20

Hungrig fuhren wir durch mehrere Dörfer, ohne uns ein Frühstück zu stehlen. In den kleinen Läden war man nie von den Blicken der Inhaber geschützt, wenn Brot, Wurst und Käse nicht sowieso gleich hinter der Theke lagerten. Einen Supermarkt sahen wir nicht.

Auf einem Campingplatz füllten wir an einem Wasserhahn die zwei unbeschädigten Weinkanister, die Robert und seine Freunde auf der Lichtung zurückgelassen hatten. Im Waschraum säuberten wir unser Gesichter und Hände, richtig duschen wollten wir ohne Handtuch nicht, und wir sahen kein herrenloses. Die Mädchen wuschen sich die verschmierte Schminke vom Vortag ab, die Ringe unter Selinas Augen verschwanden. Die in Maiks Gesicht blieben.

»Ich brauch was zu essen«, sagte Selina und ging in Richtung Minimarkt.

»Wir brauchen das Geld für Benzin.« Lena hielt sie an der Schulter zurück.

»Hättest du es dir eben nicht klauen lassen.«

»Hättest du selbst welches mitgenommen!«

Selina sah aus, als wollte sie Lena anfallen.

»Yeah, Catfight!«, rief Maik.

Ein paar Camper sahen her, Kinder lachten, und ein dicker Mittfünfziger in Badehose grinste.

»Selina«, sagte ich leise. »Essen ist leichter zu klauen als Benzin.«

»Klar, dass du auf ihrer Seite bist.«

»Was?«

»Ach ja?«, giftete Lena.

»Ich sag nur, was Sache ist.«

»Dann schwätz nicht. Geh rein und klau was.«

»Pst«, zischte ich. »Brüll das nicht rum. Muss ja nicht jeder hören.«

Ihre Lippen waren ein Strich, die Augen blitzten, und die Brauen waren hochgezogen. Aber nicht so, dass man sich verlieben konnte.

»Ihr müsst den Verkäufer ablenken.«

Und das taten sie. Sie gingen mit rein, und die beiden Mädchen laberten auf den jungen Mann hinter der Kasse ein, gaben sich mit gebrochenem Französisch hilflos und fragten alles Mögliche. Ich achtete nicht darauf, sondern sah mich im Laden um. In den oberen Ecken waren gebogene Spiegel angebracht. Ich sah in den einen und war sicher, dass der Verkäufer zu mir schielte, während er mit Lena sprach. Sie spielte wie in Gedanken an ihrem Ausschnitt herum, und ich starrte weiter in den Spiegel, während der Verkäufer nervös wegsah, ebenfalls in den Spiegel.

»Der hat uns im Blick«, murmelte ich zu Maik.

»Über der Tür ist ’ne Kamera«, gab er zurück und rieb sich müde die Augen.

»Und jetzt?«

»Ich stell mich ins Bild, und du stopfst dir unauffällig was in die Hosentasche.«

Und so machten wir es. Meine Taschen waren klein und ich nervös, ich klaute normalerweise nicht. Hastig packte ich nur zwei Schokoriegel. Dann tauschten wir Positionen, und Maik langte zu.

»Cigarettes?«, fragte er dann laut.

»Ici.« Der Mann deutete auf ein Regal neben der Kasse, tiefstes Misstrauen im Gesicht.

»Rothändle?«, fragte Maik.

»Odh …?«

»Rothändle. German. Deutsch.«

»Non.«

»Ah.« Enttäuscht warf Maik die Hände hoch. »Merci.«

Wir gingen zur Tür, die Mädchen folgten uns. Draußen drehte ich mich um und sah, dass der Verkäufer zum Regal hinüberlief, an dem Maik und ich herumgelungert hatten.

»Er weiß es«, zischte ich.

»Nicht rennen.« Maik hielt Selina an der Schulter fest, die losstürmen wollte. »Das ist ein Eingeständnis.«

»Aber wenn er sieht, dass was fehlt?«

»Sieht er nicht«, sagte Lena ruhig. »Das ist nicht abgezählt.«

Er folgte uns nicht hinaus.

Wir fuhren zweihundert Meter weiter und hielten, um zu essen. Wir hatten für jeden einen weichen, zerdrückten Schokoriegel.

