17

Am späten Nachmittag näherten wir uns der Grenze ein paar Kilometer südlich von Straßburg. In irgendeiner Kleinstadt füllten wir unsere Vorräte auf, und ich besorgte mir billige No-name-Sneaker, die Gummistiefel drückten zu sehr. Lena kaufte noch einen günstigen Schlafsack, damit jeder einen hatte, und zwei Isomatten, damit wir vier Unterlagen besaßen. Wir wollten irgendwo draußen schlafen, nicht auf einem Campingplatz, das passte besser zu unserem Trip. Zahnbürsten, starke Sonnencreme und andere Kleinigkeiten kauften wir auch, doch von Lenas Geld blieb genug, um uns ans Meer und zurück zu bringen. Wobei das Zurück uns im Moment nicht scherte.

Während wir alles verstauten, schlich auf der Straße ein Polizeiwagen vorbei, ganz langsam. Beide Beamte blickten forschend zu uns herüber. Wir gaben uns locker, und ich versuchte ein Lachen, als hätte einer einen Witz gerissen. Als würden böse Menschen nicht nur keine Lieder, sondern auch keine Witze kennen. Sofort hatte ich Bad von Michael Jackson im Kopf, because I’m bad, I’m bad, come on, bad, bad, really, really bad, you know I’m bad … Mein Vater drehte das Autoradio immer lauter, wenn das lief, und jetzt musste ich wirklich lachen, und das war gut. Das Letzte, was wir gebrauchen konnten, war eine Polizeikontrolle, bei der die Asche gefunden wurde.

»In Grenznähe dürfen die einen ohne Grund kontrollieren«, raunte Maik, obwohl sie ihn auf die Entfernung auf keinen Fall hören konnten.

»Warum?«, fragte Selina.

»Drogen.«

»Wir haben keine.«

»Aber Christoph. Wir haben Christoph dabei. Und dass das keine gewöhnliche Holzasche ist, kann jeder Profi leicht erkennen.«

Die Polizisten gaben Gas, wir atmeten durch.

»Wir dürfen einfach nicht auffallen«, sagte ich.

»Schwierig, mit dem da.« Selina deutete auf den Roller.

»Ich bin noch nie kontrolliert worden«, verteidigte Lena ihn.

Selina schnaubte.

»Weiter geht’s.« Maik schwang sich in den Sitz, und wir fuhren los. Mit Blinker und auch in der Zone 30 exakt innerhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung.

Als wir dem Rheinufer bald darauf Richtung Norden folgten, Wald zu unserer Rechten, tauchte ein kleiner, wenig protziger Jachtclub oder Bootsverleih auf. Drei Stege, an denen sich Segel aneinanderreihten, führten hinaus auf den Fluss, und dann bog die Landstraße links ab und führte hinaus auf eine kleine Halbinsel und schnurgerade über einen Staudamm auf eine bewaldete Insel, die schon zu Frankreich gehörte. Hier musste früher jeder kontrolliert worden sein, doch kein Schlagbaum und kein Grenzbeamter hielten uns auf. Es gab nicht einmal eine Ampel oder eine durchgehende weiße Linie auf dem Boden.

Ich blickte rechts hinunter, wo das Wasser träge und dunkelgrün dahinfloss, nur direkt unter uns, da, wo es den Damm hinabstürzte, kräuselte es sich zu weißem Schaum.

Selbst für Maik zu tief, um zu springen. Das konnte niemand überleben. Ich dachte an die Pistole in seinem Mund und daran, dass man nicht immer überleben wollte, wenn man sprang. Maik scherte vor uns tatsächlich nach rechts aus, und für einen Moment glaubte ich, er würde in die Tiefe schanzen, einfach über die Leitplanke hinweg, und Selina mit hinabreißen. Dann schwenkte er nach links und wieder nach rechts und immer weiter in Schlangenlinien, von einer Straßenseite zur anderen.

»Halt dich fest!« rief Lena, und ich presste meine Hände auf ihre Hüften und schmiegte mich an sie. Sie folgte Maiks Schlingerkurs, und ich legte mich mit ihr nach rechts und links, Freude überrollte mich, und ich wollte lachen, wie es Kleinkinder taten, die man hochwarf und auffing. Ich wollte Lena küssen, einfach so, aber ich war zu feige und trug außerdem einen Helm.

