22

Auf den ersten zwei Kilometern drehten wir uns mehrmals um, aber keine Polizei folgte uns, keine Sirene heulte. Niemanden interessierte es, wenn man Felswände und Apfelbutzen erlegte. Wo sollte hier überhaupt eine Polizeistation sein?

Die Straße wand sich zwischen den auslaufenden Bergen dahin, Maik ließ den Motor aufheulen und brauste hupend davon, seine Maschine war gut dreißig km/h schneller. Dann drosselte er das Tempo wieder und ließ uns aufschließen.

Ich klammerte mich an den Gepäckträger, meine Oberschenkel lagen an Lenas Hüften. Ich musste einfach wissen, ob sie etwas mit Christoph gehabt hatte.

Grübelnder Idiot!

Vielleicht war sie ja seine Halbschwester und deshalb auf dem Friedhof gewesen. Aber so gestylt? Nein, das hätte sie längst zugegeben. Es sei denn, es wäre ein Geheimnis, ein Seitensprung seines Vaters mit ihrer Mutter. Das klang nicht wahrscheinlich und nach einer schlechten Soap. Außerdem sollte man die Finger auch von den Schwestern seiner Freunde lassen.

Sie ist nicht seine Schwester!

Ich beugte mich so weit nach hinten wie möglich, und machte die Beine breit, um Lena möglichst wenig zu berühren. Jeder Abstand war gut.

Ein Auto bretterte hupend von hinten heran, und ich dachte, es wären die zwei Idioten, aber es raste nur mit bestimmt 140 Sachen ganz nah an uns vorbei und kaum langsamer in die nächste Kurve. Der Fahrtwind presste uns fast über den Straßenrand, Lena fluchte, und ich winkte wieder mit dem Mittelfinger.

»Der ist nicht von Amnesty Apfelbutzen!«, rief ich, und Lena kicherte wieder los und machte den nächsten Schlenker Richtung Straßenrand.

»He!«

»Da war ein Apfelbutzen«, schrie sie. »Dem musste ich ausweichen.«

Ich streckte den Arm aus und zeigte ihr den erhobenen Daumen. »Amnesty ist stolz auf dich.«

Etwa zehn Kilometer hinter dem Steinbruch erreichten wir auf einer Anhöhe einen kleinen umwaldeten Parkplatz mit zwei Tischen und Bänken und einem Kreuz an der Ausfahrt und hielten an.

Das Kreuz war aus dunklem Holz und traf mich mit voller Wucht; genau hier war jemand auf der Straße gestorben. Wie Christoph. Mit einem Schlag dachte ich an den Moment seines Tods, an sein Sterben, wie ich es mir hundertmal vorgestellt hatte, ohne es zu wollen. An die Bilder, die mich Nacht für Nacht überschwemmt hatten wie echte Erinnerungen, an die Schmerzen und das Blut überall und die Schreie, die er ausgestoßen haben musste. Schreie, die sich in meinen Träumen mit denen von Schweinen beim Schlachter vermischten, weil ich nie einen Menschen hatte sterben sehen, nicht in Wirklichkeit. Träume, die ich dafür gehasst habe, die sich nicht darum scherten und wiederkehrten, wieder und wieder. Ich wollte einfach nur weg, aber Selina wollte bleiben, und so blieben wir. Ich spürte Schweiß aus meinen Poren kriechen, meine Hände wurden zittrig, und ich wollte den Kopf gegen eine Wand schlagen, nur nicht vor den anderen, und überhaupt gab es hier keine Wände. Mit der Rechten fuhr ich mir mehrmals über den Kopf, aber das half nicht. Ich presste die Lippen zusammen, um nicht zu schreien.

Auch Selina hatte das Kreuz bemerkt, und während sich Lena und Maik streckten und über die Idioten aus dem Steinbruch lachten, schlenderte sie hinüber. Langsam folgte ich ihr. Sie ging vor dem Kreuz in die Hocke. Es war aus Holz und vielleicht einen halben Meter hoch und steckte in einer Rasenfläche am Straßenrand. In seinem Rücken lag ein hellgrauer Findling, auf den Leute ihren Namen geschrieben hatten wie auf ein Gipsbein.

Als würde hier irgendetwas heilen!, dachte ich gehässig, und dann kamen mir Kondolenzbücher in den Sinn, und vielleicht war es das. Warum hatte Christoph keinen solchen Findling bekommen?