»Das ist ein Witz, oder?« Selina deutete auf meine Hände. »Mehr habt ihr uns nicht geholt?«

»Im nächsten Kaff suchen wir einen unübersichtlichen Supermarkt, da kriegen wir mehr. Da gehen wir mit Jacken rein, unterm T-Shirt kann ich nichts verstecken.«

»Ihr könnt euch meinen teilen«, bot Maik an. »Ich hab noch keinen Hunger.« Aber auch eineindrittel Schokoriegel machten nicht satt.

Im nächsten Dorf fand sich kein Supermarkt. Mein Magen knurrte, der kleine Happen hatte den Hunger erst richtig angestachelt. Wir brausten an einem kleinen Mädchen vorbei, die ein Eis auf die Straße fallen ließ. Das Knurren wurde lauter. Vor uns redete Selina mit offenem Visier auf Maik ein, Lena und ich schwiegen.

Vor dem letzten Hof des Dorfs irrte ein Huhn am Straßenrand hin und her, hüpfte mal auf die Fahrbahn und wieder zurück. Maik bremste und kam schlingernd zum Stehen. Er sprang vom Sitz und rannte auf das Tier zu, während Selina die Füße auf den Boden presste und vorgebeugt den Lenker hielt.

Gackernd rannte das Huhn schräg über die Straße und wieder zurück, Maik hinterher. Lena bremste und wäre vor Lachen fast umgekippt, ich setzte die Füße auf den Asphalt. Das Tier floh in das nächste Feld, Maik hechtete hinterher und klatschte hinter ihm auf die Erde.

»Fuck, ich bin einfach zu müde!« Kopfschüttelnd blieb er liegen. »Mach mal ein anderer weiter.«

Ich rannte hinüber und übernahm die Jagd, hetzte das Huhn weiter ins Feld hinein und hechtete dann wie Maik, nur ein Stück weiter. Ich bekam es zu fassen, presste es mit der Rechten zu Boden. Es schlug mit den Flügeln, und ich packte mit beiden Händen zu, presste die Flügel fest gegen den Körper. Das Huhn hackte nach mir. Ich ließ nicht los, stand wieder auf und ging zurück.

»Und was machen wir jetzt damit?«, rief ich.

»Mittagessen.« Maik grinste unter dem Helm hervor und wandte sich an Selina. »Gib mir die Pistole.«

»Du willst es erschießen?«

»Schwachsinn! Ich will ihm mit dem Griff den Kopf einschlagen. Ich weiß nicht, wie ich ihm den Hals umdrehen soll.«

»Nein!«, rief Selina.

»Du nervst doch die ganze Zeit wegen Essen.«

»Aber nicht so!«

»Lasst es leben«, bat auch Lena.

»Bist du Vegetarier?«

»Nein. Aber auch kein Metzger. Und weißt du, wie man es rupft und ausnimmt und in der hohlen Hand grillt?«

Maik starrte auf das Tier, das aufgehört hatte zu zappeln. »Scheiße, nein. Jan, du?«

»Ich hab keine Ahnung«, sagte ich und drückte ihm das Huhn in die Hand.

Maik packte zu, das Huhn begann wild zu gackern.

Ein Bauer tauchte in der Einfahrt des letzten Hofs auf, einen schweren, fleckigen Hammer in der Hand, und bellte uns an. Er hatte dichte schwarze Brauen und eine Nase, die wohl schon mehrmals gebrochen gewesen war.

Maik ließ das Huhn fallen und hob die Hände. Er lächelte harmlos, aber ich sah, wie er sich anspannte, bereit, den Bauer anzuspringen.

Der Bauer hob den Hammer ein Stück und bellte wieder etwas. Ich verstand kein Wort, der Dialekt war schrecklich. Etwas Freundliches war es auf keinen Fall.

»Sorry.« Lena drehte sich um und lächelte so süß, wie es mit Helm möglich war. Deeskalation auf Mädchenart.

Der Bauer fluchte wüst auf Engländer. Das Huhn rannte in den Hof. Maik und ich stiegen auf, dabei behielten wir den Bauer im Blick. Der sah uns nach, während wir davondüsten.

Die Sonne stand fast im Zenit, und zum Hunger gesellte sich Durst. Das Wasser schwappte im Kanister auf dem Gepäckträger hin und her, doch während der Fahrt kam ich nicht heran. Eine Fliege klatschte mir in den Mund. Ich spuckte sie aus, mein spärlicher Speichel war fast geleeartig und schmeckte schlecht.

Fabienne hatte noch immer nicht geantwortet, kein Gezeter, kein Auslachen.

