Das Mittagessen

Ich gehöre zu den Menschen, bei denen das Glas immer halb voll ist, niemals halb leer. Als geübte Optimistin wache ich am Morgen nach dem missglückten Shoppingtag guter Dinge auf. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Das ist kein Tag für dramatische Ereignisse.

Ich rechne nicht wirklich mit dem Schlimmsten. Aufkommende Zweifel wische ich sofort weg: »Ich bin in Elternzeit und dadurch arbeitsrechtlich besonders geschützt«, sage ich mir. Argument um Argument fällt mir ein, warum schon nichts passieren wird. Unser Team arbeitet schließlich am Vorzeigeprojekt unseres Arbeitgebers. Solche Leute entlässt man nicht. Und falls doch – hier kommt mir leider ein egoistischer Gedanke, den ich nur ungern zulasse –, mir werden sie bestimmt nicht kündigen. Ich bin schon so lange in dem Laden und gut vorangekommen, habe mehrmals die Position gewechselt und viele Krisen überstanden – warum sollte das jetzt auf einmal anders ein?

Oberflächlich beruhigt starte ich gut gelaunt in den Tag und verdränge Jürgens Anruf einfach – bis mich der Personalreferent unangekündigt vom Mittagstisch klingelt.

Während meine 8-jährige Tochter Ella und eine Schulfreundin ihre Teller leer essen, wird mir von Herrn Roth der Rausschmiss angetragen. Es ist offensichtlich, dass ich nicht der erste Mitarbeiter bin, dem er eine Kündigung übermitteln muss. Der Mann hat Routine und wahrscheinlich mehrere Seminare zum Thema »Richtig kündigen« mit Auszeichnung absolviert.

Wortreich und flüssig erklärt er mir die Situation, redet über den Höhepunkt »Wir werden auch Ihnen kündigen« eilig hinweg und rechnet mir vor, zu welchem Termin das geschehen wird: Frühestens in sechs, spätestens in sieben Monaten bin ich draußen.

»Da Sie in Elternzeit sind, haben Sie einen besonderen Kündigungsschutz. Wir müssen erst beim Gewerbeaufsichtsamt Ihre Kündigung beantragen. Aber das haben wir bereits gemacht.«

Hier glaube ich ein Bedauern durchzuhören. Allerdings unterstelle ich ihm, dass sein Bedauern nicht mich betrifft, sondern den Umstand, dass ein Behördenumweg nötig ist.

»Ich weiß nicht, wie schnell die sind«, meint Herr Roth.

Ich bin sprachlos, was nicht weiter auffällt, da ich sowieso nicht zu Wort komme. Ich habe den Eindruck, neben mir zu stehen und nicht wirklich teilzunehmen an dem, was geschieht. Es ist ein völlig surrealer Moment. Ich fühle mich, als würde ich die ganze Szene beobachten. Endlich wache ich etwas aus der Apathie auf und werfe ein, wie es mit einem Wechsel auf eine andere Position innerhalb des Konzerns aussähe?

»Dann haben wir natürlich gar kein Problem, die Kündigung wieder zurückzunehmen. Aber die Chancen stehen nicht gut. Die Situation im Unternehmen ist schwierig. Es gibt keine Neueinstellungen.«

Da kommt Wut in mir auf, meine Wangen werden ganz heiß. »Hey, willst du mir damit sagen, dass ich richtig draußen bin? Erst vor zwei Jahren war ich doch bei dir, um den Vertrag für den Positionswechsel zu unterschreiben. Du hast mir gratuliert, und jetzt kündigst du mir? Und überhaupt: Was soll der Quatsch von wegen Neueinstellungen. Ich bin doch nicht neu hier!«

Das denke ich nur. Schließlich duzt man seinen Personalreferenten nicht (zumindest nicht in unserem Unternehmen), außerdem bin ich für so einen impulsiven Angriff zu höflich und dann sitzen ja auch noch zwei Kinder hinter meinem Rücken. Johannes und ich haben gestern vereinbart, unserer Tochter erst einmal nichts vom Ende des Projekts zu sagen, damit sie sich keine Sorgen macht.

Ich habe keine Übung im Gekündigtwerden. Es ist mein erstes Mal. Ich habe keine Ahnung, wie man sich in solch einer Situation richtig verhält. Ich halte mich an die gängigen Höflichkeitsregeln, was dazu führt, dass ich es fertigbringe, mich am Ende für das Gespräch zu bedanken. Für Herrn Roth bin ich definitiv ein angenehmer Kündigungspartner, was ich ihm in diesem Moment überhaupt nicht gönne. Egal, ich bin froh, endlich den Hörer auflegen zu können.

Ich bin erschüttert. Ich fühle mich klein und ausgeliefert und machtlos. Es ist, als ob etwas Riesiges über mir zusammenbricht. Und ich stehe schutzlos da, ohne die Möglichkeit zu flüchten oder mich zu verstecken. Auch in mir zerbröselt etwas. Mein Vertrauen in diesen Arbeitgeber, in die gemeinsame Zeit. Mein Vertrauen in mich, dass ich auch schwierige Phasen in der Arbeit überstehe. Meine Gewissheit, dass alles gut wird, dass schon nichts passiert. Ich stöhne unwillkürlich auf.

»Wer war das, Mama?«, höre ich meine Tochter fragen.

