30
Während der Erzählung hatte ich Selina beobachtet. Sie sah gleichzeitig glücklich und unendlich traurig aus, sie lächelte und weinte, und ihre Stimme war weicher gewesen als gewohnt. Sie wirkte kleiner als sonst und dennoch stärker. Ich erinnerte mich daran, wie sie getanzt hatte, einfach für sich und die Musik, ohne auf die Umstehenden zu achten, und genau so hatte sie erzählt, für Christoph und sie. Ich wusste wieder, warum ich mich damals fast in sie verknallt hatte und fühlte mich einsam und verlassen. Egal, wen man im Leben fand, irgendwann blieb man allein oder ließ jemanden zurück.
Ich hasste das Leben.
Und liebte es, weil es das Gegenteil vom Tod war. Ihn hasste ich wirklich.
Lena sah ich nicht an.
Flackernd fraß sich das Feuer durchs Holz, und es blieb nur Asche, die sich nicht groß von der Christophs unterschied. Ich sah zum Roller hinüber, dort lag kein Flirren in der Luft, nur die Flamme spiegelte sich im Lack. Hellgrau zog der Rauch über dem Sattel hinweg, irgendwo zirpten Grillen, und ein Frosch schrie. Ein schöner Zufall, dachte ich.
»Zum Glück ist das nur einer«, sagte Maik in die Stille hinein. Seit Selina fertig war, hatte niemand mehr gesprochen. »Wenn hier eine ganze Herde lagert, kann keiner schlafen. Die machen einen Höllenlärm.«
»Herde.« Lena grinste.
»Wie sagt man sonst?«
Keiner wusste es. Rotte, Schwarm, Gruppe, alles schien falsch. Lena versuchte es mit Staat, wie bei Ameisen oder Menschen, doch niemand stieg groß darauf ein.
»Und, Lena, was war mit dir und Christoph?«, fragte ich, als sie laut überlegte, ob Frösche eine Königin hatten. Mein Mund war trocken, und ich nahm noch einen Schluck Wein.
Selina nahm mir den Kanister aus der Hand, den Blick auf Lena gerichtet. Kurz berührten ihre Finger meine, ihre grünen Augen reflektierten das Feuer wie die einer Katze. Sie lauerten.
Nur Maik wirkte eher neugierig als angespannt, lässig legte er zwei Äste nach.
»Ich erzähl es morgen«, sagte Lena nach kurzem Zögern. »Eine Anekdote am Stück ist genug. Jede hat bisher für sich allein gestanden, und das hat deine auch verdient, Selina.«
»Morgen Abend sind wir schon am Meer«, sagte Selina kühl. »Das ist zu spät.«
»Morgen zum Frühstück.«
»Das klingt doch gut«, sagte Maik.
»Dann aber ganz sicher?«, fragte ich, obwohl ich nicht wollte, dass es wie eine Frage klang.
»Ganz sicher«, bestätigte Selina, und Lena nickte.
Ich erzählte von Ralphs Anruf. Wir wollten uns keine Sorgen wegen Christophs Mutter machen, darum lachten wir nur darüber.
»Die alte Pedantin hat die Blumen bestimmt ausgemessen und kontrolliert sie jeden Tag. Nicht dass sie anders wachsen, als sie gepflanzt wurden.«
»Die sieht auf keinen Fall darunter nach, ob was fehlt. Das macht zu viel Unordnung, das bringt die genau arrangierten Wurzeln durcheinander.«
Der Frosch war verstummt oder weitergehüpft, und als das Feuer niedergebrannt war, löschten wir die Glut mit Schlamm und Wasser aus dem Bach und legten uns hin. Ich lag auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Ich konnte nicht schlafen und zählte die verglühenden Sternschnuppen, ohne mir etwas zu wünschen. Wolken wuchsen vor den Sternen und schluckten einen nach dem anderen.