Zwei, drei Biegungen hinter dem Kaff erstreckte sich eine langgezogene Apfelplantage über einen Hügel. Baum reihte sich an Baum, alle knorrig und mit schwer behangenen Ästen. Maik streckte die geballte Faust in die Höhe und bog in den Feldweg neben der Plantage ab. Jubelnd folgte ihm Lena. Ich lehnte mich nach rechts und versuchte, sie dabei so wenig wie möglich zu berühren. Wenn sie es so wollte, dann konnte sie das haben.

Hatte sie dem schönen Robert ihre Nummer gegeben?

Ich wollte fragen, es aber nicht wissen. Wenn wir hielten, würde ich sagen, dass es bestimmt Robert gewesen war, der uns bestohlen hatte. Doch ich wollte nicht hören, dass er ein Alibi hatte, weil er ihr die ganze Zeit die Zunge in den Mund gesteckt hatte, und wer weiß, wo sonst noch hin. Wenn es nicht wegen Christoph wäre, wäre es mir egal, sollte sie doch rummachen, mit wem sie wollte.

Ich umklammerte die Stangen hinter meinem Rücken so fest, dass es schmerzte. Der Feldweg war ausgetrocknet und mit tiefen Kuhlen übersät, und jede übertrug sich auf den wunden Hintern und die Handflächen.

Inzwischen traute ich Lena zu, dass sie sich heimlich mit Christoph getroffen und ihn mit ihrem Lächeln und der spöttischen Augenbraue bezirzt hatte, nichts zu sagen, zu niemanden. Nicht zu Selina, nicht zu mir. Aber mich kriegst du nicht!

Ein gutes Stück abseits der Straße hielten wir an. Selina löste sich von Maik, und die beiden stiegen vom Motorrad. Maik nahm den Helm ab und sagte: »Dann bedient euch mal.«

»Und du?«

»Kein Hunger.«

Ich stieg vom Roller und rieb mir die roten Hände, nicht jedoch den Hintern. Mein Magen knurrte. Die Bäume waren über und über behängt mit grünen Äpfeln, und ich hoffte, dass sie nicht zu sauer waren. Noch nie hatte ich so viel Lust auf einen Apfel gehabt.

»Wenigstens noch einen Apfel«, sagte meine Mutter immer, wenn ich kein Gemüse gegessen und stattdessen eine Tafel Schokolade runtergeschlungen hatte oder Burger essen gewesen war. Sie kaufte sie säckeweise, ein Apfel war in ihren Augen das Gegenmittel für jede denkbare Ernährungssünde.

Maik legte die Hände auf den mannshohen Zaun, um hinüberzuklettern, da zischte Selina: »Warte noch, bis der vorbei ist.«

Unten auf der Landstraße tuckerte ein schmutzig roter Traktor aus dem Dorf heran, einen Pflug im Schlepptau. Doch er fuhr nicht vorbei, sondern bog in unseren Feldweg ab.

»Das darf doch nicht wahr sein!« Langsam zog sich Maik vom Zaun zurück.

»Ist das der mit dem Hammer? Verfolgt der uns?«, fragte Lena.

»Nein.«

Der Traktor fuhr auf das angrenzende Feld und begann direkt neben unserem Weg zu pflügen. Dunkelgraue Abgase waberten stinkend aus einem dreckigen Rohr, während sich der alte Motor die Steigung hinaufkämpfte. Auf dem Schutzblech des rechten Hinterrads waren eine rostige Mistgabel und eine große Axt festgeschnallt, eine, die man mit zwei Händen führte. Das Blatt war rot lackiert, die stählerne Schneide blitzte in der Sonne.

Als er bei uns vorbeikam, wandte sich der weißhaarige Bauer hinter dem Steuer uns zu. Er war bullig und saß mit gekrümmtem Rücken auf dem Sitz. Unter dichten Augenbrauen saßen kleine gerötete Augen im verhärmten, unrasierten Gesicht. Er bellte irgendwas, und sein gehässiges Lachen ging in einen Husten über, als habe er zu viele Abgase geschluckt. Über den Motorenlärm hinweg verstand ihn keiner von uns. Aber was ein Bauer über seine Felder und Plantagen sagte, dürfte in jeder Gegend der Welt gleich sein: Lasst die Finger davon!

Maik war sicher, eines der beiden Schimpfworte erkannt zu haben, die er beherrschte, und ich glaubte es auch.

»Echt ’ne freundliche Gegend«, sagte Selina.