»Ach, nur jemand von der Arbeit«, nuschele ich, nehme meinen halb vollen Teller und leere die Reste des Mittagessens in den Mülleimer.

Nachdem Ella und ihre Freundin auf den Spielplatz gegangen sind, rufe ich noch am selben Nachmittag bei meinem Berufsverband an. Ich muss etwas tun, sonst werde ich verrückt. Ich kann Herrn Roths Anruf doch nicht einfach so stehen lassen. Immer wieder sage ich mir: »Bleib ganz ruhig. Mach jetzt nichts Übereiltes. Geh Schritt für Schritt vor. Informier dich erst einmal.« Ich lasse mich sofort zu den Anwälten durchstellen.

»Guten Tag, ich habe erfahren, dass mir gekündigt wird, weil das Projekt, für das ich arbeite, eingestellt wird. Ich bin aber in Elternzeit. Wie soll ich mich jetzt verhalten?« Ich bin aufgewühlt, als ich diesen Eröffnungssatz formuliere. Aber ich zwinge mich zur Ruhe – und ich bemühe mich, meine Frage möglichst offen zu stellen, um der Gegenseite Gelegenheit zu geben, ausführlich zu antworten. Doch statt einer Antwort kommt leider nur eine Frage zurück: »Haben Sie die Kündigung schon?«

»Nein, noch nicht.«

»Wir brauchen die Kündigung. Wenn Sie die haben, können Sie sie uns faxen.«

Ich bin verblüfft. Ich bin das erste Mal in meinem Leben von einer Kündigung betroffen und halte das für einen schweren und dramatischen Fall. Für mich ist gerade der Gau eingetreten, für den man solche Erfindungen unserer Zeit wie Versicherungen und Verbandsmitgliedschaften abschließt – in der Hoffnung, sie niemals nötig zu haben. Ich hatte daher mit einem deutlich größeren Interesse gerechnet. Und jetzt soll ich einfach nach einer Minute wieder auflegen?, wundere ich mich.

Vorsichtshalber frage ich noch einmal nach: »Und jetzt bleibt mir nichts anderes zu tun als abzuwarten?«

»Ja genau«, ich glaube zu hören, wie mein Telefonpartner nachsichtig lächelt. »Auch wenn das nicht sehr befriedigend ist.« Dann fügt er noch an: »Aber unterschreiben Sie nichts. Nur den Empfang der Kündigung, den können Sie quittieren.«

Ich lege ungern auf. Ich könnte jetzt gut Beistand gebrauchen, nicht nur rechtlichen, auch seelischen. Am liebsten hätte ich gehört: »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir schaukeln das schon. Alles wird gut.«

Stattdessen sitze ich allein neben dem Telefon und weiß, dass ich jetzt diesen Satz werde sagen müssen. »Alles wird gut. Ich werde das Ding schon schaukeln.« Seit Ella auf der Welt ist, bin ich zur Hauptverdienerin der Familie geworden. Die Verantwortung, dass genug Geld zum Leben da ist, liegt bei mir. Johannes und ich haben damals die klassische Rollenverteilung umgedreht, weil er eine sehr unstete Auftragslage hat. Er ist Künstler. Mal hat er vier Aufträge parallel, dann wochen-, monatelang gar keinen. So ist das in seinem Beruf. Laut einer Statistik der Künstlersozialkasse verdienen freiberufliche Künstler im Schnitt 13 103 Euro brutto im Jahr. Davon kann man keine Familie ernähren.

Ich will niemanden anrufen, um mir Trost zu holen. Ich habe Angst davor, welche Reaktionen kommen könnten. Ein »Ach Gott, wie schlimm!« ist das Letzte, was ich jetzt ertragen könnte.

Also spreche ich mit niemandem über die Kündigung. Ich tue nichts, als darauf zu warten, dass Johannes nach Hause kommt.

»Mir wurde gekündigt«, schleudere ich ihm entgegen, kaum dass er zur Tür herein ist.

Er nimmt mich in den Arm. »Das wird schon. Ich bin ja auch noch da.«

Ich will daran glauben und mich getröstet fühlen. Aber es gelingt mir nicht ganz. Ich schaffe es immerhin, die Zweifel für einen Moment nicht zuzulassen. Die vergangenen Jahre haben mich geprägt. Ich weiß, dass ich verantwortlich bin für die finanzielle Sicherheit unserer Familie. Und ich weiß, dass ich das Johannes jetzt nicht auf einmal vorwerfen kann. Er kann nichts dafür. Seit Ella auf der Welt ist, hat er beruflich zurückgesteckt. Wer weiß, wie seine Karriere sonst verlaufen wäre. Wären wir ein kinderloses Paar, hätte er Aufträge in anderen Städten annehmen können, die ihn für mehrere Monate von zu Hause fortgeführt hätten. Er hat immer abgelehnt, weil wir nicht wussten, wie wir das mit Kind hätten organisieren sollen. Ich habe diese Aufteilung nie infrage gestellt. Das war so. Es hat funktioniert. Punkt. Aber jetzt mit der Kündigung wird mir die Verantwortung auf einen Schlag zur Last.

»Was soll nur werden?«, frage ich mich, noch immer in seinem Arm. Aber ich sage nichts. Ich halte meinen Mund.