Längst hatten die anderen aufgehört, sich hin und her zu drehen, sie atmeten ruhig. Leise schlüpfte ich aus dem Schlafsack und schlich die wenigen Schritte zum Roller hinüber. Ich klappte das Handschuhfach auf und griff nach meinem Beutel. Ich musste allein mit Christoph sein, mich von ihm verabschieden, bevor wir gemeinsam das Meer erreichten. Dafür war ich auf den Friedhof gekommen, und seitdem hatte es keinen Moment dafür gegeben. Nur ein winziges Stück wollte ich ihn mit mir in den Wald nehmen, nur so weit, bis ich mich nicht mehr beobachtet fühlte.
Der Atem der anderen ging noch immer regelmäßig.
Die Hand auf dem Plastik, zögerte ich. Wenn ich im Dunkeln stolperte und der Beutel fiel und sich öffnete, würden wir die Asche nicht ans Meer bringen können. Es wäre unmöglich, sie wieder einzusammeln, und er läge doch wieder unter Bäumen. Ich zog die Hand zurück, sank auf die Knie und fragte den Beutel in Gedanken: Warum?
Natürlich konnte Christoph mir nicht antworten, aber ich hoffte, er könnte mich wenigstens hören. Ich glaubte an nichts, und doch war er in diesem Moment irgendwie da.
Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn vermisste, und dass ich nicht wusste, was ich tun sollte, dass alles aus dem Gleichgewicht war, dass mein Vater ständig von einem Zurück zur Normalität redete und ich jederzeit zurück wollte, an einen Punkt, an dem Christoph noch lebte. Ein anderes Zurück konnte doch keine Normalität sein.
Ich sagte ihm, dass es Selina dreckig ging, auch wenn er das bestimmt selbst gesehen hatte, falls er noch irgendwas wahrnehmen konnte. Aber ich wollte es trotzdem erwähnen, weil es wichtig war. Ich sagte, dass ich mich kaum traute, sie lange in den Arm zu nehmen, dass sie und ich uns nahe waren, dass der Schmerz uns irgendwie noch näher brachte, dass wir es aber nicht zuließen, nicht zu viel davon. Dass ich ihm das nie antun würde, und sie auch nicht, sie hatte immer ihn geliebt und nicht mich.
Ich sagte, dass ich nicht glaubte, dass er etwas mit Lena gehabt hatte, ich aber Angst davor hatte, was sie morgen erzählen würde. Dass ich ihm keine Vorwürfe machte, egal, was es war, aber ich es gern von ihm gehört hätte, wenn es denn überhaupt etwas zu hören gab. Dass es verständlich wäre, wenn man Lena so sah, hier, unterwegs, nicht in der Schule, wobei der Roller mit seinem Skelett einen ja von Anfang an misstrauisch hätte machen müssen, das war kein Roller einer Unscheinbaren, aber dass es überhaupt nicht verständlich war, wenn man Selina sah, wie sie vor dem Kreuz kniete und der Mutter trotzte, wie sie litt und sich aufrecht hielt, wie sie zu ihm hielt und kämpfte und … Meine Gedanken wurden wirrer und schneller und zahlreicher, und dann platzte einer hervor: Warum bist du betrunken gefahren?
Und auch wenn ich keine Antwort bekommen würde, drängte die nächste Frage hinterher und die nächste.
Warum ohne Licht?
Bist du Depp wirklich auf die andere Fahrbahn gekommen?
Hattest du Schuld am Unfall? Warst du es?
Weißt du, was du uns damit angetan hast?
Du warst mein Bruder, und du wirst es immer sein, und auf diese Weise werde ich dich immer lieben, auch wenn ich das niemals laut gesagt habe.
Warum hast du dich einfach totfahren lassen?
Einfach so!
Warum?
Blöder Depp!