Um das Kreuz herum waren kleine blaue und ein paar hohe gelbe Blumen gepflanzt. An ihm hing keine Jesusfigur, nur ein schlichtes Schild mit zwei Namen und einem Datum aus dem letzten Jahrzehnt, 12.12.2005. Ich war froh, dass keiner der Namen Christoph lautete.

Selina verharrte in der Hocke. Obwohl sie die Hände nicht gefaltet hatte, wirkte sie versunken wie beim Gebet.

»Glaubst du an Gott?«, fragte ich leise.

»Ich weiß nicht. An irgendwas schon«, sagte sie nach einer Weile und blickte weiter auf das Kreuz. Es war deutlich, dass sie nicht reden wollte.

Am liebsten hätte ich das Kreuz rausgerissen und auf dem Stein zerschmettert. Ich war es leid, überall den Tod zu sehen, und ich wollte alles zerstören, was an ihn erinnerte, als könnte das jetzt noch Christoph helfen. Ich hasste den Tod. Ohne auch nur einmal nach dem Kreuz zu greifen, drehte ich mich um und ging zu den anderen zurück. Ich würde das verdammte Ding nicht mehr ansehen.

Auf dem Parkplatz stand noch ein neuer roter Kombi, und an einem der beiden Tische saß eine Familie mit zwei Jungen im Grundschulalter, der ältere blond, der andere mit dunklen Locken wie seine Mutter. Sie aßen belegte Brote und geschnittenes Obst aus Plastikbehältern. Trotz der Hitze trug der Vater lange Hosen und ein Hemd, die Mutter ein buntes geblümtes Kleid und Goldschmuck wie für eine Feier. Der blonde Junge deutete auf Lenas Roller und rief seine Begeisterung über das aufgemalte Skelett hinaus.

»Wow!«, sagte auch der andere Junge, und sie sprangen beide auf.

Die Mutter rief sie zurück, ihr Blick verriet weniger Begeisterung.

Lena, die mit Maik immer noch beim Roller stand, winkte freundlich, die Mutter und der Vater grüßten reserviert zurück. Die Kinder wollten sich auf den Roller setzen, nur einmal, und bettelten bei ihrer Mutter. Schon seltsam, welche Faszination Tod und Knochen auf kleine Jungen ausübten. Die Mutter wehrte ab, sie sollten keine Fremden belästigen. Der Vater nickte und aß das letzte Stück Brot.

Lena rief hinüber: »Kein Problem.«

Die Jungen hüpften auf und jammerten »Bitte, bitte!«, bis die Mutter nachgab. Dann wetzten sie zu Lena und Maik. Ich ging zum zweiten Tisch und lehnte mich dagegen.

Beide Jungen wollten den Schädelhelm aufsetzen, natürlich setzte sich der Ältere durch, und der Jüngere musste sich mit dem Gehirn begnügen. Lena half den beiden beim Aufsetzen und klappte die Visiere hoch. Maik hob sie in den Sattel.

»Papa, ein Foto!«, forderten sie lautstark, und er tat ihnen den Gefallen.

»Noch eins, noch eins!«, riefen sie und schnitten furchterregende Grimassen, grüßten militärisch und machten das Victory-Zeichen. Der Vater knipste und knipste, und Lena fragte höflich, ob sie auch eines machen dürfte.

»Natürlich«, sagte der Vater.

»Merci«, sagte die Mutter, als Maik die Kinder wieder herunterhob. Diesmal lächelte sie ehrlich und bot uns in Viertel geschnittene Äpfel an.

Dankend lehnten wir ab und stellten uns an den anderen Tisch. Zum Sitzen schmerzten unsere Hintern zu sehr.

Die Mutter murmelte etwas zu den Kindern, und sie plärrten laut: »Merci!«

»Äpfel! Warum Äpfel?« Lena schüttelte den Kopf. Dann sah sie zu Selina hinüber, die inzwischen auf die Knie gesunken war, und fragte mich: »Betet sie?«

»Nein.«

»Hat Christoph …« Sie zögerte kurz. »War Christoph eigentlich Christ?«

»Nee.« Jetzt zögerte ich. »Ich glaube nicht. Er war getauft, klar, aber er ging nur Weihnachten und Ostern mit seinen Eltern in der Kirche. Und bei Hochzeiten und so. Aber über Gott hat er nie gesprochen, und gebeichtet hat er auch nicht, hat er mir gesagt. Was er tat, ging den Pfarrer nichts an.«

»Und gebetet?«

»Nicht dass ich wüsste. Vor zwei, drei Jahren hat er sich mal neben mir bekreuzigt, dann verblüfft seine Hand angesehen und gelacht. Es war ein Reflex, kein Glaube.«

Sie nickte, und ich fragte mich wieder, wie gut sie Christoph gekannt hatte.