Wir schmetterten die Marseillaise, gemeinsam und durcheinander, mit Text oder gegröltem Lalala.

»Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrivé!«

Der Tag des Ruhmes ist gekommen.

Nein, kein Ruhm, dachte ich, aber es war ein gutes Lied, um in den Kampf zu ziehen, und das traf es irgendwie, auch wenn wir nicht wirklich kämpften.

Und dann waren wir drüben.

Die Landschaft hatte sich nicht geändert, aber wir hatten eine unsichtbare Linie überquert.

Wer wollte, konnte sofort wieder hinüber, und doch war es, als hätten wir einen riesigen Schritt getan. Ich fühlte mich seltsam frei.

»Pour qui ces ignobles entraves, ces fers dès longtemps préparés?«

Für wen diese schändlichen Fesseln?

»Lalala …«

Nun würde uns auf dem Weg ans Meer nichts mehr halten. Wir hatten das Daheim endgültig hinter uns gelassen, hier würde uns niemand suchen.

Lenas Parfum war inzwischen ganz verflogen, ich roch nur noch Straße und die Abgase aus Maiks Karre, den Duft von all den am Rand angebauten Pflanzen und auch den Gestank aus irgendeiner Geflügelzucht und von Dung. Ich ließ das Visier offen, ich wollte alles in mich aufsaugen.

Mit den Fingerspitzen spürte ich Lena unter ihrem Top atmen, ihre Muskeln, wenn sie sich in die Kurve legte, selbst wenn sie Gas gab oder bremste. Jede Anspannung spürte ich. Wie zufällig ließ ich meine Hände zu ihren Beinen hinunterwandern, langsam, vielleicht einen winzigen Zentimeter für jeden Kilometer, den wir zurücklegten. Mehr traute ich mich nicht.

»Vive la France!« Lena lachte. Sie sagte nicht, ich solle die Hände wieder hochnehmen. Hätte sie was gesagt, hätte ich mich taub gestellt.

Und wieder einen Zentimeter näher zu ihren Beinen hinab. Ich wusste, dass ich sie nicht dort berühren konnte, wohin es meine Hände drängte, nicht unauffällig, wie aus Versehen, aber ich konnte nicht anders. Ich hatte nur Angst, einen Steifen zu bekommen, den sie durch den dünnen Stoff spüren würde.

Denk an was anderes, befahl ich mir und schaute mir die Dörfer an, durch die wir fuhren, und die Wälder. Ich freute mich über die ungewohnt gelben Nummernschilder und wettete innerlich bei jedem, ob die Zahl des nächsten größer wäre oder kleiner. Ich freute mich über die weißen Ortsschilder und jeden französischen Begriff, den ich lesen konnte und verstand. Meine Hände bewegte ich nicht mehr.

Im Frühjahr, bevor Christoph mit Selina zusammenkam und nachdem Eva mich nach vier Monaten verlassen hatte, setzte sich Christoph im JUZ zu Knolle und mir.

»Mann, die Eva ist dicht.«

»Was juckt mich das?«, fragte ich.

»Die hat oben gerade meine Hand gepackt und auf ihre Brust gedrückt und mir die Zunge in den Mund gesteckt.«

»Geil«, sagte Knolle.

»Was?«, rief ich.

»Was juckt dich das?«, fragte Knolle.

»Halt’s Maul!«

Knolle lachte.

»Und was hast du gemacht?«, fragte ich.

»Sie sitzenlassen, was denn sonst? Sie ist deine Ex, das tut man nicht. Nicht mit der Ex von Freunden.«

Ich fühlte mich erleichtert. Eva war die Erste und bisher Einzige, mit der ich richtig geschlafen hatte, die Einzige, mit der ich länger zusammen gewesen war. Ich wollte sie nicht an Christophs Seite sehen.

»Was ist denn das für eine alberne Regel?«, fragte Knolle.