Ich schloss die Augen, aber zu spät. Die ersten Tränen liefen bereits über mein Gesicht. Niemand sollte sie sehen. Ich lauschte auf den Atem der anderen, keiner schien wach zu sein. Doch sie waren so nah, ich fühlte mich beobachtet. Einsam, weil sie schlafen konnten und ich nicht. Selina drehte sich auf die andere Seite, doch keiner wälzte sich in Albträumen. Lena lag stocksteif da wie auf einer Totenbahre. Maik schlief auf der Seite und seinem Unterarm, er schnaufte, als würde er gleich zu schnarchen beginnen.
Ich stand auf und ging den Waldweg entlang. Ich musste allein sein. Die Nacht war still. Stumm ließ ich die Tränen laufen und trocknen, ich wischte sie nicht fort. Die ersten tropften auf mein T-Shirt und den Boden.
Irgendwas huschte raschelnd durchs Unterholz, vielleicht ein Fuchs. Ich hoffte, dass es keine Bache mit Jungtieren war und dass es hier keine Wölfe gab, und dann war das Rascheln verschwunden. Nicht einmal ein sanftes Tapsen war mehr zu hören.
Ich zählte die Schritte, bis ich bei einhundertvierundzwanzig angekommen war, und dann ließ ich es sein. Es war sinnlos.
Nach einer Weile blieb ich stehen und dachte daran, zwischen die Bäume zu laufen, einmal quer durch den Wald und immer weiter, bis die Sonne aufging, und vielleicht noch weiter, bis ich nicht mehr konnte, bis die Beine zusammenklappten. Aber vielleicht klappte auch erst der Kopf zusammen, und ich würde ewig laufen, orientierungslos und innerlich leer. Ich würde nichts zurücklassen als einen Beutel Asche, vier Beutel, und die Asche würde sowieso so wenig bei mir bleiben, wie Christoph es getan hatte. Und wenn er sowieso meine Gedanken lesen konnte, dann war sie auch nicht wichtig. Und wenn er sie nicht lesen konnte, warum sollte die Asche es dann sein?
Warum bist du tot?
Wir hätten auch so ans Meer fahren können, beide am Leben, oder meinetwegen auch alle fünf.
Ich wollte mich zwischen den Bäumen verlaufen, weil ich mich danach fühlte. Trotzdem rührte ich mich nicht, lauschte auf den leisen Bach und schaute nach oben, wo dicht belaubte Äste über dem Weg fast den ganzen Himmel bedeckten. Vor dem Rest hingen Wolken. Ich konnte keinen einzigen Stern erkennen, es war einfach nur dunkel über mir, und so starrte ich in die Dunkelheit und atmete Stille ein.
Ein leichter Wind kam auf, ich spürte ihn kühl auf den Wangen, wo die Spuren der Tränen noch nicht ganz getrocknet waren. Frische Tränen kamen nicht mehr. Die Blätter um mich her raschelten, Zweige stießen aneinander.
Und dann hörte ich Schritte. Ganz leise kamen sie auf mich zu, und ich konnte einen Schemen erkennen, kleiner als ich und schon ganz nah. Warum konnte ich nicht einen Augenblick lang meine Ruhe haben?
Für einen verrückten Moment dachte ich, es wäre Fabienne, die da auf mich zukam, und dann erkannte ich Lena. Direkt vor mir blieb sie stehen.
»Was machst du hier?«, fragte ich, und meine Stimme war leise und rau.
»Ich wollte nicht allein sein.« Sie kam einen halben Schritt näher.
Und so standen wir uns in der Dunkelheit gegenüber, am selben Ort gelandet, obwohl wir das Gegenteil gewollt hatten, oder vielleicht wollten wir dasselbe und hatten nur andere Worte dafür.
Oder keine Worte.
»Hast du geweint?«, fragte sie.
»Ja«, gab ich zu und musste unwillkürlich lächeln, weil ich erst jetzt ihren Satz begriff. Sie war mir gefolgt.
Sie war mir so nah, dass wir uns fast berührten, Gesicht an Gesicht.
