26

Wir suchten uns eine Tankstelle am Rande irgendeiner Kleinstadt. Noch immer vermieden wir alle größeren Städte, so als müssten wir uns verborgen halten, als wären wir auf der Flucht oder Undercover. Wir hatten unsere Eltern belogen und Freunde im Ungewissen gelassen, wo wir steckten. Nur Selina hatte eben ihre Mutter angeschrien: »Das tue ich für Christoph!«

Sie hatte nicht gesagt, was genau sie tat, und doch nagte es an mir. Im Geheimen gegen alle zu handeln, hatte anfangs etwas gehabt: wir gegen die Welt. Gleichzeitig wirkte es, als würden wir die Freundschaft zu Christoph im Verborgenen abhandeln. Erzählen, dass wir seine Asche ausgegraben hatten, konnten wir natürlich nicht, trotzdem nagte es.

Oder konnten wir?

»Weiß jemand, wie hoch die Strafe auf Leichenraub ist?«, fragte ich, als wir auf dem kleinen Parkplatz neben der Tankstelle hielten. »Und gilt Asche eigentlich auch als Leiche?«

»Warum sollte sie das nicht?«

»Ich weiß es nicht. Wegen dem Gesundheitsamt vielleicht. Asche ist weniger gefährlich, da gibt es kein Leichengift und so.«

Auch wenn das allen einleuchtete, konnte niemand die Fragen beantworten. Es gab zu viele Regeln und Gesetze, um alle zu kennen. Wer weiß denn schon auswendig, wie lange ein Hund am Stück bellen darf? Auf keinen Fall weiß es der Hund. Er überlegt nicht, wie lange er darf, sondern bellt, wann und so lange es nötig ist.

Ebenso hatten wir nicht nachgedacht, sondern gehandelt. Instinktiv. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Die Strafe nachschlagen und als eine Art Ausgabe betrachten? Erstehe letzten Wunsch des besten Freundes für x Monate Haft oder y Tagessätze Geld, Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis inklusive. Bezahle jetzt und handle Preis später mit guter Führung runter?

»Ich klär das jetzt auch«, sagte Maik unvermittelt, als hätte er meine Gedanken gelesen, und schrieb seinen Eltern eine SMS: Bin in FRA, komme in ein paar Tagen wieder. Alles gut, viel Sonne.

Sie antworteten nicht.

»Wahrscheinlich liegt das Handy irgendwo rum, und sie haben’s nicht gehört.«

Ich schrieb meinen Eltern nicht. Ich wollte nicht, dass sie ihren Urlaub abbrachen oder ihre Sorgen an Pia ausließen. Pia hatte glücklich geklungen und gesagt, ich solle nicht ausziehen.

Wir sahen uns um. Der Asphalt war alt, hell und brüchig, die weißen Trennlinien zwischen den Stellplätzen neu, sie leuchteten in der Sonne. Lediglich zwei verlassene Autos standen hier, eines wohl schon seit Jahren, angerostet, staubig und mit einer Delle in der Kühlerhaube. Vielleicht wartete es darauf, dass der Halter genug Geld zusammenkratzen konnte, um es in die Werkstatt neben der Tanke zu schieben. Ein altes, verdrecktes Nummernschild hatte es erstaunlicherweise noch; es begann mit der 666. Wenn das das Fahrzeug des Antichristen sein sollte, würde die Apokalypse nicht so bald kommen, dann steckte sie hier fest. Das Kaff hatte einen Kirchturm und einen Schornstein, beide waren alt und der Schornstein höher.

Junge Birken umsäumten den Parkplatz, durch das Laub konnte man ein Stück außerhalb der Stadt einen Kreisverkehr erkennen. Ein grüner Wegweiser zeigte an, dass es zu irgendeiner Autobahn ging.

Die Tankstelle gehörte zu keinem Konzern, über dem Eingang des kleinen Shops stand in hellblauen Buchstaben Blanc, der Verputz war rissig. Es gab acht Zapfsäulen. Von den Stahlträgern, die das Dach darüber hielten, blätterte an einigen Stellen die Farbe ab. Die automatische gläserne Schiebetür zum Shop schien das Modernste zu sein. Das Benzin war fünf oder sechs Cent billiger als an der letzten Tanke, Diesel sogar sieben.