»Dafür beklau ich ihn extra«, knurrte Maik, hielt sich jedoch fern vom Zaun. Zu sehr hatte alles nach einer eindringlichen Warnung geklungen. Wir sollten warten, bis er wieder verschwand.

Oben am Hang wendete der Bauer und pflügte langsam weitere Furchen neben die ersten. Bei dem Tempo würde er noch Stunden brauchen. Meine Lust auf einen Apfel wuchs unerträglich, ich schmatzte vor mich hin.

Wieder bellte der Bauer etwas auf unserer Höhe. Dabei nickte er Richtung Plantage und wedelte mit einer Hand. Es war eine große Pranke mit klobigen Fingern, die bestimmt ordentlich zulangen konnte. Obwohl er diesmal noch eine Traktorbreite weiter entfernt gewesen war, war sich Maik sicher, nun beide vertrauten Schimpfwörter verstanden zu haben.

»Das lass ich mir nicht bieten.« Maik wandte sich wieder dem Zaun zu. »Wenn ich sag, ihr kriegt Äpfel, dann kriegt ihr Äpfel!«

»Warte!«, beschwor ihn Selina. »Der sieht aus, als wirft der mit seiner Mistgabel nach dir, wenn du da jetzt rübersteigst.«

»Ich hab ’ne Pistole«, brummte Maik und sah zu seinen Satteltaschen.

»Bist du verrückt?«, fuhr Selina ihn an. »Du lässt die Finger davon!«

»Nur Spaß.« Er knackte mit den Fingern. »Aber zur Not schlag ich ihm in die Fresse.«

»Maik!«

»Der hat hunderttausend Äpfel, verdammt, der soll wegen einem Dutzend keinen Aufstand machen.« Er spuckte in Richtung Bauer und tänzelte auf der Stelle wie ein Boxer, lief jedoch nicht hinüber.

»Vier gegen einen«, sagte ich.

»Willst du ihn auch angreifen?«

»Nein. Ich sage nur, er wird uns nicht angreifen, wenn wir uns Äpfel holen. Das traut er sich nicht.« Aber ich machte keinen Schritt in Richtung Plantage. Was wieder einmal bewies, dass Mut nicht nach mathematischen Regeln funktionierte.

Als der Bauer zum dritten Mal auf uns zuzuckelte, knurrte mein Magen so laut, dass ich wusste, ich würde es nicht ertragen, noch lange neben der Plantage zu stehen, ohne etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Entweder holten wir uns jetzt die Äpfel, oder wir suchten eine andere Plantage oder einen Weinberg. In Frankreich musste es doch Hunderte geben.

»Der hat Angst vor uns«, behauptete ich. Ich hatte keinen Bock mehr zu warten.

»Du sagst es, Kumpel.« Maik legte mir die Hand auf die Schulter.

Der Bauer hielt auf unserer Höhe an, als habe er uns gehört. Der Motor tuckerte im Leerlauf weiter wie eine unterschwellige Drohung. Mit einem grimmigen Nicken winkte er uns herbei.

»Pourquoi?«, fragte ich, ohne mich zu rühren.

Maik reckte die Finger wie ein Westernheld im Duell, bevor er die Waffe zieht.

»Tu’s nicht«, zischte Selina.

Der Bauer deutete hinter uns und rief etwas. Sein Dialekt war so ausgeprägt, dass wir nichts verstanden. Vier gegen einen, dachte ich noch einmal und setzte mich zögernd in Bewegung. Die anderen folgten mir. Mistgabel und Axt waren noch immer neben ihm festgezurrt, er konnte sie nicht einfach an sich reißen. Er war alt, wir würden schneller sein.

»Allemands?«, fragte er rau.

Wir nickten, und ich fragte mich, ob er einer von den Alten war, die den Deutschen angeblich die letzten drei Kriege noch nicht verziehen hatten. Die immer noch an einen Erbhass glaubten, als gebe es ein dominantes Hassgen. Als hätten wir fünfzig Jahre vor unserer Geburt gekämpft, als wären wir für die Taten unserer Ururgroßeltern verantwortlich, auch wenn die 1870 noch in Siebenbürgen oder sonst wo gelebt hatten.

»Ah.« Er lächelte und bemühte sich um eine deutlichere Aussprache. Tatsächlich quoll nun eine ganze Ladung Schimpfwörter aus seinem Mund, und diesmal verstanden wir sie, zumindest die Hälfte, die wir kannten. Ich verstand etwas von Krieg und Grenze und Verrat und wieder irgendwelche Schimpfwörter. Der Typ war stinksauer, und dennoch lächelte er.