»Außerdem war er ein Skater und hatte 667 – neighbour of the beast auf sein Board geschrieben«, erzählte Maik. »Einmal hat ihn ein Typ darauf angesprochen, und Christoph sagte: Na ja, ich wohne halt noch daheim, und mein Zimmer liegt neben dem Schlafzimmer meiner Eltern.«

Lena lachte.

Ich wollte irgendwas Cooles oder Geistreiches ergänzen, aber mir fiel nichts ein. Selina kniete noch immer. In mir wurde der Gedanke ans Sterben schier übermächtig.

Die Kinder blickten scheu zu Selina und sagten etwas zu ihren Eltern. Die schüttelten nachdrücklich den Kopf. Mitleid zeigte sich auf dem Gesicht der Mutter, wahrscheinlich dachte sie, Selina hatte hier jemanden verloren. Der Jüngere hob seinen angebissenen Schokoriegel und deutete auf Selina. Die Mutter strich ihm über den Kopf. »Non.«

Ich dachte an Christophs Blut auf dem Asphalt und daran, dass ich irgendwann selbst auch sterben würde. Die plötzliche Angst vor dem Tod presste mir das Herz so fest zusammen, dass ich mich fast gekrümmt hätte. Nicht hier, nicht vor Lena.

»Ich muss mal«, sagte ich, damit mir niemand folgte, und verschwand in dem Waldstreifen, der nur wenige Meter hinter den Tischen begann. Er war weniger breit, als ich gedacht hatte, dahinter lag ein kleiner Abhang. Unten erstreckte sich eine frisch gemähte Wiese, und dann folgten Felder bis zum nächsten Dorf, dessen erste Häuser ich gut erkennen konnte. Ganz links hingen weiße Laken auf einer Leine. Auf der Wiese unter mir vertrocknete abgeschnittenes Gras zu saftlosem Heu.

Ich könnte kopfüber hinabstürzen und mir das Genick brechen, dann bräuchte ich keine Angst mehr vor dem Sterben zu haben und könnte einfach neben dem Heu verdorren.

Ich brauchte zwei, drei Sekunden, bis mir das Absurde daran aufging. Ich konnte nicht darüber lachen, stand einfach nur da und fühlte mich einsam.

Sterben kann man jeden Tag.

Ich starrte den Abhang hinab. Schaut man lange genug in einen Abgrund, schaut dieser zurück, oder so ähnlich. Blöder Spruch, als wäre man selbst schuld. Was sollte man machen, wenn der Abgrund plötzlich vor einem auftaucht? Wegschauen und reinfallen?

Ja, ich weiß, meine Metaphern sind dämlich.

Nicht jeder Tag nach dem Unfall war gleich schlimm gewesen, aber ich hatte mich immer irgendwie benommen gefühlt, ziellos. Seit unserem Aufbruch war es besser geworden, ich wusste, wo ich hinwollte, wohin Christoph gewollt hatte, aber jetzt stand ich hier.

Du hattest auch davor ein Ziel, Rache an Gerber. Du warst nur zu schwach.

Eben, mit der Pistole in der Hand, hatte ich mich besser gefühlt, stärker.

Ich bekam Angst vor meinen eigenen Gedanken. Es war ein Unfall gewesen, und auch wenn ich an seinem Freispruch zweifelte, zweifelte ich an seiner alleinigen Schuld. Auf keinen Fall konnte ich auf ihn feuern.

Ich bin kein Mörder.

Und wenn du keine Zweifel an seiner Schuld hättest?

Habe ich aber!

Mit beiden Handballen schlug ich mir gegen den Kopf. Gerber musste da endlich raus. Ich dachte an die Pistole und schloss die Augen. Und Selina machte sich Sorgen, ob Maik austickte?

Plötzlich hielt ich die Einsamkeit nicht mehr aus. Ich zog mein Handy aus der Tasche und rief meine Mutter an, weil Pia nicht ranging.

»Jan! Das ist ja schön, dass du anrufst. Geht’s dir gut?«, fragte sie. »Habt ihr auch Spaß?«

»Mir geht’s gut, ja«, log ich. »Kannst du mir mal kurz Pia geben?«

»Natürlich. Ich hol sie schnell her, sie ist im Wasser.«

Ich wollte meiner Schwester unbedingt sagen, dass ich ihr alles vermachen würde, falls ich sterben sollte. Christoph war tot, Lena tabu, Selina auch, und allen anderen Freunden gönnte ich nichts. Ich wollte nicht, dass meine Eltern meine Sachen behielten und sie wie Museumsstücke behandelten, und ich wollte auch nicht, dass sie sie wegwarfen. Und was sollten sie mit ihnen anfangen?