Keiner von uns hatte je zuvor Benzin gestohlen, man konnte es nicht einfach im Laden in die Tasche oder unter das Shirt stecken. Und mit einem Roller mit 50 km/h Höchstgeschwindigkeit konnte man nicht einfach tanken und durchbrennen. Schon gar nicht mit einem, der überall auffiel.

»Wir könnten ihn umspritzen«, schlug Selina vor. »Ganz schwarz.«

»Das macht ihn auch nicht schneller«, sagte Maik. »Ihr Mädels könntet aber den Tankwart ablenken, das klappt in Filmen immer.«

»Hinter der Kasse steht eine Frau.« Lena hob die Braue. »Wäre also euer Job.«

»Und wenn sie lesbisch ist?«

»Soll ich kurz fragen? Ist bestimmt total unauffällig. So mit Händen und Gesten, weil ich das französische Wort dafür nicht kenne.«

»Macht das doch zusammen, dann wird’s deutlicher«, schlug Maik vor.

»Nehmt das mal ernst«, forderte ich, aber weiter wusste ich auch nicht. Ich wusste nicht einmal, was wir tanken mussten.

»Super«, sagte Lena.

»Super plus«, sagte Maik. »Aber super geht auch.«

Ich blickte in die Tankstelle hinein, die Frau blickte heraus. Sie hatte uns im Blick. Natürlich, wir waren jung und fremd und auf wenig vertrauenerweckenden Maschinen unterwegs.

Maik fand, je älter die Tankstelle, desto besser, weil da wahrscheinlich auch die Überwachung schlechter war. »Ich sehe keine Kameras.«

»Und ich trau ihr eine abgesägte Schrotflinte unter der Ladentheke zu.«

Die Frau glotzte weiter misstrauisch.

»Sollen wir vielleicht besser versuchen, irgendwo was aus einem Tank abzusaugen?«, fragte ich.

»Wenn du das Schloss am Tankdeckel knacken kannst«, sagte Maik. »Möglichst unauffällig bei Tageslicht. Wir haben nicht genug Sprit, um irgendwo im Wald ein geparktes Auto zu suchen.«

»Mann, stehlen ist scheiße.« Ich trat gegen den Bordstein. »Wenn man’s nicht richtig kann.«

»Wir können meine Pistole nehmen …«

»Spinnst du?«

»Hey! Nur Spaß.« Abwehrend hob Maik die Hände. »Das war nur Spaß.«

Ein Spaß, den er schon zum zweiten Mal gebracht hatte. Und die Apfelbutzen hatte er ganz souverän vom Felsblock gemäht, so als würde er regelmäßig schießen.

Wir aßen demonstrativ ein paar Gummibären und tranken Wasser, um der Tankstellenbesitzerin zu zeigen, dass wir harmlos waren, nur ein paar Reisende, die Pause machten. Maik holte das Luftdruckmessgerät und winkte der Frau hinter der Scheibe zu. Sie nickte missmutig. Er schraubte die Ventilkappen ab und maß, alles eine große Show der Normalität.

Ich dachte an meinen Vater. Es ist Zeit, zur Normalität zurückzukehren. Vielleicht war Normalität immer nur eine Show für andere, die uns beim Leben zusahen.

Ein Sportwagen preschte heran, und ein Mann um die fünfzig mit Sonnenbrille stieg aus. Das fliederfarbene Hemd spannte über dem Bäuchlein, die drei oberen Knöpfe waren geöffnet, das Brusthaar grau. Ohne ein Wort lief Lena zu ihm hinüber und quatschte ihn voll.

»Was macht sie da?«, fragte Selina.

»Keine Ahnung«, murmelte ich. »Der Typ sieht irgendwie widerlich aus.«

Lena lächelte und laberte, irgendwann zeigte sie auf uns und warf die Hände in die Höhe, während der Mann lässig dastand, den Schlauch in seinen Tank hielt und ihr immer wieder auf die Brüste starrte. Auf die Entfernung hatte ich das Gefühl, das Top wäre weiter ausgeschnitten als noch vorhin oder nach vorne gerutscht. Die Strumpfhose hatte sie noch immer nicht wieder angezogen, und den Kopf hielt sie leicht schief. Als der Mann fertig getankt hatte, gab er ihr etwas aus seinem Geldbeutel, bevor er bezahlen ging. Lena lachte, nickte dankbar und sagte etwas. Fast erwartete ich, sie würde einen Knicks machen.