Plötzlich lächelte auch Selina. »Merci, merci.«

Ich fragte mich, ob sie jetzt durchtickte oder ob das ihr Versuch war, mit einem Bekloppten zu reden. Dann grinste Lena: »Oui, merci.«

Langsam fügten sich die Worte des Bauern auch in meinem Kopf zusammen, und ich schnallte alles als Letzter, wenn man von Maik absah, der gar nichts verstand. Die Wut des Bauern bezog sich auf seinen dreckigen Schweinenachbarn, den Sohn einer Uhr, wie er auf Deutsch radebrechte. Er ermutigte uns, ihm haufenweise Äpfel zu klauen. Was wir nicht mitnahmen, sollten wir ruhig von den Bäumen schütteln und gern auch zertrampeln oder draufpissen, der hätte das nicht anders verdient.

Jetzt lachte ich auch und bedankte mich, und Maik tat es mir mit einem Schulterzucken gleich.

»De rien, de rien!«, wiegelte der Bauer ab und legte wieder einen Gang ein.

»Gehört ihm der letzte Hof im Dorf?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und pflügte weiter.

Maik und ich sprangen über den Zaun und blickten kurz zum Bauern zurück, aber er schien das wirklich so gemeint zu haben. Die Mädchen blieben zur Sicherheit bei den Karren. Der Bauer nickte auf seinem alten Traktor und lachte und reckte den Daumen in die Höhe.

»Was für ein Spinner«, sagte Maik, dem ich alles kurz zusammenfasste. »Geiler Typ.«

Ich stieg auf den ersten Baum, Maik blieb unten, um die Äpfel in Empfang zu nehmen. Aus seiner Jacke knotete er eine behelfsmäßige Tasche. Ich klammerte mich an einen schrägen Ast und begann mit dem Pflücken. Da mich die Mädchen anstarrten, rief ich: »Hunger?«

»Ja!«

»Dann fangt!«

Den ersten Apfel warf ich für Selina, sie hatte die ganze Zeit am lautesten nach Frühstück verlangt. Außerdem zickte Lena heute nur rum, die sollte sich nur nichts einbilden.

Rasch beugte ich mich vor und warf. In der Hast verfehlte ich Selina, und der Apfel flog zufällig genau in Lenas Hände. Hätte ich genau gezielt, hätte ich nicht besser treffen können.

»Danke.«

Selina presste die Lippen zusammen und hielt den Kopf schief.

»Bitte.« Hastig riss ich einen viel größeren Apfel für Selina vom Ast, und diesmal erreichte er sie zum Glück auch.

Ohne die Schale abzurubbeln, bissen beide hinein.

Das nächste Dutzend Äpfel ließ ich zu Maik hinunterfallen, der alle in der Jacke sammelte. Dann stieg er auf einen Baum, weil er auch sammeln wollte. Wie bekloppt rüttelte er am erstbesten Ast, und die Äpfel polterten um mich herum zu Boden, einer knallte mir auf die Schulter.

»Hey!« Ich sprang zur Seite.

Der Bauer hinter uns hupte vor Vergnügen.

Maik lachte und pflückte dann die Früchte von einem anderen Ast, um sie mir zuzuwerfen. Wir nahmen so viele, bis die Satteltaschen und der Rucksack randvoll waren, und stopften noch ein paar in die festgeschnallten Decken und Schlafsäcke.

Dann biss ich in einen Apfel, und es war der beste, den ich je gegessen hatte. Leicht säuerlich und fest, und doch saftig und intensiv. Gierig leckte ich mir jeden Tropfen von den Lippen und verschlang ihn mit wenigen Bissen, fast hätte ich sogar das Kerngehäuse mitgegessen. Ich schleuderte es in die Plantage.

Ich aß einen zweiten Apfel, Lena und Selina auch, Maik keinen.

Noch bevor wir die Helme wieder aufgesetzt hatten, klingelte Lenas Handy. Es klang wie Kirchturmglocken, und erst als die sägende Gitarre einsetzte, erkannte ich AC/DCs Hells Bells.

»Mama?«, fragte sie. Auf ihrer Nasenwurzel zeigten sich Falten, die Mundwinkel zogen sich nach unten. Während ihre Mutter sprach, strich sie sich den Rock glatt.

»Das interessiert dich doch sonst auch nicht!«, sagte sie bockig.

(…)

»Nein.« Nun sprach sie leiser.

(…)

»Nein.« Noch leiser.

