Ich lächelte auch und war auch glücklich. So glücklich und optimistisch, dass ich gleich in die Offensive ging. Ich ging vor ihr auf die Knie und beugte mich vor, das Gesicht ganz nah an ihres, vorgeblich, um nicht brüllen zu müssen. »Du solltest Tänzerin werden.«
»Ach ja?« Ihr Lächeln wurde schelmisch. »Und da bist du ganz allein draufgekommen?«
»Äh, allein? Klar.« Ich zwinkerte irritiert. Mit allem Möglichen hatte ich gerechnet, aber nicht damit. »Ich hab dich tanzen sehen.«
»Wirklich?«
»Ja.« War es seltsam, das zuzugeben? Freakig? Ich hatte bewusst nicht beobachtet gesagt, weil das nach sabberndem Gammelfleisch klang.
»Das ist kein Scherz von Christoph, den er dir eingeflüstert hat?«, fragte sie.
»Christoph? Wieso Christoph?«
»Du bist doch sein Freund, oder?«
»Ja, aber ich kann allein entscheiden, wer wunderschön tanzt!« Ohne die Verärgerung hätte ich das wunderschön nicht so leicht über die Lippen gebracht. Natürlich war ich Christophs bester Freund, aber ich war nicht sein Echo oder sein Zwilling.
»Dann hat Christoph dir nichts gesagt?« Selina wirkte fast beklommen.
»Ich hab eigene Augen. Und ein eigenes Hirn.« Fast hätte ich noch ein eigenes Herz hinzugefügt, aber so betrunken war ich noch nicht.
»Das meine ich nicht. Ich meine …« Sie biss sich auf die Lippe und brach ab.
»Was?« Ich lächelte wieder, lächeln war immer gut. »Komm, sag schon.«
Und dann war Christoph plötzlich bei uns. Über die Musik hatte ich ihn nicht kommen hören.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte ich und dachte: Warum kannst du Idiot nicht wegbleiben?
Er hatte zwei Becher Bier dabei, drückte einen Selina in die Hand und ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen. Dann stießen die beiden an.
»Was geht?«, fragte er mich. »Wo sind die anderen?«
»Unten.« Vage deutete ich in das weite Rund der Kiesgrube und war froh, überhaupt ein Wort herauszubringen.
»Wir kommen nachher auch mal bei euch vorbei.«
»Klar.« Ich sah Selina an und bildete mir ein, sie sah traurig zurück, auch wenn ich nicht wusste, weshalb sie es sein sollte. Mit einem Nicken zu Christoph erhob ich mich, jetzt wusste ich, was er mir nicht gesagt hatte.
»Bis dann.« Ich fragte nicht, seit wann sie zusammen waren, gestern, vorgestern, letzte Woche. Vielleicht waren sie auch gar nicht richtig zusammen, sondern nur so, und alles wäre morgen schon wieder vorbei. Wäre es wichtig, hätte er doch was gesagt?
Meine Laune war dahin, ich warf keine Kiesel mehr nach fremden Getränken und war froh, dass ich mich nicht wirklich in sie verliebt hatte, nicht in die Freundin meines besten Freundes. Das tat man nicht, auch wenn der Depp die Klappe gehalten hatte. Als ich sie beim Tanzen beobachtet hatte, hatte ich es ja nicht gewusst. Sonst hätte ich weggesehen.
Es war nichts passiert, und wahrscheinlich wäre auch nichts passiert, aber irgendwie stand dieses winzige Gespräch immer zwischen uns. Ich hätte mich in Selina verlieben können, Hals über Kopf und rettungslos, aber ich konnte mit ihr nicht normal befreundet sein. Sie schaffte es immer, mich zu reizen, und nur wenn es darauf ankam, hielten wir zusammen. Christoph war unser Mörtel.
Einmal verkuppelte sie mich mit einer Freundin, damit wir als zwei Pärchen gemeinsam Dinge unternehmen konnten, aber das hielt nicht einmal zwei Wochen. Wir knutschten und fummelten ein bisschen herum, zu sagen hatten wir uns nicht viel, und weiter gehen wollte sie nicht. Wir waren zu viert Eis essen und einmal im Kino, und dann trennten wir uns, ohne uns richtig zu zoffen, ohne dass es wirklich wehtat. Selina war sauer und gab mir die Schuld.