»Hattest du was mit ihm?«, fragte ich, die Lippen ganz nah an ihren, weil ich es wissen musste, weil ich nicht bis zum Morgen warten wollte.
»Nein«, flüsterte sie so leise, dass ich es kaum hören konnte, aber den Hauch des Wortes spürte ich.
»Nein?«, wiederholte ich überrascht, und plötzlich war es egal.
»Nein.«
Wir küssten uns.
Wir umschlangen uns und wankten, ich krallte mich in ihre Haare, meine Hände suchten Halt. Wir küssten verzweifelt, wie der Ertrinkende nach Luft schnappt, nur dass wir uns den Atem nahmen, mehr und immer mehr. Ich grapschte nach ihrer Brust, und sie nach meinem Glied.
»Hast du Gummis?«, fragte sie atemlos.
»Nein.«
»Scheiße.«
»Ja.«
Aber sie ließ mich nicht los. Wir gingen zu Boden, drückten uns gegenseitig in die kühle Erde und das Gras, und ich fühlte kein Nylon auf ihren Beinen, nur nackte Haut, und schob die Hand unter ihren Rock, ohne nachzudenken. Wir machten es uns gegenseitig, keuchend und ausgehungert, zu besessen, um unsicher zu sein. Bis wir zum Schluss fast schrien, weil wir allein waren und weil wir am Leben waren.
Nach Luft schnappend blieben wir liegen und ließen uns noch immer nicht los.
Sie hatte nichts mit Christoph gehabt.
Aber mit mir. Sie hätte mit mir geschlafen, wenn wir ein Kondom gehabt hätten.
Ein spitzer Stein drückte mir ins Kreuz, aber ich ließ ihn. Wenn ich mich rührte, würde Lena vielleicht gehen. Sie versuchte, eine Strähne meines kurzen Haars um ihren Zeigefinger zu wickeln.
»Warum hast du uns nicht gesagt, dass du nichts mit Christoph hattest?«, fragte ich leise. Sie hätte sich Selinas Abneigung ersparen können.
»Ich fand es schön, dass ihr euch vorstellen konntet, er hätte mich auch geliebt. Ich wollte nicht das dumme kleine Mädchen sein, dass ihn vergeblich angehimmelt hat. Zum ersten Mal war ich eine Konkurrenz für Selina.«
»Warum solltest du keine sein?«
Sie sah mich an, sagte jedoch nichts.
»Das wird morgen eine kurze Erzählung von dir.« Ich kicherte, ich war noch immer erleichtert. »Ich hatte nichts mit Christoph ist nicht wirklich lang.«
»Ein bisschen länger wird es schon.«
»So? Wie lang denn?«
»Morgen«, sagte sie. Sie klang ernst und zog sich ein Stück zurück. Bereute sie, was wir gerade getan hatten? Ich traute mich nicht zu fragen.
Schweigend lagen wir noch eine Weile da, dann standen wir auf und gingen zurück.
»Siehst du was?«, fragte sie.
»Nein.«
Sie nahm meine Hand, doch direkt vor unserem Lager ließen wir uns los. Ich dachte daran, sie noch mal zu küssen, aber ich tat es nicht. Ich hatte keine Ahnung, woran ich mit ihr war.
Irgendwas war anders. Maik hatte zu schnarchen begonnen, und die anderen Schlafsäcke waren leer, auch der von Selina. Wahrscheinlich hatte sie sein Schnarchen geweckt, und sie war irgendwo im Wald pinkeln.
Das Staufach des Rollers stand noch immer offen, und als ich es schließen wollte, sah ich, dass die Asche fort war. Panisch blickte ich auf den Boden, ob sie rausgefallen war, auch wenn ich nicht wusste, wie. Da war nichts, und dann begriff ich. Ich sprang zu Maiks Maschine und riss die Satteltasche auf. Auch hier fehlten beide Beutel.
»Selina.«