»Du findest doch alle Regeln albern.«

Knolle lachte und trank. »Du meinst, jede Frau, mit der ich im Bett war, ist für euch tabu? Die Liste wird lang.«

»In deinen Träumen, ja.« Christoph grinste. »One-Night-Stands gelten nicht, nur richtige Freundinnen. Kein Mädchen soll unsere Freundschaft zerstören.«

»Und wenn sich zwei gleichzeitig in eine verknallen?«

»Dann entscheidet die Zeit. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

Lachend hob Knolle seine Flasche. »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!«

Wir stießen an. Und so dämlich die Formulierung in Bezug auf Mädchen war, wir hielten uns daran, auch wenn Knolle im Folgenden sehr oft lachend »Ich war zuerst!« schrie, sobald Christoph oder ich ein hübsches Mädchen auch nur ansprechen wollten. Ralph schloss sich ein Bier später unserem Pakt an, nachdem er Kev mit der betrunkenen Eva im Arm davonwanken gesehen hatte.

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, dachte ich, auch wenn ich nicht wusste, was zwischen Lena und Christoph vorgefallen war. Sie hatte ihn geliebt, liebte ihn augenscheinlich noch immer, aber was war mit ihm gewesen? Solange ich das nicht wusste, war sie tabu.

Denk an was anderes!

Und ich dachte an Maiks Selbstmordversuch und fragte mich, ob ich ein schlechterer Freund war, weil ich nicht verzweifelt genug gewesen war, mich umzubringen.

Unsinn!, widersprach ich mir selbst. Trotzdem nistete sich der Gedanke in meinem Kopf ein. Weit hinten, wo ich ihn nicht herausbekam.

Schuld hat ihn dazu getrieben, nicht Freundschaft. Ich muss mich nicht schuldig fühlen.

Musste ich das wirklich nicht? Ich war auch auf der Party gewesen. Hätte ich Christoph nicht abhalten können zu fahren? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er sich von mir verabschiedet hatte. Hätte ich überhaupt gemerkt, dass er getrunken hatte? Ich hatte selbst einiges intus gehabt. Hätte es etwas geändert? Gerber hatte ihn erwischt, auch nüchtern konnte man keinem rasenden Auto ausweichen.

Warum hatte ich nie daran gedacht, mich umzubringen?

Weil Gerber schuld war, Gerber allein.

Warum hatte ich dann nicht daran gedacht, ihn umzubringen?

Maik war bereit gewesen, bis zum Schluss zu gehen. Ich dagegen hatte alberne kleine Fahrradmodelle zertrümmert und kindische Botschaften geschickt.

Er ist freigesprochen worden!

War das kein Grund, die Rache selbst in die Hand zu nehmen, wenn es schon keine Gerechtigkeit gab?

Nein.

Meine Augen brannten, ich wusste nicht, ob vor Müdigkeit oder wegen des offenen Visiers. Ich klappte es runter und schob es sofort wieder hoch, hinter dem Plexiglas fühlte ich mich eingesperrt. Als ich die Hand wieder auf Lenas Hüfte legte, tat ich es an derselben Stelle wie zuvor. Ich hielt mich an Lena fest und atmete tief ein. Ich vermisste ihr Parfum.

Das erklärt, warum du dich bei Mädchen so ungeschickt anstellst, hatte Knolle gesagt, und er hatte recht, ich zögerte zu oft. Warum konnten sie mich so leicht zum Stammeln bringen, dazu, mich zum Affen zu machen?

Warum konnte ich nicht einfach lässig von Brücken springen wie Maik?

Und wozu? Es hatte ihm nichts gebracht. Trotzdem würde ich mich besser fühlen – wer keine Angst vorm Springen hat, dürfte auch sonst keine haben.

Mach dich nicht trotteliger, als du bist, dachte ich. Und lass die Finger von Lena. Sie war wegen Christoph hier, diesen Trip machten wir für ihn.

Also zählte ich die Leitplanken bis zur nächsten Ortschaft auf beiden Straßenseiten, um ja nicht an sie zu denken, während meine Hände auf ihren Hüften lagen. Links waren es unsinnigerweise drei Leitplanken mehr als rechts.

Eine knappe Stunde hinter der Grenze hielten wir in einem Städtchen mit schmalen verwinkelten Straßen im Zentrum. Es war der erste richtige Halt in Frankreich, und wir hofften, den Drogenkontrollbereich verlassen zu haben. Trotzdem sahen wir uns nach Polizisten um. Was wussten wir schon von französischen Gesetzen?

Als ich vom Roller stieg, wäre ich beinahe umgeknickt, so steif waren meine Knie. Der Hintern tat mir weh, und ich streckte mich. Die Muskeln kribbelten, die Ellbogen und Schultern knirschten. Ich nahm den Helm ab und spürte, wie der Druck auf meine Stirn abnahm. Während der Fahrt hatte ich es nicht so gespürt.