(…)

»Du sagst doch immer, dass man nicht lügen soll. Aber es gibt kein Gebot, das das Schweigen verbietet.«

(…)

»Ich ehre, wen ich ehren will.«

(…)

»Verdreh mir nicht immer die Worte im Mund. Ich hab nie gesagt, dass ich dich nicht ehre. Und schon gar nicht viel weniger als Vater.« Ihr Kinn zitterte, und ich konnte nicht mehr hinsehen. Auf der Straße unten raste ein PKW entlang.

»Nein, keine Drogen«, versicherte Lena ihrer Mutter, eher gelangweilt als genervt, als wäre es Routine. Was hatten Eltern immer mit ihren Drogen? War das das Schlimmste, was sie sich für ihre Kinder vorstellen konnten?

»Ich bin auch nicht schwanger«, sagte Lena leise.

Es gibt also noch etwas anderes, zumindest bei Mädchen. Ich musste an den schleimigen Robert denken, wie er sie angegraben hatte, und meine Brust krampfte sich zusammen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie sie sich küssten und fummelten, aber ich konnte nicht anders. Es war zum Kotzen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, einen Kuss der beiden gesehen zu haben. Am Feuer hatte sie sich lediglich an ihn gekuschelt. Nähe und Wärme, nichts weiter. Ich wusste nicht, ob ich mich damit besser fühlen sollte.

Bei Selina hätte es mir auch nicht gepasst, dachte ich, aber das half mir auch nicht weiter.

»Ich kann nicht«, sagte Lena.

(…)

»Nein, ich kann nicht heimkommen. Ich bin zu weit weg.«

(…)

»Ich bereite dir nicht ständig Sorgen!«, schrie Lena plötzlich, und wir zuckten alle zusammen. »Das machst du ganz allein!«

(…)

»Ich lass mich nicht erpressen!« Sie drückte das Gespräch weg.

Wir anderen starrten betreten zu Boden.

»Wenn sie erfährt, was wir hier tun, steckt sie mich in so ein Bootcamp und hofft, dass ich ordentlich zurechtgestutzt werde.« Mit zitternden Händen packte Lena das Handy weg.

»Was?«, rutschte es mir raus.

»Was weiß ich.« Sie schüttelte den Kopf und schnaubte. »Wahrscheinlich steckt sie mich eher in die Psychiatrie. Und zeigt mich an wegen Grabschändung.«

»Deine eigene Mutter zeigt dich an?«

Wieder schlugen die Höllenglocken auf ihrem Handy, und ohne einen Blick auf das Display drückte Lena den Anruf weg. »Sie glaubt an Buße und Strafe. Sie sagt immer, sie und Gott könnten mir leicht verzeihen, als Mutter und Gott liebt man und ist großmütig. Aber ich muss mir auch selbst verzeihen können, und das geht am leichtesten mit einer Buße, das würde das Ganze irgendwie ausgleichen. Recht ist Recht, sagt sie immer, und wenn Unrecht keine Konsequenzen nach sich zieht, würde man es nicht als Unrecht erkennen und falsch wachsen. Wie ein junger Baum, der nicht an einer geraden Stange angebunden wurde. Selbstvorwürfe halten ewig, sagt sie, eine Bestrafung ist zeitlich begrenzt und damit gnädig, ich bin nur noch zu jung, um das zu begreifen.«

»Du verarschst uns doch jetzt?«, fragte ich.

»Nein.«

»Das Baumbeispiel bringt die wirklich?«

Sie nickte. »Wortwörtlich. Einmal habe ich sie angebrüllt, dass kein Baum schnurgerade nach oben wächst, warum soll er sich also an einer Stange orientieren? Sie sagte, das ist ein Ideal, und Ideale geben einem Halt. Stangen steckten fest im Boden und deuteten schnurgerade in den Himmel, was kann es für eine bessere Orientierungshilfe geben?«

»Sorry, aber deine Mutter spinnt«, sagte ich. »Stangen sind doch nur totes Holz.«

»Das ist gut. Das merke ich mir fürs nächste Mal.« Sie schenkte mir ein zögerliches Lächeln. »Wollen wir weiter?«

»Cooler Klingelton übrigens«, sagte Maik.

»Nur für meine Mutter.« Lena setzte den Helm auf.

Wir stiegen wieder auf. Als ich mich hinter sie setzte, legte ich meine Hände wieder auf den Gepäckträger. Das war besser, ich musste möglichst viel Abstand zu ihr halten.