»Jan! Was gibt’s?«, rief meine Schwester. Sie klang fröhlich und froh, mich zu hören.

Ich fragte, ob sie mein Zimmer wolle, wenn ich auszog. Das Wort sterben brachte ich nicht über die Lippen.

»Ich will nicht, dass du ausziehst«, sagte sie, und das war schön.

»Jeder muss irgendwann … ausziehen«, sagte ich. Ich hatte einen Kloß im Hals.

»Aber es ist besser, du behältst dein Zimmer, falls du mal zu Besuch kommen willst«, sagte sie, und das brachte meine Metapher vom Tod vollkommen durcheinander.

»Da hast du recht.«

»Aber deinen Fernseher nehm ich.«

»Okay.« Sie hatte mich überrumpelt. »Halt! Erst, wenn ich ausziehe.«

»Gut. Mama möchte dich noch mal sprechen.«

»Gleich«, sagte ich. Ich wollte ihre fröhliche Stimme noch ein wenig hören. »Habt ihr Mutters Hut schon vorbeischwimmen sehen?«

»Nein.« Sie lachte. »Papa hat gesagt, der ist bestimmt gerade in Südamerika.«

»Australien.«

»Das hab ich auch gesagt. Ich geb dir jetzt Mama. Tschüss.«

»Tschüss.«

»Du willst ausziehen?«, fragte Mutter scharf, sobald sie dran war.

»Nein.«

»Was hat Pia dann da gesagt?«

»Wir haben vorhin über Knolles Bruder geredet«, sagte ich und hoffte, sie würde nicht merken, dass ich log. »Und da hab ich über unsere Zimmer nachgedacht, und dachte, Pia freut sich. Für irgendwann, wenn ich studiere oder so.«

»Oh. Das ist nett.«

Wir wechselten noch ein paar Sätze, dann legte ich auf. Es war schön, dass Pia mich nicht gehen lassen wollte. Trotzdem dachte ich an Maiks platzenden Schädel und fragte mich, ob ich irgendwann auch auf den Gedanken kommen würde, mich umzubringen, nachdrücklicher als eben. Was war, wenn sich der Gedanke einfach im Kopf einnistete, ohne dass man es wollte?

Ich wollte nicht sterben wie Christoph. Ich wollte nicht einsam sein und wollte nicht von innen aufgefressen werden. Nicht von kreisenden Gedanken, nicht von gieriger Leere. Verzweifelt schlug ich mit der rechten Faust gegen den nächsten Stamm. Viermal gegen die borkige Rinde, denn vier war eine gute Zahl. Die Haut an zwei Knöcheln platzte auf, und zwei war die Hälfte von vier, aber was das bedeutete, wusste ich nicht. Sollte ich zehnmal zuschlagen? Es blutete nur leicht. Ich pinkelte an den dämlichen Stamm und ging zurück zu den anderen.

Als ich aus dem Wäldchen trat, war die Familie verschwunden. Selina hielt ihr Handy in der Rechten und trampelte die Blumen um das Kreuz sorgfältig nieder. Sie beugte sich vor und hielt eine einzige gelbe Blume zärtlich mit der Linken aufrecht. Als alle anderen platt waren, drückte sie die eine Richtung Kreuz und ging in die Knie. Mit dem Handy machte sie ein Foto und noch eins von weiter links, eins von weiter rechts, eins von oben, und für das letzte legte sie sich ganz auf den Bauch.

Blume mit Müll war ihr liebstes Motiv gewesen, und damit wäre das Kreuz Müll. Oder es ging um weggeworfene Leben oder darum, dass wir nach dem Tod nichts anderes waren als Müll, verbuddelt in der Erde oder im Meer verklappt. Ich dachte an Christophs Scherz, der Müll repräsentiere ihn und die Blume Selina, und vielleicht hatte sie auch einfach nur daran gedacht.

Sie erhob sich wieder und richtete die anderen Blumen notdürftig auf. Dann kam sie zu uns an den Tisch.

»Was war das jetzt?«, fragte Maik.