Als sie wieder bei uns war, sagte sie: »Zwei Euro.«

»Wie hast du das gemacht?«

»Ich hab ihm gesagt, dass wir verzweifelt sind, weil wir nicht mehr heimkommen. Dass unsere Karten im Ausland nicht genommen werden und wir kein Bargeld mehr haben, weil wir bestohlen worden sind.«

»Das hat er geglaubt?«

»Zumindest mochte er meine Titten. Darauf kam es wohl eher an.«

Selina schnaubte, Maik grinste, und wir hatten unseren Plan. Einfach schnorren. So simpel, dass wir da schon früher hätten draufkommen können.

Weil Lena den kurzen Rock und den tieferen Ausschnitt hatte, schnorrte sie. Kamen zwei Autos zugleich, half Selina ihr, aber ihr fiel es sichtlich schwerer. Manchmal bekam sie von mütterlichen Frauen Geld, öfter jedoch eine Abfuhr.

Auch Lena war nicht immer erfolgreich, aber sie brachte die meisten Männer zum Lächeln, manche zum Glotzen, und die Frauen dazu, in ihr ein naives, freundliches Mädchen zu sehen, das sich tapfer gegen das Pech wehrte, während die Jungs – Maik und ich – mal wieder keinen Finger rührten.

Ich war fasziniert und fragte mich, ob ich ihr auch nur so auf den Leim ging wie die alten Säcke. Wo hatte sie gelernt, Männer so um den Finger zu wickeln? Ganz anders als auf dem Pausenhof.

Nein, sagte ich mir. Ich ging ihr nicht auf den Leim, ich hatte ihre Trauer um Christoph gesehen, ihre Entschlossenheit beim Schießen und die Schwankungen zwischen Wut und Aufgeben beim Gespräch mit ihrer Mutter, ihre wahren Gesichter, nicht die lächelnde Maske. Wenn ich nicht bald erfuhr, ob sie was mit Christoph gehabt hatte, würde ich noch wahnsinnig werden.

Würdest du sie von der Bettkante stoßen?

Nein.

Warum also hätte Christoph sollen?

Maik nickte lächelnd, während er Lena beim Schnorren beobachtete, und Selina presste die Lippen fest zusammen. Sie ertrug es nicht, dass sie gegen Lenas Charme verlor, auch wenn es nur bei Fremden war. Und dann wurde mir klar, dass es nicht darum ging. Bei jedem, der Lena in den Ausschnitt linste, fragte sie sich, ob Christoph das auch getan hatte. Ob sie da auch verloren hatte.

Auch ich versuchte mein Glück, aber ich kam nicht weit. Die Heteromänner hatten nichts zu glotzen, und die Frauen hatten mit Mädchen mehr Mitleid als mit Jungs. Maik sprach zu wenig Französisch und blieb immer bei den Maschinen.

Nicht jeder gab zwei Euro, die meisten weniger oder gar nichts, aber im Lauf einer Stunde wuchs unsere Barschaft gut an. Wir hatten bald genug, um beide Tanks zu füllen, aber solange es lief, sammelten wir weiter für den Rückweg.

Als das nächste Auto vorfuhr, ging Selina nach einer Toilette suchen, während Lena, die neben dem Shop-Häuschen gewartet hatte, zielstrebig auf den Autofahrer zusteuerte, einen Mittvierziger mit schwarzem T-Shirt zur hellen Leinenhose, grauen Strähnen und randloser Brille. Er lächelte, bevor sie überhaupt den Mund aufmachte.

»Das wird ein neuer Highscore«, sagte Maik. »Der gibt fünf Euro.«

»Du spinnst«, sagte ich und bekam eine SMS. Ich kramte das Handy aus der Tasche, Ralph hatte geschrieben: Christophs Mutter dreht am Rad! Sagt, irgendwer hat Blumen auf dem Grab umgepflanzt.

Ich fluchte.

»Ich hab’s dir gesagt«, sagte Maik.