»Weit geht’s heute nicht mehr«, sagte Lena, und alle nickten.

Selina rieb sich den Nacken, als wäre er verspannt.

Wir checkten unsere Mails und Facebook und antworteten hier und da. Solange wir halbwegs regelmäßig reagierten, merkte keiner, wo wir wirklich steckten.

Im Erdgeschoss eines Fachwerkbaus befand sich ein kleiner Supermarkt, der wie ein Schlauch weit hineinführte. Wir kauften zwei frische Baguettes, verschiedene Käse und trockenen Rotwein – das schien ein passendes erstes Abendessen auf französischem Boden zu sein. Gegen den Durst holten wir sechs Liter Wasser. Selina und Lena sprachen ähnlich mäßig Französisch wie ich, aber wir kamen zurecht. Dinge aus dem Regal nehmen und eine Zahl von der Kasse ablesen, das schaffte sogar Maik. Die Kassen befanden sich an einem seitlichen Tresen am Ausgang, und alles wurde beim Scannen sofort in dünne Plastiktüten verpackt. Wegen der schweren Flaschen nahm der Packer zwei übereinander. Er wirkte mürrisch, kein Wunder bei acht Stunden schlecht bezahlter Langeweile am Tag.

Als wir die Einkäufe in Maiks Satteltaschen verstauten, sprachen uns drei Typen an, vielleicht zwei, drei Jahre älter als wir. Sie wollten wissen, ob wir noch was erleben wollten, sie wüssten von einer coolen Party oder einem Club, genau verstand ich es nicht. Dabei sahen sie vor allem Lena und Selina an.

»Non, merci«, sagte ich.

Maik schüttelte vehement den Kopf. Auch ohne Sprachkenntnisse war die Situation klar.

»Et vous?« Sie sahen weiter die Mädchen an und ignorierten uns. Es war, als hätten wir gar nichts gesagt.

»Non«, sagte Selina.

»Wir haben nee gesagt.« Maik legte seinen Arm um ihre Schultern und fasste den Wortführer ins Auge, den Kopf erhoben.

»Okay.« Abwehrend hob er die Hände. Männliche Besitzansprüche kapierten sie also.

Ich nicht. Ich stand noch immer neben Lena, ohne sie zu berühren.

»Franzosen.« Maik löste sich nur ganz langsam wieder von Selina, es klang abwertend.

»Ja, Franzosen.« Bei Lena klang es ganz anders. Sie lächelte Maik herausfordernd an.

»Wolltest du mitgehen, oder was?«

»Nein.« Lena lächelte noch immer, und ich wurde eifersüchtig, obwohl sie doch für mich tabu war. Aber auch die Franzosen sollten die Finger von ihr lassen.

Es kostete Überwindung, sich noch mal auf den schwarzen Sitz zu begeben, er schien viel härter als noch beim Start in Hartingen. Aber wir konnten unsere Schlafsäcke schlecht hier auf dem Fußweg ausrollen. Ein Polizeiauto rollte vorbei und ignorierte uns. Wenigstens das.

Wir fuhren aus der Stadt und bogen bei erster Gelegenheit in den Wald. Schon bald fanden wir eine schöne, langgestreckte Lichtung an einem Fluss. Autoreifengroße Brandstellen nahe beim Wasser zeigten, dass Feuermachen hier erlaubt war oder zumindest üblich. Der Fluss war vielleicht fünfundzwanzig Meter breit, ruhig und klar, in Ufernähe konnte man die runden Steine am Grund deutlich erkennen. Der Boden war eben genug zum Schlafen.

Eilig zogen Maik und ich uns bis auf die Unterhose aus und sprangen ins Wasser. Wild posend tobten wir herum, und alle zwei Minuten riefen wir: »Kommt auch rein!«

Doch die Mädchen blieben lachend draußen. Selina rief ihre Mutter an, um zu sagen, Felix sei so süß wie auf den Bildern und sie würde noch bei Lena bleiben.

Uns wurde langweilig, und das Wasser war kühler, als wir behauptet hatten. Wir trotteten an Land und setzten uns schlotternd in die letzte Sonne, um zu trocknen. An Handtücher hatten wir beim Einkaufen nicht gedacht.