»Ein Foto.«

»Ach nee.«

»Sonst noch was?«

»Hast du eben für Christoph gebetet?«

»Ich hab an ihn gedacht.«

»Im Knien?«

»Ich kann nicht mehr sitzen.«

Da es uns allen so ging, blieben wir noch eine Weile und lungerten um die Bänke herum, ohne uns zu setzen. Ein Streifenwagen raste die Landstraße entlang und bremste vor unserem Parkplatz runter. Er blinkte, und dann gab er doch wieder Gas. Lena atmete erleichtert aus.

»Weißt du, an was Christoph geglaubt hat?«, fragte ich Selina, weil es mich wurmte, dass ich vorhin nicht sicher gewesen war. Wir schleppten ihn durch halb Europa, und ich hatte keine Ahnung, ob er überhaupt daran glaubte.

»Er wusste es selbst nicht.« Ein trauriges Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, unscheinbar und gleich wieder verschwunden. »Er wollte verzweifelt an irgendwas glauben, aber als wir zusammenkamen, hatte er längst alle Vorstellung verloren, die man ihm als Kind eingetrichtert hatte. Er hat immer so was gesagt wie: Früher habe ich dies oder das geglaubt, nie: Ich glaube jetzt, dass … Er sagte, es wäre schön, wenn es da draußen etwas geben würde, aber wünschen nutzt nichts, wir sind wohl einfach allein. Keine Götter, keine Aliens. Aber auch keine Teufel, und das ist immerhin tröstlich.«

»Stimmt«, unterbrach ich sie. »Das hat er gesagt: Wo kein Gott, da kein Teufel.«

»Und wenn schon ein Gott, dann keiner aus irgendeiner Religion. Er glaubte nur, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht. Nicht unbedingt in einem Jenseits, vielleicht treiben die toten Seelen unsichtbar mit dem Wind herum, oder sie hängen an dem Ort fest, an dem sie gestorben sind oder begraben wurden, und deshalb gibt es Orte, die einem unheimlich sind. Er hat immer wieder rumüberlegt, weil er nichts wusste. Bestimmt ketten Grabsteine eine Seele fest und verhindern, dass sie frei mit den Winden reist, hat er mal gesagt, und: Seeleute haben es echt besser. Er hat nichts gefunden, was ihn überzeugt hat, aber er wollte auf keinen Fall an ein Ende glauben. Und ich auch nicht.«

Wir schwiegen.

Ich fragte mich, warum ich nie richtig mit ihm darüber gesprochen hatte. Warum er es mir nicht von sich aus erzählt hatte.

»Heißt das, dass nach seiner Vorstellung seine Seele noch an seiner Asche hängt? Also in den Beuteln?«, fragte Lena.

Wir sahen hin. Die Luft hinter dem Roller flirrte, wie sie das an heißen Sommertagen oft tat, doch jetzt war es unheimlich. Es war, als würde sich dort etwas bewegen und winden.

»Nein.« Selina schüttelte den Kopf.

»Und warum bringen wir sie dann ans Meer?«, fragte Maik.

»Es war sein Wunsch«, erinnerte ihn Selina leise. »Und daran glaube ich.«

Noch immer flirrte die Luft über dem Asphalt, und ich konnte den Blick nicht abwenden. Es war wie ein Spiel, darin eine Form zu erkennen, einen Schemen, aber woher sollte ich wissen, wie Seelen aussahen?

Ich wollte unbedingt etwas wahrnehmen, einen Beweis, dass es unsterbliche Seelen gab, dass Christoph uns begleitete, doch vergeblich. Es war einfach die vertraute Unschärfe in der Luft, die sich an heißen Tagen oft zeigte.

Langsam stand ich auf und ging zur Straße. Das Flirren hing über dem ganzen Weg, den wir gekommen waren. So lang und groß konnte nicht einmal seine Seele sein. Ich blickte in die andere Richtung, und auch dort flirrte die Luft. Da konnte er unmöglich schon sein. Da fahren wir erst noch hin, dachte ich, und dann fielen mir die Namen auf dem Kreuz ein: Vielleicht waren es die beiden?

»Was machst du da?«, rief Maik.

»Nichts.« Ich schüttelte den Kopf und wischte mir Schweiß von der Stirn. Die Hitze stieg mir zu Kopf.

»Dann komm wieder her. Christoph und mein Kennenlernen war zu banal, um es zu erzählen. Ich erzähl euch was Besseres.«

Ich drehte mich um und schlenderte zurück, ohne zum Kreuz hinüberzublicken. Ich stellte mich bewusst nicht neben Lena, aber das brachte nichts. So stand ich ihr gegenüber und musste sie ansehen.