»Was?«

Er deutete auf Lena, der Typ hielt ihr mehrere Scheine entgegen. Auf die Entfernung war nicht zu sehen, wie viele. Sie zögerte, ihr Lächeln war zweifelnd, und sie schien etwas zu fragen. Der Typ antwortete. Er hatte den Ellbogen lässig auf dem Autodach abgelegt und sah nicht ein einziges Mal zu uns.

Zögernd schüttelte sie den Kopf und zuckte mit den Achseln.

Er grinste und zog noch einen weiteren Schein aus dem Portemonnaie, den Zapfschlauch hatte er noch nicht einmal angefasst. Er nickte in Richtung der Büsche hinter der Tankstelle und bewegte die hohle Faust am Mund vor und zurück.

»Non!« Sie wich einen Schritt zurück.

Er wedelte mit den Scheinen und folgte ihr, hielt sie ihr direkt unter die Nase und drückte dann mit den zusammengelegten Scheinen ihren Ausschnitt noch ein Stück nach unten.

Lena zitterte. Sie war so überrumpelt, dass sie nicht einmal nach uns rief. Es war nicht nötig, wir waren schon längst unterwegs.

»Drecksau!«

Er hörte uns kommen, aber bevor er sich richtig darauf einstellen konnte, waren wir da, stießen ihm abwechselnd gegen die Brust, sodass er gegen sein Auto stolperte. Die Scheine fielen ihm aus der Hand, das Portemonnaie hielt er fest umklammert.

Ich war so sauer, dass mein Französisch vollkommen verschwunden war, Maik beschimpfte ihn weiter auf Deutsch. Auch wenn er kein Wort davon verstand, war klar, was wir ihm an den Kopf warfen.

»Non, non.« Er schüttelte den Kopf und versuchte uns etwas von einem Missverständnis zu erklären, von einem harmlosen Scherz, nein, doch ein Missverständnis, er wollte sie nur ermahnen, regelmäßig die Zähne zu putzen, das sollte die Geste mit der Hand bedeuten. »Schöne Zähne.« Er suchte den Augenkontakt mit ihr, aber wir standen im Weg.

»Schickt ihn weg«, verlangte Lena leise, und wir sagten ihm, er soll sich verpissen, bevor wir ihm die Zähne mit dem Schwamm für die Windschutzscheibe putzen würden. Die meisten Worte fehlten uns dafür, aber er verstand unsere Gesten und preschte davon, gerade als Selina wieder auftauchte.

Auch die Frau von der Tankstelle kam raus und fragte, was das eben war. Sie hatte die Haare nachlässig zusammengebunden, die Lippen waren blass, die Wangen schmal, und die Augen erinnerten an einen Raubvogel.

»Nichts«, sagte Lena leise und zog den Ausschnitt des Tops hoch. Sie zitterte.

Die Frau musterte sie wortlos, die Lippen aufeinandergepresst. Wahrscheinlich dachte sie, wir vertrieben ihr die Kundschaft.

»Es ist wirklich nichts.«

»Ihr schnorrt Geld für Benzin?«, fragte die Frau.

»Wer sagt das?« Ich versuchte anklagend zu klingen, was mir gut gelang; ich war noch immer stinkwütend.

Ein schmales Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, nicht unbedingt freundlich. »Jeder, der in der letzten Stunde bei mir bezahlt hat.«

»Und? Ist das verboten?«

»Nein.« Das Lächeln wurde ein wenig breiter. »Tankt einfach voll. Die Kamera hat einen Wackelkontakt, und ich sage, ihr seid durchgebrannt. Ein großer gelber Geländewagen aus Paris.«

»Warum?«

»Monsieur Blanc ist ein Geizhals.« Sie sah Lena in die Augen. »Und ein Schwein.«

»Danke.«

Mit Maik hob ich die Scheine vom Boden auf, die der Fahrtwind des Autos nicht weit fortgetrieben hatte. Es waren drei Zehner und ein Fünfer. Auch der Typ war ein Geizhals gewesen.

Von den geschnorrten Münzen kauften wir starken französischen Tabak, dünne Papers und ein Feuerzeug. Die blasslippige Angestellte ließ uns noch vier belegte Demi-Baguettes und eine Tüte Chips klauen. Alles andere würden wir unterwegs kaufen.

Mir fiel Ralphs SMS wieder ein, und ich rief ihn an, aber er ging nicht ran. Also schrieb ich, er soll sich sofort melden, aber er tat es nicht.